In diesem Artikel, welcher wohlgemerkt im Frühjahr 2020, also vor der großen expertokratischen Zäsur, entstand und erschien, setzt sich der Autor Thomas Palzer kritisch mit dem Thema Gesundheit / Krankheit und dem Wesen von Heilberufen auseinander.
»Gesundheit ist zu etwas geworden, das man hat – anstatt gesund zu sein«, stellt der Autor fest. Er argumentiert folgendermaßen: Für mich selbst als Person ist mein Körper Subjekt, denn was meinen Körper betrifft, das betrifft mich ganz persönlich. Ich selbst habe keine »Heilungs«-Konzepte, sondern Empfindungen, daher erlebe ich selbst Krankheit quasi von innen. Demgegenüber besteht für den Arzt als Behandler mein Körper aus Materie. Er besitzt ein Konzept, was dazu beitragen soll, mich zu heilen. Entsprechend dieser Sichtweise bzw. Logik, den menschlichen Körper als Objekt zu sehen, ist dieser grundsätzlich verbesserungs- und entwicklungsbedürftig – eben ähnlich einem Auto, Smartphone usw.
Diese Sichtweise hat nichts mehr mit der eigentlichen Aufgabe eines Heilberufes zu tun, welcher ursprünglich die Selbstheilung unterstützen und auf der persönlichen Ebene mit mir als Patient in Beziehung treten sollte. Es wird statt dessen eine normierte Gesundheit zum Produkt erklärt. Es wird nicht mehr der Leib des Patienten persönlich durch den Arzt in Augenschein genommen, auskultiert oder mit tastenden Händen inspiziert, sondern es werden durch Apparate (wie Ultraschall, CT, MRT u. a.) und Laboruntersuchungen verschiedene Meßwerte erhoben und deren mögliche Abweichungen von der Norm dokumentiert.
Die Anamnese als Gespräch zwischen Arzt und Patient findet ausführlich kaum noch statt. »Das Ausbleiben einer vernünftigen, von den Sinnen des Arztes geleiteten Begutachtung des Patienten hat zunächst den profanen Grund, daß der Arzt das Interesse daran verloren hat. Sagen wir besser: es ist ihm verleidet worden. Eine Inspektion mit eigenen Augen und tastenden Händen erbringt weit weniger Honorar als eine Inspektion durch Maschinen. Maschinen liefern Resultate, die überprüfbar sind – und die Leistung, die von diesen erbracht wird, ist für die Kasse eindeutig abrechenbar. Aber das, was ein Arzt tut – läßt sich das gänzlich formalisieren?« stellt Palzer fest.
Keine Antwort, aber ein Wechsel der Blickrichtung: Ein Teil der Patienten erwartet genau diese Formalisierung von einem Arzt. In weiten Teilen wird der Technik mehr vertraut als dem Wissen und der Erfahrung des menschlichen Behandlers. Und so werden dann schlechte Online-Bewertungen verfaßt, weil der Arzt einen nicht sogleich in die »Röhre« geschickt hat. Auf der anderen Seite findet der Wunsch nach einer »sprechenden« und / oder »tastenden« – also persönlichen (»sich Zeit nehmenden«) – Medizin seinen Ausdruck in der gesteigerten Inanspruchnahme alternativer Methoden (Osteopathie, Heilpraktiker, Naturheilverfahren). Eine von mir sehr geschätzte Ärztin stellte nüchtern fest und brachte es so auf den Punkt: »Medizin ist auf den einzelnen Menschen angewandte Wissenschaft.« Medizin ist daher eben keine reine Naturwissenschaft, sondern auch angewandte Wissenschaft, deren Anwendung auf der Urteilskraft des Heilkundigen beruht und vor allem auch auf der Zustimmung des Patienten.
Benedikt Kaiser hat im Rahmen seiner Arbeit an einer Studie über Corona und Profit darauf hingewiesen, daß weiterhin, trotz »pandemischer Notlage«, Krankenhausbetten allgemein und somit auch Intensivbetten reduziert werden. Kritikwürdig ist das aber erst dann, wenn man die oben angeführte Sichtweise teilt. Denn nur dann benötigt jeder von der Norm abweichende Körper eine Optimierung und Verbesserung im Krankenhaus.
