Ein Gespräch mit David Goodhart, Matthew Crawford und Richard Sennett.
Dieses Gespräch führte Thomas Hennetier im Auftrag der Zeitschrift éléments für deren 187. Ausgabe (Dezember 2020/Januar 2021). Die Übersetzung besorgte Christa Nitsch. Wir danken der Pariser Redaktion für die Abdruckerlaubnis.
Sollte uns der Corona-Lockdown die Augen geöffnet haben über die abstruse Hierarchie der Berufe? Denn wir erleben gerade jetzt, wie die unqualifiziertesten und am schlechtesten bezahlten Arbeiter dafür sorgen, daß die Gesellschaft nicht zusammenbricht, während die an renommierten Universitäten ausgebildeten Kader zu Hause bleiben können. Gemeinsam mit drei angesehenen Intellektuellen wollen wir diese Frage zu beantworten versuchen.
In seinem Essay The Road to Somewhere, wie auch in einem Gespräch (»Irgendwo inmitten von Nirgendwo«, veröffentlicht in Sezession 95), beschreibt David Goodhart die Spaltung, die das demokratische Gleichgewicht in der Welt bedroht: die Anywheres (Überall-Menschen) führen die Veränderungen herbei, die sie den Somewheres (Ort-Menschen) aufhalsen. Der Gründer des britischen Magazins Prospect verfolgt diese Spur weiter und kommt auch in seinem jüngst erschienenen Buch, Head Hand Heart: The Struggle for Dignity and Status in the 21st Century (Allen Lane 2020, zu deutsch etwa: Haupt Hand Herz: Der Kampf um die Würde und den sozialen Status im 21. Jahrhundert), darauf zurück. Nach Goodharts Auffassung wird in unserer Gesellschaft die kognitive Intelligenz der Elite, begründet durch IQ und schulischen Erfolg in (geistes) wissenschaftlichen Fächern, überbewertet, während Handwerks- oder Pflegeberufe (»Hand« und »Herz«) – deren Wichtigkeit in der jetzigen Gesundheitskrise augenfällig wurde – zu kurz kommen.
Um mit ihm zu debattieren, haben wir zwei amerikanische Intellektuelle eingeladen, den Philosophen Matthew Crawford und den Soziologen Richard Sennett, einen ehemaligen Schüler von Hannah Arendt, den Crawford (liebevoll) als einen »Altlinken« bezeichnet. Ihre jeweiligen Bücher, Ich schraube, also bin ich und Handwerk, zeigen, daß die handwerkliche Arbeit uns erlaubt, wieder mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten in einer Zeit, in der uns alles von ihr zu entfernen versucht. Ein Eintauchen also ins angelsächsische intellektuelle Universum, in dem der Geist der kollegialen Kameradschaft, gefestigt sogar durch Familienbande (Sennett und Goodhart sind Cousins), weder Widerspruch noch spöttischen Humor ausschließt!
Thomas Hennetier: »Errichten wir keine neuen Universitäten!« sagt David Goodhart, wenn er die Überqualifikation und die wirtschaftliche wie politische Ineffizienz beklagt, die in den Universitäten erzeugt wird. Glauben Sie, daß solch ein Ausspruch für die Bevölkerung, vor allem für die jungen Leute, annehmbar ist und von den Zuständigen in der Politik übernommen werden könnte?
Matthew Crawford: Ein solcher Vorschlag ist natürlich radikal angesichts der zentralen Stellung, die die Universität innerhalb eines Systems einnimmt, in dem die technokratische Expertise mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit einhergeht. Diplome sollen Intelligenz attestieren, und Intelligenz ist Sinnbild für Dominanz wie für kulturelle Identität, und zwar die meritokratische Identität. In diesem Weltbild ist Vorbildlichkeit nicht Ergebnis unserer Handlungen, sondern folgt aus dem »richtigen Denken«, aus den »korrekten« Meinungen, die wir haben. Diese Vorstellung erlaubt denen, die sie predigen, politische Aussagen zu tätigen, ohne dabei die eigene Haut zu Markte zu tragen oder, wie man in den USA sagen würde, »skin in the game« zu haben. Man tätigt sogenannte moralisch abgesicherte, politische Aussagen, ist aber für das Chaos und die Funktionsstörungen, die aus ihnen folgen, nicht zuständig … Man verwandelt die staatlichen Schulen in Brutstätten des Rassenhasses, schickt aber die eigenen Kinder auf Privatschulen … Man delegitimiert die Polizei, während die tödlichen Ausschreitungen auf Stadtviertel beschränkt bleiben, in die man nie einen Fuß setzen würde … So handeln nun mal Ästheten. Ohne Universitäten, die diese angebliche Vorbildlichkeit unterstützen und nähren – gäbe es denn das alles überhaupt? Was David hier also sagt, ist zutiefst subversiv. David, Sie sind ein Anarchist!
