Die von Demonstranten ersehnte Gefühligkeit des Zusammenhalts, des unbedingt Gemeinsamen, des euphorisierten Miteinanders war mir stets unangenehm. Ja, selbst 1989, als ich als Leipziger Student den später zu Heldentaten verklärten Montagsdemos schweigend und distanziert als Nicht-Held zusah.
Während diese Wir-sind-das-Volk-Märsche um den Altstadtring anfangs noch von den illusionären Vorstellungen der sogenannten Bürgerrechtsbewegung ausgingen und von einer Art drittem Weg träumten, wandelten sie sich ab Spätherbst in die D‑Mark-Bettelei künftiger Wende-Gewinner und ‑Verlierer, die kollektiv in den Westen emigrieren wollten oder eben die Übernahme durch den Westen erflehten. Eine Selbstaufgabe, notwendig wohl, dabei je später, je würdeloser, die uns nach der Euphorie mit neuen Schwierigkeiten konfrontierte: Lokatoren, Treuhand, Bischofferode.
Die Geschichtsbücher verzeichnen weniger die Ost-Sehnsucht nach dem Super-Markt als vielmehr den Wunsch der neuerdings couragierten Bürger nach Demokratie und mehr noch nach der „Freiheit“, diesem politisch wie philosophisch schwierigen Befinden, dessen Begriff meist pauschal gebraucht wird und zum populistisch-demagogischen Kernvokabular gehört, weshalb stets zu klären wäre, was nun genau damit gemeint ist.
Klären will eine „Demo“ aber gerade nichts; sie möchte vergemeinschaftet träumen und das rechthaberische “Wir” selbstgewiß gegen das vermeintlich irregeleitete “Ihr” stellen. Diese Unterscheidung konstituiert die Veranstaltung und ist das Motiv ihres Engagements: Wir hier im Licht und Heil des allein Seligmachenden, ihr dort in der Finsternis eurer Verranntheit. Nützlinge und Schädlinge. Wir haben Recht, wir sind viele, wir sind mehr, „wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut“. Oder irgendwas anderes, was gerade fehlt oder zu fehlen scheint.
In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” hat der einstige Verfassungsrichter Udo Di Fabio jüngst den Freiheitsbegriff problematisiert und sich einen eher „kategorialen Kollektivismus“ angeregt:
Die Frage ist, ob wir nicht zu sehr einem falsch proportionierten Freiheitsbegriff aufgesessen sind, der eine Freiheit von allen Bindungen propagiert – und nicht einen, der begreift, dass sich der Einzelne immer selbst fragen muss, welche Bedeutung für die eigenen Entfaltungs-wünsche eigentlich die Freiheit anderer besitzt und auch, wo es der Bereitschaft zur freiwilligen Bindung bedarf – als Bedingung eigener Selbstverwirklichung. Wo darf ich, wo muss ich eigensinnig sein, und wo verlangen es die Umstände, sich Fakten zu beugen und die Interessen anderer ernsthaft als Grenze und Ansporn eigenen Tuns zu respektieren? Ist es nicht eine sittliche Pflicht, sich impfen zu lassen? Ist es aus Umweltgründen noch vertretbar, zu einem Tauchurlaub auf die Seychellen zu fliegen? Verlangt das Tierwohl die Beschränkung des Fleischkonsums? Solche Fragen sind der Beleg dafür, dass wir in Wahrnehmung unserer Eigenverantwortung die Mitschöpfung im Blick haben. Aber diese klassische Pflichtenethik der Freiheit ist heute längst unter Druck. Das Vertrauen in ihre Kraft bröckelt. Nicht nur in Asien, sondern auch in Europa ist wieder ein Pendelschlag zum kategorialen Kollektivismus zu beobachten. Es verbreitet sich eine Kritik am liberalen Freiheitsbegriff, weil man meint, dass die wichtigen Entscheidungen viel intensiver kollektiv getroffen werden sollten, weil sonst große Ziele nicht zu erreichen seien.
