Was vor einigen Wochen noch ein spannendes Phänomen in der rechten Parteienlandschaft Frankreichs zu sein schien, ist nun vor wenigen Tagen zu einer politisch-konkreten Gestalt geworden.
Die Frontfrau Marine Le Pen und ihr Rassemblement National (RN) bekommen durch den Publizisten und die bekannte Medienfigur Eric Zemmour ernsthafte Konkurrenz von rechts. Mit einer beeindruckenden Show verkündete Zemmour seine Kandidatur und präsentierte zugleich seine neue Partei „Reconquete“.
Auch in der deutschen Rechten beobachten viele seit langem das Phänomen Zemmour, der vor allem durch seine klare Sprache und seine konsequenten inhaltlichen Positionierungen bei manch einem Sympathie hervorgerufen haben dürfte. Schonungslos spricht er die demographische Katastrophe des Großen Austausches an, fordert eine restriktive Einwanderungspolitik bei knallharten Assimilationsanforderungen für bereits in Frankreich lebende Einwanderer.
Gegen Zemmour wirkt Le Pen auf viele Beobachter regelrecht verbraucht und scheint die alleinige Dominanz innerhalb des rechtsoppositionellen Lagers zu verlieren. Es steht die Frage im Raum, ob Zemmour sogar das Potential abrufen kann, vor Le Pen im zweiten Wahlgang gegen den voraussichtlich aktuell amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron anzutreten.
Oder wird es zu einer gegenseitigen Kannibalisierung der Wählerpotentiale kommen, wodurch keiner der beiden Akteure des rechten Parteilagers die zweite Runde für die Wahl erreicht? Und welche strategischen Bündnisoptionen eröffnen sich möglicherweise kurzfristig im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2022, sollte es einer der beiden schaffen? Und was bedeutet das langfristig für die politische Rechte Frankreichs?
In den Umfragen der letzten Wochen konnte sich Le Pen meistens souverän auf dem zweiten Platz für den ersten Wahlgang behaupten. Aktuell liegt sie gleich auf mit der republikanischen Kandidaten Valérie Pécresse bei 16% und dicht verfolgt von Eric Zemmour, der auf 14% der Stimmen in der neuesten Umfrage kommt. Anfang Oktober (als die Kandidatur von Zemmour noch nicht einmal offiziell war) konnte sich Zemmour sogar kurzweilig knapp vor Le Pen schieben.
Mit komfortablem Vorsprung führt jedoch weiterhin der amtierende französische Präsident Emmanuel Macron die Umfragen sowohl für den ersten als auch zweiten Wahlgang. Zu Beginn des Jahres sah dies jedoch noch anders aus und Le Pen galt in den Umfragen als Favoritin im ersten Wahlgang.
Letztendlich blieb dies jedoch bei einer Momentaufnahme und das enttäuschende Abschneiden des Rassemblement National bei den französischen Kommunalwahlen brachte Le Pen wieder auf den zweiten Platz, auf dem sie jedoch immer noch die aussichtsreichsten Chancen von allen Kandidaten hat, um sich für die zweite Runde der Präsidentschaftswahl zu qualifizieren.
Das politische Aufkommen von Zemmour dürfte in der Wahlkampfzentrale des RN für einige Kopfschmerzen gesorgt haben. Für jeden politischen Beobachter zeigt sich offensichtlich, dass Zemmour vor allem im ersten Wahlgang wichtige Wählerstimmen aus dem Potential des RN aufsaugen könnte und damit am Ende die gesamte rechte Parteienlandschaft verlieren ihre Chancen auf die Präsidentschaft minimiert.
30% der Le Pen Wähler von 2017 könnten sich vorstellen, im April 2022 für Zemmour zu votieren. Dass sich Zemmour in einer derartigen Dynamik und Stärke neben dem RN im rechten politischen Raum positionieren konnte, führen manche Beobachter auch auf die vermeintlich gescheiterte „Entdämonisierungsstrategie“ von Marine Le Pen zurück. Sie hat zahlreiche fundamentale und radikale (i. S. von: grundsätzliche) Positionen über Bord geworfen, die Partei umbenennen lassen und mit eisernem Besen in der eigenen Mitgliederschaft gekehrt, ohne dabei vor einem Parteiausschluß ihres eigenen Vaters, dem früheren Vorsitzenden Jean Marine Le Pen, Halt zu machen.
Dieser Kurs sorgt bis heute innerhalb des RN für viel Unruhe. Doch Marine Le Pen kann sich in ihrer Führungsrolle behaupten. Ihr gesamter Ehrgeiz, strategischer Fokus und ihre politische Vorbereitung ist seit der verlorengegangenen Präsidentschaftswahl 2017 ausschließlich auf den April 2022 gerichtet, wo sie ihr politisches Lebenswerk vervollständigen will.