Richard Sennett: Ich stimme mit David in zwei Punkten überein. Leute, die einen körperlichen Beruf ausüben oder das, was man landläufig »Drecksarbeit« nennt, fühlen sich herabgesetzt, wenn sie hören müssen, daß ihre Arbeit keine höhere Ausbildung erfordert. Solche Arbeit erfordert eben eine andersgeartete Ausbildung. In Großbritannien gab es früher technische Hochschulen, die sich bei ihrer Jagd nach Prestige und Fördermitteln in herkömmliche Universitäten verwandelt haben. David und ich sähen es nun liebend gern, wenn die sogenannten polytechnischen, einst berühmten Hochschulen zu neuem Leben erweckt würden. Man vermittelte dort eine Hochschulbildung, die dem in Universitäten vermittelten Wissen hinsichtlich des Ansehens in nichts nachstand. Konkrete Praxisbezogenheit gilt aber heute als weniger wertvoll als nichtkörperliche Arbeit wie etwa die Ausbildung zum Unternehmensberater, Medienmitarbeiter etc. Ich teile übrigens mit David die Feststellung, daß die Universität Leute mit nutzlosen Berufen heranzüchtet – das aber ist ein anderes Thema.
Andererseits erscheint mir der Gedanke, daß den Leuten eine Hochschulbildung vorenthalten werden sollte, abgrundtief verkehrt. Der Gegensatz, den David zwischen den Eliten und den Handwerkern aufmacht, ist eine unzulässige Vereinfachung, ja totaler Nonsens. Es ist ein Fehler, die Frage so zu stellen. Wir sind nicht dazu verurteilt, zwischen der Anstellung bei McKinsey und dem Klempnerdasein zu wählen, das ist absurd. Die wirtschaftliche Entwicklung wird die Zahl der nichtmanuellen Beschäftigungen immer weiter zurückdrängen, und der Blick, mit dem die Gesellschaft die Hand-Arbeiter betrachtet, wird sich ändern. Die Künstliche Intelligenz (KI) wird vor allem die Büroangestellten ausbooten. Jemand, der hingegen Krankenschwester, Maurer oder Glaser ist, befindet sich in größerer Sicherheit. Der springende Punkt ist also: Was richtet der flexible Kapitalismus mit der aktiven Bevölkerung an? Die Trennung verläuft nicht linear zwischen den Eliten und den Leuten »von unten«.
David Goodhart: Ich will meinen Standpunkt verdeutlichen: Die Umfragen – zumindest jene in den USA und in Großbritannien – zeigen, daß ein Großteil der Bevölkerung die Massenhochschulbildung nicht schätzt. Aber dir muß klar sein, Richard: Ich schlage keineswegs vor, daß wir mit der Förderung der Hochschulbildung aufhören sollen. Ich behaupte nur, daß zu viele Gelder in einen einzigen Typus von nachschulischer Ausbildung geflossen sind, nämlich in die klassische Universität samt ihrer Vollzeitbeschäftigung, ihrem mindestens für drei bis vier Jahre vorgesehenen Lehrplan, ihrer Bevorzugung von Formen akademischen Lernens. Die Leute, die weiterhin diesen Typus der Wissensvermittlung fördern, tun dies in Erinnerung an ihre eigenen Erfahrungen von vor dreißig oder vierzig Jahren, als die Universität tatsächlich noch ein elitäres Projekt war. Heute muß man jedoch feststellen, daß das System kontraproduktiv ist. Die Einkünfte der Absolventen, und damit das zusätzliche Geld, das ein Universitätsabschluß einbringen soll, verringern sich zusehends, immer mehr Universitätsabgänger nehmen Jobs an, für die kein Unidiplom nötig ist. Wir haben bei den Hochschulabsolventen falsche Hoffnungen genährt, während uns gleichzeitig qualifizierte Angestellte im Technik- und Pflegesektor empfindlich abgehen.
Hennetier: David Goodhart, inwiefern überlappen sich ein Ihrer Feststellung nach zu großes Ungleichgewicht zugunsten des »Hauptes« und die Aufspaltung in Somewheres und Anywheres, die Sie in Ihrem vorangegangenen Buch beschrieben haben?
