Als die Rote Armee den Ring um Stalingrad schloß und die 6. Armee abschnürte, saßen Hunderttausende deutsche Soldaten in der Falle. Man kann sich die katastrophalen Tage vorzustellen versuchen, in denen die Ausweglosigkeit zur Gewißheit wurde, kann die verzweifelte Suche nach Handlungs‑, nach Befreiungsmöglichkeiten den Briefen entnehmen, die später veröffentlicht wurden: Die Bewegung erstarrte, das Bild gefror, kein Vorstoßen, Durchstoßen, Umgehen, Ausweichen, Antäuschen waren mehr möglich, vor allem auch: kein Freikämpfen mehr, kein Rückzug.
1956 tauchte in der Zeitschrift Der Nervenarzt ein Bericht über einen Ministerialbeamten aus Berlin auf, der die Abschnürung Stalingrads von seinem Schreibtisch aus wahrgenommen und mit einer seltsamen Form körperlicher Erstarrung reagiert hatte: Man fand ihn auf seinem Stuhl sitzend vor, die Beine bis zur Sitzfläche hochgezogen und mit den Armen umkrampft. »Ein Zwangsimpuls war über ihn gekommen, der die Verkürzung der unteren Extremitäten verlangte. Streckte der Mann die Beine aus oder versuchte er den Fußboden zu betreten, so steigerte sich die Angst ins Maßlose«, heißt es im Bericht. Auch habe der Beamte alle Uhren anhalten lassen: »Durch das Abheben der Füße vom Boden wird die Möglichkeit räumlicher Fortbewegung vereitelt und damit dem Impuls ›Weg!‹ eine Gelegenheit, sich auszuleben, genommen; aber dieser Impuls soll nicht bloß im Raum, sondern auch in der Zeit keinen Angriffspunkt mehr finden: daher werden die Uhren angehalten.«
Diese kauernde Haltung, diese »Beugespannung« (wie es in dem Bericht heißt) ist der Minimalschutz, die allerletzte Geborgenheit: Winterstarre als vorletzte Antwort, keine Hoffnung mehr in Raum und Zeit, Lebenserhaltung durch Höhlenbildung mit sich selbst, Austritt aus dem Gang der Dinge.
Vorletzte Antworten aus Briefen und Gesprächen, März 2021: »daß ich nicht mehr weiß, ob ich unseren Laden noch einmal eröffnen soll, mit so einem gewinnenden, die Kunden begrüßenden Lächeln im Gesicht. Was nämlich, wenn der erste, zweite, zehnte nichts kauft?« – »Ich komme ja morgens schon kaum aus dem Bett, und wenn ich es geschafft habe, dann muß ich abschließen, bis nach dem Abendessen mindestens, sonst liege ich sofort wieder drin, ohne Buch, ohne Handy, eingerollt wie in einer Höhle.« – »Und so ist das auch im Bekanntenkreis: Da gibt es Kinder, die von einer Art Schlafkrankheit befallen sind, die nur noch kauern. Einen kennen wir, der bricht in panisches Geschrei aus, wenn er die Wohnung verlassen soll: Todesangst vor dem ansteckenden Nachbarn und völlige Verunsicherung, was denn nun erlaubt sei, und: ob übermorgen schon wieder nicht mehr.« – »Nun hat er sein Studium abgebrochen. Die Frage, die er stellt: Wozu noch lernen? Sein Zimmer ist zu seiner Höhle geworden, sein Laptop ist das einzige Fenster.« – »Vorgestern hat sich in der Schule ein zweites Kind umgebracht, mit 15. Die ganze Klasse zittert, der Abgrund hat sich aufgetan. Nun streift ein zweiter Psychologe durch die Gänge und spricht durch die Maske. Wir jedenfalls lassen unsere Tochter nicht mehr hin.«
Der Kessel unserer Zeit ist das jäh abgeschnürte Leben: Man sieht die Leute einkaufen gehen, man sieht sie werkeln und herumräumen, aber im Grunde ist das ein Ausgang an der Leine, eine Warteschleife, ein Ablenkungsmanöver: Wer weiß, was wir morgen noch dürfen? Was wir uns im vergangenen April als panische Eindämmungshandlung erklärten, ist heute ein Verbrechen: Millionen Bürger in einen Kessel zu schicken, in die Ausweglosigkeit, in die Abhängigkeit; sie gefügig zu machen, ihnen den Nachbarn, den Nächsten als womöglich tödliche Gefahr vorzustellen. Angst schüren und damit Politik treiben: Der Angriff auf die Seele ist heftig, das Trauma eingepflanzt, die Beugehaltung das Ziel.
Wir stehen vor der geradezu existentiellen Aufgabe, uns nicht abschnüren zu lassen, sondern auszubrechen. Wie schrieb Raspail? »Wir werden suchen müssen, jenseits dessen, was wir kennen und dessen, was wir nicht kennen. Zuerst innerhalb unseres eigenen Landes und dann auch außerhalb der Grenzen. Was geschieht um uns herum? Was ist die Bedeutung von alledem? Es wäre dieser Stadt nicht würdig, das Ende untätig abzuwarten, ohne nach einem Ausweg zu suchen.«