Die Sorge eines sich gegenseitig sabotierenden Stimmensplittings im rechten Wählerblock dürfte durch einige Umfragen der letzten Wochen entkräftet worden sein. Denn der Kuchen, der im rechten Wählersegment Frankreichs zu verteilen ist, scheint seit 2017 gewachsen zu sein und generiert sich vor allem über die Anhänger von Zemmour und seine neuen Potentiale innerhalb klassisch bürgerlich-intellektueller Wohlstandsschichten.
2017 lag das Gesamtpotential aller Kandidaten rechts der republikanischen Parteien noch bei 26,2%. 2022 könnte es auf 35,2% anwachsen. Jeder Dritte wäre in Frankreich jetzt bereit, eine Partei rechts des republikanischen Establishments zu wählen.
Vor allem unter Hochschulabsolventen (+10%) oder beruflichen Führungskräften (+12%) hat sich das Gesamtpotential im Parteispektrum der Rechten deutlich gesteigert. Ein Großteil davon dürfte auf das Konto von Zemmour gehen. In der Landbevölkerung ist das Potential sogar um 16% angewachsen, was wiederum auf eine ehrliche Schwerpunktsetzung des RN in den letzten Jahren im ländlich-kommunalen Raum zurückgeführt werden kann.
Während Zemmour die drängendsten migrationspolitischen und demographischen Fragen thematisiert, meidet Le Pen schon fast diese Felder und legt den Schwerpunkt auf die Profilschärfung in sozial- und landwirtschaftspolitischen Inhalten und kann so als volksnahe und präsidiale Kandidatin auftreten.
Das Paradoxe von Zemmours Kandidatur liegt vor allem in seiner fundamentaleren und schärferen Positionierung in migrationspolitischen Fragen gegenüber Le Pen. Gleichzeitig stößt er in Wählerräume, bei denen man vermuten müßte, daß diese fest an das herrschende Parteiestablishment gebunden seien.
Zemmour mobilisiert intellektuelle Schichten in urbanen Zentren mit höheren Einkommen, während Le Pen die ländlichen Wähler, Sozialschwachen und Arbeitermilieus weiterhin als Stammwählermasse halten kann. Alain de Benoist sprach in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Jungen Freiheit hinsichtlich der Zemmour-Wählerschaft von einer französischen „patriotischen Bourgeoisie“.
Ein Blick auf die Wählerpotentiale bei den anderen Parteien und Kandidaten veranschaulicht die Breite der zemmouristischen Zielgruppenansprache. Unter Anhängern der republikanischen Partei könnten sich 22% vorstellen, im ersten Wahlgang für Zemmour zu votieren. Für Le Pen sind hierfür in der gleichen Gruppe nur 3% bereit.
Zemmours Anhänger rekrutieren sich aus einem vielschichtigen Block verschiedenster politischer Strömungen, die tief in klassische bürgerlich-konservative Milieus hineinreichen. Le Pen muss sich hingegen auf die Größe ihrer strukturellen Stammwählerschaft verlassen. Sie kann lediglich innerhalb der linkspopulistischen Milieus noch einige wenige Stimmen einsammeln.
Zemmour ist dennoch kein rein bürgerliches Protestphänomen. Umfragen zeigen, daß seine Wählerschaft gegenüber der von Le Pen eine deutlich höhere Heterogenität aufweist. Die sozioökonomischen Abweichungen und Differenzen sind weniger stark ausgeprägt als beim RN.
Bei Zustimmungswerten innerhalb der unterschiedlichen Einkommensklassen liegt die prozentuale Abweichung zwischen der höchsten und der niedrigsten Einkommensschicht von Zemmours Wählern bei 5%. Bei Le Pen liegen zwischen der Mobilisierung in der höchsten Einkommensklasse und der niedrigsten ganze 21%.
Zemmour kann bei leitenden Angestellten und Führungskräften 16% mobilisieren und bei normalen Arbeitern 14%. Le Pen holt bei den Führungskräften hingegen nur 6%, dafür aber bemerkenswerte 35% bei den klassischen Arbeitern aller Art.
Für die Stammwählerschaft Le Pens stellt Zemmour keine akute Gefahr dar. Er macht aber die Schwäche in der limitierten Wählermobilisierung Le Pens sichtbar, die sich auch schon in der Präsidentschaftswahl 2017 gezeigt hat. Dort konnte sie mit einem stark sozialpolitisch fokussierten Programm auch innerhalb der Arbeitermilieus vor Macron dominieren und wurde dennoch von der demographischen Macht der urbanen Zentren sowie den bürgerlich-intellektuellen Schichten, die sich um Macron sammelten, überrollt.