Goodhart: Die zwei Themen sind miteinander verquickt. Die Aufwertung des »Hauptes« kommt dem Weltbild der Anywheres zugute, denn sie entspricht dem freien Verkehr von Ideen und Menschen und paßt auf natürliche Weise zur geographischen Mobilität, zur sozialen Fluktuation im allgemeinen. Die abstrakten, analytischen Kompetenzen sind an und für sich mobiler als die eher bodenständigen und konkreten Kompetenzen von »Hand« und »Herz«.
Hennetier: Matthew Crawford, Richard Sennett, teilen Sie die Ansicht, daß »Haupt« und »Hand« sowohl intellektuell als auch sozial voneinander geschieden sind und daß diese Spaltung zum politischen Bruch führt und die soziale Distanz vergrößert?
Crawford: Ja, insofern die, wie ich vorhin sagte, meritokratische und technokratische Kaste ihre kulturelle und moralische Identität der übrigen Bevölkerung aufnötigt.
Sennett: David hat sich in seinem Kopf einen Feind zusammengebastelt, der jenem von Donald Trump nicht unähnlich ist, ich meine damit das »Establishment«, die »Eliten«, die das Volk verachten, die Internationalisten sind, die nirgends wirklich zu Hause sind. Denn, wie Sie wissen, ist David auch ein großer Kritiker der Einwanderung. Aber ich wiederhole es gern: Der springende Punkt liegt woanders, auf jeden Fall ist er nicht in solch reduktionistischer und linearer Weise zu fassen. Was mich betrifft – ich sagte es bereits – so ziehe ich es vor, im Handwerk etwas zu sehen, das zwischen körperlicher und nichtkörperlicher Arbeit eine Brücke zu schlagen imstande ist.
Hennetier: Der verstorbene David Graeber beklagte in seiner Analyse der Bullshit Jobs das Gesetz, dem zufolge ein Beruf, je nützlicher er sich für die Gesellschaft erweist, um so schlechter bezahlt ist. Die Corona-Krise hat dieses Gesetz nur bestätigt. Glauben Sie, daß die gegenwärtige Gesundheitskrise eine nachhaltige Wiederaufwertung der »Herz«- und der »Hand«-Berufe zur Folge haben wird?
Sennett: Ja, ich glaube, daß jetzt die Gelegenheit einer Wiederaufwertung dieser Berufe da ist.
Crawford: Unglücklicherweise, Richard, haben wir eine schier grenzenlose Begabung, Dinge schnell wieder zu verlernen, die wir während einer Krise erlernt haben.
Goodhart: Wenn ihr mich fragt, hat die Corona-Krise dieses amüsante, wenn auch nach meinem Dafürhalten eher stupide »Gesetz« von David Graeber nicht bestätigt. Viele Forscher, die ein neues Wissen hervorbringen, das wir als Gattung nötig haben – die Herstellung des Impfstoffs zuvörderst! –, werden sehr gut bezahlt und verdienen es auch. Ärzte und Krankenschwestern, denen wir ganz zu Anfang der Pandemie offen Beifall zollten, sind sehr nützlich und eher gut bezahlt. Der Erfinder eines neuen Malariagegenmittels oder der Architekt, der ein neues Gebäude entwirft, werden auch besser bezahlt als eine Büroreinigungskraft – und das ist nur selbstverständlich! Es stimmt zwar, daß Schlüsselarbeitskräfte, die keine Universitätsabgänger sind, während der Krise ebenfalls beklatscht wurden, und damit an die Wichtigkeit gewisser »Basis«-Berufe erinnert wurde. Wir sind uns unserer Abhängigkeit von Supermarktangestellten, Zulieferern und Müllmännern bewußt geworden. Diese Jobs waren nie allzu gut bezahlt, waren auch nie in besonderer Weise sinnstiftend; wenn sie aber korrekt entgolten werden und diese Leute gerechte und faire Vorgesetzte haben, man ihnen Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht stellt, können solche Jobs durchaus einigermaßen attraktiv sein, und schließlich finden viele Leute ja ihren Lebenssinn außerhalb der Arbeit. Am wichtigsten ist doch, die Leute empfinden zu lassen, daß sie mit dem, was sie tun, einen nützlichen Beitrag leisten und daß die anderen sie anerkennen. In dieser Hinsicht hat die Pandemie erheblich zur Anerkennung von »Herz« und »Hand« beigetragen.