Das ist konservativ gedacht und eben nicht liberal, während sich die AfD und Teile der Rechten derzeit auf der Straße als Liberale gerieren, als Verteidiger von Demokratie und Bürgerrecht, offenbar in der Hoffnung, so eigenen Auftrieb zu gewinnen.
Wer derzeit beseelt und überdreht von der eigenen Rechthaberei draußen als „Spaziergänger” unterwegs ist, um eine befürchtete biopolitische Übergriffigkeit des Staates abzuwehren, sollte sich fragen, weshalb er die Fridays-for-Future-Hysterie des eigenen Nachwuchses unverständlich findet, die ihre Energie ebenfalls aus einem dualistischen, nahezu gnostischen Weltbild bezieht, ebenso wie andererseits das Establishment auf seine Weise vom „Aufstand der Anständigen“ faselt, wenn es die eigenen Ziele auf der Straße verkündet sehen will.
Dort geht es gerade nicht um das Miteinander, sondern um Ausschließlichkeiten. Wer jetzt etwa naiv behauptet, er rette die Gemeinschaft und verteidige sie gegen Spaltung, betreibt eine folkloristische Revolutionsromantik. Jede Demonstration demonstriert die Spaltung. Man kann das gut finden, aber man sollte es wissen. Das Miteinander wird nach innen zelebriert; nach außen wird hart abgegrenzt. Dieser Unterschied soll sicht- und fühlbar werden. Man möchte zum rechten Weg bekehren; und wer nicht zu bekehren ist, wird als tragisch verirrt angesehen oder aktiv bekämpft. Über die problematische Verwandtschaft von Religion und Ideologien lohnt es gründlich nachzudenken.
Immer, wenn sich duale Scheidungsmöglichkeiten bieten, wird manichäisch mobilgemacht, so als hätten die Massen auf eine Möglichkeit zum rechten Bekenntnis gewartet: für oder gegen Kernkraft, für oder gegen Mittelstreckenraketen, für oder gegen industrielle Tiermast, für oder gegen Impfungen.
Das eine, so scheint es, schließe das andere vollständig aus und müsse das jeweils Gegensätzliche und als verwerflich Erklärte überwinden wie Erzengel Michael den Drachen und Harry Potter Lord Voldemort. Kompromisse erscheinen unmöglich, aber genau das sichert die wohlig philiströse Selbstgewißheit, zur einzig richtigen Seite zu gehören; und dieses Gefühl beglückt derartig, daß sich die Rechthaberei sakrale Rituale und Attribute beilegt: Menschen werden zu Kerzenhaltern, Losungen zu Gebeten, gemeinsame Gesänge verstärken die Identifizierung mit genau der einzig wahren Gemeinde, denn: Wer gegen die Freiheit ist, kann nur böse sein. Ausschließlich.
Und wer dem Staat erlaubt, ja gar wünscht, sich mit mRNA-Impfstoffen spritzen zu lassen, muß doch irre sein, ja gilt gar als Todgeweihter. Heißt es tief überzeugt. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. So durchweg der Gestus. Denn die großen Vereinfachungen legitimieren eher und verbinden inniger als die Diskussionen um das Für und Wider, als die Lektüre der Wissenschaftsseiten, als das so anstrengende kritische Abwägen des einen gegen das andere aus möglichst tiefer Kenntnis heraus. Glaube ist schneller praktiziert, ein Bekenntnis so innig wie flott gesprochen, Erkenntnis dagegen aufwendig – und vor allem nie so endgültig sicher wie eben der gesetzte, mit Sakramenten bewehrte und keinen Widerspruch duldende Bekenntnisakt, der gleich noch das Gemeinschaftsgefühl sichert, nach dem viele lechzen, um sich aufgehoben und geschützt fühlen zu dürfen.
Kein Wunder, daß jede Demonstration Erweckte, Esoteriker und Gläubige nicht nur anzieht, sondern selbst schafft. Nur für das eine sein zu können und gegen das andere kämpfen zu müssen, erfordert und bedingt geradezu Gläubigkeit, die für sich sogleich Pietät beansprucht, während sie jeden Kritiker der Pietätlosigkeit zeiht und ihm das Recht darauf abspricht. Wer wollte denn mit genauerem Wissen zur Zellbiologie und Genetik auf Demos argumentieren, wo alle von ihrem Meinen und Empfinden überzeugt sind und sich beinahe erleuchtet fühlen?