So zeigt sich auch jetzt innerhalb der sozioökonomischen Wählerwechselpotentialen, daß Le Pen 74% ihrer Wähler aus der Arbeiterklasse halten kann und hiervon nur 18% sich vorstellen können, zu Zemmour überzulaufen. In den bürgerlichen Schichten aus höheren Einkommensklassen und beruflichen Führungskräften könnte Zemmour jedoch potenziell 39% der vormaligen Le Pen Wähler einsammeln.
Französische Demoskopen sehen auch hier die besondere Stärke von Zemmour, bei den unterschiedlichen Mobilisierungen aus unterschiedlichen sozialen Milieus der anderen Parteien einen harmonischen Balanceakt zu vollführen. So holt Zemmour die bürgerlichen und sozial bessergestellten Wähler des RN ab und kann zugleich die Arbeiter und sozial Abgehängten der Republikaner mobilisieren.
Zemmour ist flexibler in der Ansprache seiner Wählerzielgruppen und könnte somit noch für die ein oder andere Überraschung sorgen.
Während Zemmour noch nach seinem Alleinstellungsmerkmal und einem geschärften inhaltlich politischen Profil sucht, dürfte die jahrelange Verankerung von Le Pen in Arbeitermilieus, ländlichen Räumen in der Peripherie aufgrund ihrer inhaltlichen Schwerpunktlegung auf sozialpolitische Themen aktuell kaum in Gefahr geraten.
Zemmour profitiert allerdings von der Tatsache, daß bei den sechs wichtigsten gesellschaftlichen Themen innere Sicherheit und Migrationspolitik weit vorne stehen (ein krasser Unterschied zur BRD!). Das viertwichtigste politische Thema, worüber die Franzosen in den letzten Wochen im sozialen Umfeld sprachen, war mit 52% die Kandidatur von Zemmour.
Sein mediales Talent für Show und Inszenierung ermöglichen es ihm, stets im Gespräch zu bleiben und immer wieder polarisierende Akzente zu setzen, wodurch der Wahlkampagne zunächst wohl kaum eine Verflachung oder Ermüdung droht.
Ob die zemmouristische Zugkraft am Ende auch über die gesamte Strecke des Wahlkampfes bis zum April 2022 hält, wird sich erst noch zeigen. Doch erste Zahlen zur festen Wählerbindung zeigen bereits, daß das Wechselpotential der Zemmour-Wähler für einen neuen Kandidaten, der nicht aus dem herrschenden politischen Betrieb kommt, verhältnismäßig gering ist.
So sind 64% der bisherigen Unterstützer von Zemmour bereits fest entschlossen, ihn im April auch zu wählen. Bei Le Pen ist dieses Stammwählerpotential mit 77% am höchsten ausgeprägt. Die Zustimmung für Zemmour scheint also nicht nur ein rein verflüchtigendes Protestphänomen zu sein, sondern ist bereits jetzt in eine stabilisierende Strukturierungs- und Konsolidierungsphase eingetreten.
Nach allen vorliegenden Zahlen scheint Zemmour auf die Kern- und Stammwählerschaften von Le Pen keinen außerordentlichen Reiz auszulösen.
Vielmehr saugt er die volatilen Wählergruppen auf, die sich in einem neuen rechten Protestraum umorientieren. Es wird ihm schwerlich gelingen, die fest gebundenen soziodemographischen Gruppen zu mobilisieren, die bereits seit vielen Jahren dem RN die Treue halten.
So überrascht es wenig, daß Marine Le Pen unter Frauen deutlich höhere Beliebtheitswerte als Zemmour aufweist – ein wahlentscheidender Faktor, den Le Pen im Gegensatz zu den meisten europäischen Rechtsparteien für sich zu nutzen weiß. Unter weiblichen Jungwählern kommt Le Pen sogar auf bis zu 29%, während Zemmour lediglich auf abgeschlagene Zustimmungswerte von 7% in der gleichen Alters- und Geschlechtsgruppe kommt.
Insgesamt könnte Le Pen bei weiblichen Wählern bis zu 20% der Stimmen holen. Zemmours Potential scheint hier jedoch schon bei 13% ausgeschöpft zu sein. Überraschend sind auch die schwachen Werte Zemmours unter Jungwählern in Frankreich. Auf seinen Veranstaltungen sieht man immer wieder Bilder von zahlreichen jungen Menschen, die ihm bei seinen Reden zujubeln. Doch in der demoskopischen Altersverteilung scheint Zemmour seine stärksten Werte bei den 50–65-Jährigen zu erhalten.