Aber benötigt das tatsächlich jeder, der auf eine Intensivstation verbracht wird? Es wäre kritisch zu fragen, ob nicht das Vorhalten von entsprechenden Krankenhausbetten zwangsläufig zu deren Belegung führt – ähnlich der These, daß die Anschaffung und die Bereitstellung von mehr Kernspintomographen zu mehr Kernspinuntersuchungen führen.
Dies geschieht a) aufgrund von Palzers beschriebenem Körper-Bild, b) aufgrund der skizzierten Anspruchshaltung der Patienten und somit einer notwendigen juristischen Absicherung der Behandler und c) aufgrund einer ökonomischen Betrachtungsweise. Somit hat Kaiser zwar nicht unrecht, wenn er die Profitmaximierung von Krankenhausträgern, welche etwa als Aktiengesellschaften auftreten, kritisiert. Aber dies ist nur einer der möglichen Faktoren. Wäre nicht eher das bestehende, verfestigte (Gesundheits-)System ganz grundsätzlich zu hinterfragen – folgt aus dem ihm zugrundeliegenden Menschenbild nicht fast zwangsläufig seine oben skizzierte Vergütung?
Insbesondere die Vergütung von allgemeinen Krankenhausleistungen erfolgt anhand von Ist-Kosten, welche die Krankenhäuser übermitteln. Anhand dieser Ist-Kosten werden die verschiedenen Wertigkeiten der Fallpauschalen errechnet, woraus die Höhe der Vergütung folgt. Der politisch vorgegebene Leitsatz lautet: Das Geld solle der Leistung folgen. Nun liegt es in der Natur der Sache, daß eine operative / apparative medizinische Leistung höhere Ist-Kosten verursacht als eine konservative Behandlung. Es erscheint logisch, daß das operative Einsetzen einer Knie-Totalendoprothese höhere Kosten verursacht (Operateur, Anästhesist, weiteres OP-Personal, Kosten des Implantats und so weiter) als der Versuch einer weiteren medikamentösen und physikalischen Therapie.
Hier sei die Einigkeit darüber vorausgesetzt, daß sowohl Operateur und Anästhesist als auch die Pflegekräfte mehr als Mindestlohn verdienen sollten und daß beim Implantat auch eine gewisse Qualität wünschenswert ist, was die höheren Kosten plausibilisiert.
Genauso erscheint es logisch, daß eine Operation an den Herzklappen höhere Kosten (längere OP-Zeit, mehr Personal) verursacht als der Einsatz einer Knie-TEP. So sind die Fakten, wenn man die erbrachten Leistungen anhand der tatsächlich durchschnittlich entstandenen Kosten vergüten möchte. Die entscheidende Frage aber lautet: Ist dies auch sinnvoll? Bleibt man dem von Palzer skizzierten, dem jetzigen System zugrundeliegenden Gedankengebäude verhaftet – Körper als »technisch« zu optimierende Materie –, so ist dieses Vergütungssystem nicht zu kritisieren. Man kann auch der Verteuerung des Systems nicht entkommen. Denn wenn der zu optimierende Körper losgelöst vom eigentlichen Menschen betrachtet wird, so wird man, diesem Paradigma folgend, auch noch 90jährige versuchen zu optimieren.
Dieser Falle könnte man entgehen, wenn man ein »Zurück in die Zukunft« zuließe: Medizin als auf den einzelnen Menschen angewandte Wissenschaft – keine Trennung von Körper und Mensch, keine Trennung von Krankheit und Person. Dann wäre auch eine Änderung des Vergütungssystems möglich: Aufwertung der nichtapparativen Gesprächs‑, Untersuchungs- und Therapieleistungen über das Ist-Kosten-Niveau hinaus. Somit würde sich diese Art Behandlung wieder lohnen. Wenn nämlich nur tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet werden, muß ich versuchen, jedwedes Bett zu belegen, um Leistungen tatsächlich zu erbringen.