Wenn Demonstranten – wie gegenwärtig – gegen die Spaltung der Gesellschaft zu wirken vermeinen, ist das Unfug. Im Gegenteil: Die Demonstration ist ihrem Wesen nach in direkter Weise wohl oder übel praktizierte Spaltung – zwischen den Teilnehmern und den Nichtteilnehmern. Das lateinische Demonstrare heißt „zeigen“. Man zeigt sich und zeigt es den anderen. Einig ist sich nur die unmittelbare Gefährtenschaft der Demonstrierenden. Wer nicht mitläuft, bleibt den Aktivisten suspekt oder wird zum Feind erklärt. Solidarität, ähnlich trivialisiert gebraucht wie Freiheit, gilt allein der eigenen Schar.
Deshalb treibt es einen ja in Haufen auf die Straßen und Plätze. Um sich und seine Über-Zeugung zu zeigen. Deshalb der Bekehrungsruf: Schließt euch an! Impliziert wird: Sonst schließen wir euch aus. Bekenner streiten gegen Abweichler, Erleuchtete gegen Verdammte, Rechtgläubige gegen Häretiker. Das genau wird demonstriert – von der Demo wie der Gegen-Demo.
Auffällig ferner eine moderne legasthenische Variante der Demo-„Kultur“: Gewerkschaften etwa bevorzugen nach dem Verlust ihres einst arbeiterbewegten Liedgutes und in Ermangelung charismatischer Redner Trillerpfeifen und Rasseln. Sie schlagen wortlos Krach, weil sie meinen: Argumente braucht es gar nicht, insofern ihre Ziele doch ohne Syntax selbstverständlich sind. Nervige Geräusche reichen. Archaische Stadionkultur: Unsere Mannschaft allein verdient den Sieg, die andere steige ab, weil sie per se die Niederlage personifiziert.
Weil die Dinge so einfach nie und nirgends liegen, ist mir die Vereinnahmung durch die einen ebenso unangenehm wie der Ausschluß durch die anderen. Jede Demonstration stellt einen gefährlichen Wachtraum dar, jede ist rührselig romantisch, jede auf ihre Weise berauscht und verrannt – und mündet daher unweigerlich in Enttäuschung, weil das Wünschbare kaum je das Lebbare ist. Man frage die Sachsen, die zur Wende jede Montagsdemo bevölkerten, inwiefern sie erfüllt sehen, was sie sich damals erhofften.
Maiordomus
@ Bosselmann. Ich komme aus einer anderen, konkreteren, also unpreussischen Freiheitstradition als Sie und verstehe Sie trotzdem fast noch besser als bei Ihren früheren, vielfach zustimmungsfähigen Ausführungen. Vgl. die im vorigen Strang von mir kritisierten Ausführungen über in Wiesbaden "herumbummelnde Impf-Idioten", wie sie sinngemäss aus gegnerischer Sicht charakterisiert wurden in Abgrenzung zum eigenen fortgeschrittenen Bewusstsein, ganz wie weiland die 68er. Demonstrieren als manchmal trotzige identitäre Selbstbestätigung ist allenfalls, was mir fast sympathischer ist, eher mit Rosenkranz betenden Wallfahrern zu vergleichen als mit aufklärendem Zeichensetzen. Mir ist bewusst, dass sowohl körperlich wie geistig hart Arbeitende mit entsprechenden Berufen selten bei "Demos" getroffen werden, und dass meine damaligen, mit wenigen Ausnahmen alles andere als systemnahen Freunde in der DDR wie Sie ebenfalls nicht demonstriert haben, man war schon zu lange ganz anders gesinnt. Am stärksten Eindruck gemacht haben mir aber Werfer von Molotov-Cocktails gegen Panzer in Ungarn 1956; sah in ihnen Helden meiner Kindheit.