Hennetier: In der Schule ist die traditionelle Wissensvermittlung – egal, ob es sich dabei um intellektuelles oder technisches Wissen handelt – den neuen »schülerzentrierten« pädagogischen Methoden gewichen, die der Fähigkeit zum »Lernen, wie man lernt« und ähnlichen Kompetenzen den Vorzug geben. Gereichen diese Methoden, mit denen man angeblich dem Elitismus den Kampf ansagte, nicht gerade den begabtesten Schülern zum Vorteil?
Crawford: Man lernt nicht denken ohne einen Stoff, über den man nachdenkt! Die Verwerfung des Auswendiglernens war ein Fehler. Erst wenn dein Gehirn über einen konkreten Wissensbestand verfügt, kannst du damit anfangen, Ideen miteinander zu verknüpfen und Zusammenhänge herzustellen; erst dadurch wird die Kreativität geweckt. Leider gab man der Mode des »expressiven Individualismus« nach und der daraus abgeleiteten Idee, daß Kreativität das Hervorbrechen einer mysteriösen Kraft sei, die ein jeder von uns bereits seit der Geburt mit sich trage. Diese Mode wollte zudem die offensichtlich ungleiche Lernbefähigung der Schüler verschleiern. Sie haben recht: Sobald man die traditionelle Wissensvermittlung zurückstutzt, sind Schüler, die von zu Hause weniger Wissen mitbringen, benachteiligt. So entscheidet eben ein Schulsystem, das mit moralischem und demokratischem Haltung-Zeigen beschäftigt ist – und all jene, denen es eigentlich dienen sollte, haben dabei das Nachsehen.
Die »Schülerzentriertheit« ist das Gegenteil von Erziehung, lateinisch educatio, wobei letztere ja gerade bedeutet, daß ein Herausgehen bewirkt wird, ein Herausführen aus dem Ich. Diese neue Idee aber stammt sicherlich aus den Vereinigten Staaten. Beginnend mit John Deweys Epoche (Pädagoge der »demokratischen Erziehungs«-Theorie – A. d. Ü.) vor gut einem Jahrhundert, wurden amerikanische Schulen zu Laboratorien, aus denen die progressistischen Ideen über den Menschen hervorgingen. Ich aber denke, daß ein Kind ausnehmend intelligent sein kann, ohne gleich ein »Schultemperament« haben zu müssen, eine Intelligenz also, die auf die Beherrschung einer in einem Buch aufbereiteten Information ausgerichtet ist. Aus historischer Perspektive ist der Student, der Intellektuelle eine atypische Spezies, die erst recht spät in Erscheinung trat. Aber über die Jahre hat sie sich als universelles Modell der Wissensaneignung etabliert: Man setzt sich an den Schreibtisch. Viele Schüler langweilen sich in der Schule zu Tode, weil ihnen ihr Sinn nicht eingängig ist. Aber gibt man ihnen die Chance, einen Rennwagen zusammenzubauen, wird so mancher Junge sofort wieder quicklebendig.
Goodhart: Richtig. Ein Unterrichtsprogramm, das auf konkreter Wissensvermittlung fußt, ist für mittelmäßige und schwache Schüler, die durch den »schülerzentrierten« Unterricht oft nur verwirrt werden, weit fruchtbarer. Der »schülerzentrierte« Unterricht begünstigt jene Schüler, die eine lebhafte Auffassungsgabe besitzen und bereits in den intellektuellen Kompetenzen, die diese Methoden erfordern, versiert sind.
Sennett: Erlauben Sie mir, ein weiteres Mal eine abweichende Meinung zu äußern. David suggeriert uns in seinem Buch, daß sich das Elitenwissen auf den Lernprozeß (lernen, wie man lernt) konzentriere im Gegensatz zu jenen Leuten, die sich in Jobs einarbeiten oder sachbezogene Fertigkeiten erwerben. David, du müßtest einige Tage am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Technische Hochschule in Cambridge, Massachusetts – A. d. Ü.) zubringen oder – was die Geisteswissenschaften betrifft – an meiner alten Universität in Cambridge (gemeint ist Harvard – A. d. Ü.). Was soll bloß diese heillose Vermengung? Elitenwissen ist keineswegs nur hohles Gerede! Du bist mein Cousin, und ich hab dich sehr gern, aber da bist du nun wirklich auf dem Holzweg!