Und, wie gesagt, »es gibt immer was zu tun« innerhalb des bestehenden Paradigmas. Auch deswegen gibt es keine freien Betten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, also Kurzzeitpflege etwa. Vorgehaltene freie Betten werden nicht vergütet, unabhängig von der Rechtsform des Betreibers. Politiker »wundern« sich, daß es keine freien Kurzzeitpflegeplätze gibt, und schelten die Betreiber, vergüten jedoch nur, wenn das Bett belegt ist. Dasselbe gilt für Intensivplätze.
Würde das ursprüngliche Paradigma der Heilberufe – Hilfe / Unterstützung bei der Selbstheilung – gelten, könnte die persönliche Beziehung zwischen Behandler und Patient wiederhergestellt und die individuelle Situation des einzelnen berücksichtigt werden. Denn nun hat der Behandler die Zeit für eine ausführliche Anamnese inklusive biographischen Eckpunkten.
Nehmen wir das obengenannte Fallbeispiel der Knie-TEP erneut auf. Es ergibt sich der exakt gleiche Befund im MRT bei einem 50jährigen selbständigen Handwerker und bei einem 75jährigen, der bereits einen Schlaganfall hinter sich hat. Beim sonst gesunden Selbständigen entscheidet man sich aufgrund des beruflichen Drucks, der Knieschmerzen und des hohen Schmerzmittelgebrauchs für die Implantation einer Knie-TEP. Beim anderen Patienten entscheidet man sich gemeinsam dagegen, da hier der Leidensdruck nicht so hoch ist und der Fokus auf der weiteren Rehabilitation nach dem Schlaganfall liegt und dies dem Patienten als wichtiger erscheint.
Natürlich sind das sehr holzschnittartige Beispiele – sie dienen lediglich der Verdeutlichung des Abstrakten. Weiter gedacht ergeben sich noch andere Fragen: Was würde passieren, wenn man letztgenannten Patienten zum Einsatz einer Knie-TEP überreden würde, sie quasi »verordnen« würde. Hilft mir eine »verordnete« Therapie, hinter der ich als Patient eigentlich nicht stehe überhaupt? Oder wird dieser so behandelte Patient das Implantat eher als Fremdkörper ansehen, welcher ihm wieder Schmerzen und Kummer bereitet?
Gemäß dem bestehenden Paradigma (Körper als Materie) ist das Knie repariert und in seiner Funktion wiederhergestellt. Mithin war die Behandlung erfolgreich – für den Behandler! Und für den Patienten? Hier könnte eine laut technischem Befund medizinisch notwendige, »teure« Behandlung dem Patienten keinen persönlichen Nutzen bringen.
Mithin ist das alleinige Herauslösen der Krankenhäuser und / oder der Pflegeeinrichtungen aus dem »Markt« nicht das Allheilmittel, zumal heute schon Kommunen eigene Unternehmen, sogenannte Kommunalunternehmen, in diesen Bereichen gründen und dann auch den Mechanismen unterworfen sind. Der Fokus muß hier auf der karitativ-gemeinnützigen Ausrichtung der Einrichtungen liegen und nicht in deren Rechtsform. Denn auch »Staatsbetriebe« wären ethisch-moralisch zum wirtschaftlichen Handeln verpflichtet bzw. müßten die Mittelverwendung rechtfertigen, da sie Geldmittel der Allgemeinheit (der Staatsbürger) verbrauchen (Beiträge zur Sozialversicherung, Steuern).
Es ist also zwischen Wirtschaftlichkeit und Profitmaximierung zu unterscheiden, weswegen die karitativ-gemeinnützige Ausrichtung ausschlaggebend sein sollte. Letztendlich handelt es sich auch um einen Pseudo-Markt, denn der Staat in Form von Gesetzgebung regelt die Preise im Krankenhausbereich. Im Pflegebereich regelt er diese ebenso durch die Beteiligung der Pflegekassen an den Vergütungsverhandlungen. Krankenhaus und Pflegeeinrichtung können nicht beliebig die Preise erhöhen. Die Einrichtungen können lediglich mit Prozeßoptimierung oder Ausgabenreduzierung reagieren. Die höchsten Ausgaben im Dienstleistungsbereich sind Personalkosten, womit klar ist, wo angesetzt wird. Wir sollten daher a) nicht von einem Markt sprechen in diesem Bereich und b) nicht die Akteure allein kritisieren. Denn der Staat hat dieses Konstrukt geschaffen und die Akteure dort hineingepreßt.