Le Pen kann, wie auch schon bei der Präsidentschaftswahl 2017, außerordentlich stark die junge Generation zwischen 20–35 Jahren ansprechen und kommt aktuell auf 25% bei den Jungwählern zwischen 25–34 Jahren. Bemerkenswert ist die Differenz bei arbeitslosen Jugendlichen in Frankreich, bei denen Le Pen 25% erhalten würde und Zemmour lediglich 3%, was das sozialpolitische Profil, welches der RN, über die Jahre unter der Führung von Marine Le Pen erarbeitet hat, erneut unterstreicht.
Ein weiterer Faktor, an dem der Aufstieg Zemmours gebremst werden könnte, sind die Persönlichkeits- und Kompetenzwerte im direkten Vergleich zu Marine Le Pen. Hier kann Le Pen auf die Trumpfkarte ihrer Erfahrungen innerhalb des politischen Betriebs setzen und wirkt durch ihre Weiblichkeit möglicherweise auch entwaffnender, zahmer und unaufgeregter als Zemmour.
Im direkten Vergleich mit Macron im zweiten Wahlgang würde Le Pen nach aktuellen Umfragen 44% der Stimmen einsammeln. Zemmour könnte in der zweiten Runde jedoch nur 37% gegen Macron erreichen. Die meisten Franzosen halten Marine Le Pen für kompetenter (25% gegenüber 17% bei Zemmour). In der Krisenbewältigung trauen 23% der Franzosen Le Pen entsprechende Kompetenzen zu. Zemmour kommt hier nur auf 14%.
Deutliche Unterschiede scheint es auch in der Polarisierungswahrnehmung zu geben. So denken 49%, daß Eric Zemmour eine besorgniserregende Figur für die französische Demokratie sei. Bei Le Pen sind dies hingegen nur noch 16%. Es ist vermutlich eher Zemmour, der die schwierigeren strategischen Fragen in den kommenden Wochen und Monaten zu beantworten hat, wie er vor allem als politischer „Newcomer“ eine inhaltlich mobilisierende Erzählung und einen Markenkern um sich herum aufbaut und zugleich die gesellschaftliche Aufregung und Anspannung um seine Person nicht überdreht.
Le Pen scheint eine stabile Festung ihrer Stammwählermilieus zu halten und muss für ihr ambitioniertes Ziel dennoch die volatilen Protestwählergruppen an sich binden, die aktuell im Gravitationszentrum von Zemmour kreisen. Dieser wiederrum kann zwar einen Teil der bürgerlich-intellektuellen Klientel mobilisieren, aber bleibt im direkten Wettbewerb mit Le Pen der unerfahrenere Kandidat mit geringeren persönlichen Popularitätswerten. Sein polarisierender Nimbus würde aktuell zwar für einen Achtungserfolg im ersten Wahlgang reichen, aber keine ernsthafte Gefahr für Macron selbst werden.
Le Pen bleibt die Favoritin im direkten Präsidentschaftsduell des zweiten Wahlgangs und es wird interessant zu sehen sein, welche Bündnisoptionen dann möglich sein werden. Eine harte Feindschaft zwischen Le Pen und Zemmour läßt sich bisher nicht feststellen. Natürlich sind die beiden Konkurrenten und verfolgen unterschiedliche strategische wie auch politische Ansätze.
Ein künftiges Sammlungsprojekt beider Lager, welches sich auch langfristig etabliert, ist zurzeit auch noch nicht absehbar, aber laut französischen Politbeobachtern nicht völlig ausgeschlossen. Die These einer gegenseitigen Kannibalisierung des rechten Wählerpotentials zwischen Le Pen und Zemmour kann jedenfalls noch nicht abschließend beantwortet werden.
Schobbepetzer
Was mich an der ganzen Geschichte wundert, ist das Comeback von Macron. Er hatte doch extrem schwache Zustimmungswerte Anfang des Jahres 2021. Die Proteste in Paris gegen Corona, wirkten auf mich in den sozialen Medien, deutlich größer und engagierter als in Deutschland. Oder bin ich da einer Falschinformation aufgesessen?
Macron ist ohne Hausmacht in die Kandidatur gestartet, die Leute, die ihn gepusht haben, haben das sehr professionell aufgezogen. Von daher könnte es auch Zemmour schaffen.
Für mich ist eigentlich die Frage, wer hat die besseren Karten im zweiten Wahlgang. Le Pen hat doch eher das Image einer ewigen Verliererin.