Aber eine Alternative zum bestehenden Gesundheitssystem und dessen Vergütungsmechanismen ist möglich. Dazu müssen wir nicht so tun, als hätte es die Hochtechnologisierung nie gegeben. Aber wir können unsere Herangehensweise und unser Leitbild wieder einnorden: mit einem Rückbezug auf das Menschenbild, das den Menschen als ganzheitlich dachte und Körper, Seele und Geist als organische Einheit verstand. Dieses Organismus-Denken ist nicht nur zukunftsgewandt, sondern auch logisch: den Menschen und jedes soziale System (die ganze Gesellschaft) als funktional in sich gegliedertes, zugleich jedoch einheitliches, zusammenhängendes Gebilde zu verstehen.
Ein zweiter Punkt der Neuordnung des Gesundheitssystems läge in seiner streng subsidiären Ausrichtung. Wenn wir Regionalisierung von Wirtschaftskreisläufen und nachbarschaftliches Wirtschaften in vielen anderen Bereichen fordern, warum dann nicht auch im Gesundheitsbereich? Es sollte auf Landkreisebene entschieden werden, welche Versorgungsformen vor Ort notwendig sind. Der Landkreis kann dann diese Einrichtungen selbst betreiben oder aber findet karitativ-gemeinnützige Einrichtungen, die dies in seinem Auftrag tun.
Zur Verdeutlichung: In städtisch geprägten Kreisen mit vielen Single-Haushalten werden eher (teil)stationäre Pflegeeinrichtungen nötig sein, während hingegen in ländlichen Gebieten mit vielen Familienverbünden eher ambulante Pflegeeinrichtungen wichtig wären, da die Pflege zu Hause erfolgen kann. Ähnliches gilt für Geburtskliniken oder die Verfügbarkeit von Hebammen. Auch die palliative Versorgung ist davon betroffen: Wie viele Sterbefälle hat der Landkreis, welche Erkrankungen sind häufig? Ebenso kann anhand der Bevölkerungsstruktur ein Bedarf an Kurzzeitpflegeplätzen abgeschätzt und entsprechend vorgehalten werden.
Durch die klare regionale Zuständigkeit wüßte auch der Bürger um die Verantwortlichen und könnte sich direkt an sie wenden. Der daraus möglicherweise entstehende Druck führte dazu, daß die Lokalpolitiker bemüht sein würden, die Versorgung gut zu organisieren. Die Nähe erzeugt Verantwortung im Gegensatz zum Realitätsverlust im Berliner Regierungsviertel. Dafür wäre allerdings ein langwieriger Um- bzw. Rückbau gleichsam vom Kopf auf die Füße notwendig. Es wäre eine echte »Systemfrage«. Bisweilen doktert man mit Scheinlösungen – indem zahlreiche Krankenkassen dem Patienten TCM-Methoden (Traditionelle Chinesische Medizin) oder Homöopathie bezahlen: weil damit wenigstens der Anschein einer »Ganzheitlichkeit« gewahrt wird, die eigentlich viel umfassender zu sein hätte.
Lotta Vorbeck
@Frieda Helbig führt aus:
"Würde das ursprüngliche Paradigma der Heilberufe – Hilfe / Unterstützung bei der Selbstheilung – gelten, könnte die persönliche Beziehung zwischen Behandler und Patient wiederhergestellt und die individuelle Situation des einzelnen berücksichtigt werden. Denn nun hat der Behandler die Zeit für eine ausführliche Anamnese inklusive biographischen Eckpunkten."
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So ist es!
Der grobstofflich betrachtete, materielle menschliche "Körper" ist nicht identisch, mit dem was als "Leib" bezeichnet wird.
Darüberhinaus ist der Körper eines Menschen keinesfalls das Eigentum irgendeines Staatsgebildes, an dem die Durchführung staatlich dekretierter, medizinischer Zwangsbehandlungen aus ethischer Sicht vertretbar wäre.