Was ich hingegen sehe, ist, daß wir davor zurückschrecken, Studenten komplizierten Lernstoff zuzumuten, weil wir uns daran gewöhnt haben, sie als Konsumenten zu betrachten. Bedenken wir einmal die wirtschaftlichen Implikationen dieses Phänomens: Ein Gutteil der höheren Lehranstalten sind in der Tat abhängig von Studiengebühren. Nun, eine der Methoden, die Attraktivität solcher Einrichtungen zu steigern, besteht darin, nicht allzu viele Mühen einzufordern und dem »Publikum« mehr Vergnügungsmöglichkeiten als Anstrengungen zu bieten. Das aber hat nichts mit Elitismus oder den Eliten zu tun. Ich habe Hochschulseminare geleitet und mußte schnell feststellen, daß die Studenten mehr oder weniger davon überzeugt waren, den Aufgabenstellungen nicht gewachsen zu sein, und wohl besser gefahren wären, wenn sie die einfachsten Kurse belegt hätten. Ihnen war eingetrichtert worden, daß sie unfähig sind.
Hennetier: Matthew Crawford, Richard Sennett, vor zehn Jahren stimmten Sie das Loblied der handfesten Kultur an und traten für eine Aufhebung der Unterteilung in praktische und Eigenkünste einerseits und Freie Künste andererseits ein. Haben Sie den Eindruck, daß sich die Dinge in Ihrem Sinne entwickelt haben? Erfährt die Handwerksarbeit gerade eine Aufwertung?
Crawford: In meinem Buch Ich schraube, also bin ich richtete ich mein Augenmerk weniger auf das, was man landläufig (Kunst)Handwerk nennt, als vielmehr auf jene Berufe qualifizierter Arbeiter, die unsere »physische Infrastruktur« am Laufen halten und die ihrer Arbeit manchmal eine unerwartete ästhetische Dimension hinzufügen. Der (Kunst) Handwerker und der Berufsarbeiter befinden sich keineswegs in derselben Lage. Der (Kunst) Handwerker fordert Subventionen von Stiftungen oder dem Kunsthandwerksrat in staatlicher Trägerschaft, dem die Bewahrung der traditionellen Techniken obliegt. Er wird oft dazu angehalten, darüber zu berichten, warum er das Leben eines Aussteigers gewählt hat, wie es dazu kam, daß er einen gutbezahlten Job in leitender Position an den Nagel hängte, um Biokäse oder ähnliches herzustellen. Er ist beinahe gezwungen, über soziale Netzwerke zu kommunizieren. Seine »persönliche Geschichte« wird zum integralen Bestandteil des Produkts, das er verkauft. Glauben Sie nicht, daß ich in irgendeiner Weise seine Authentizität in Frage stellen wollte, ich gehe sogar spontan immer davon aus, daß er in bester Absicht handelt. Ich stelle bloß eine Beobachtung über die Richtung an, in die der wirtschaftliche Umgang mit Kunsthandwerksprodukten zu gehen scheint.
Wenn hingegen Wasser durch Ihre Zimmerdecke sickert, scheren Sie sich einen Teufel um die Autobiographie Ihres Klempners, Sie sind vielmehr bereit, ihm einen fetten Scheck auszufüllen, damit er so schnell wie möglich kommen möge, um den Schaden zu beheben. Ein solcher Klempner muß seine Hoffnung nicht daran hängen, auf Instagram viral zu gehen. Er ist von keiner Personalabteilung abhängig, die von ihm fordert, die Sprache und den Ritenkatalog der politischen Korrektheit zu befolgen. In wie vielen Berufen erfährt man heutzutage die Freude und den Stolz, die die Unabhängigkeit zu gewähren vermag? Solch einer Ehre konnte sich früher nur der Aristokrat rühmen. In Ich schraube, also bin ich behaupte ich, daß die »Drecksarbeit« aristokratisch ist und der Zyniker Diogenes zu ihrem Maskottchen werden könnte.
Im Mittelalter machte man tatsächlich einen Unterschied zwischen artes liberales und artes mechanicae, den Freien Künsten und den praktischen Künsten, den Eigenkünsten. Erstere kennzeichneten den freien Mann, letztere waren dem Unfreien vorbehalten, der zu ihrer Ausübung gezwungen war. Diese Aufteilung war in der politischen Ökonomie der mittelalterlichen Stadt sinnvoll. Die Dinge haben sich aber geändert: Ich habe gezeigt, daß sich der Handarbeiter einer gewissen Freiheit erfreuen kann, während für viele intellektuelle »Arbeiter« mit Universitätsabschluß im Gegensatz dazu das Lakaientum charakteristisch wurde. Die Universität spielt die Rolle des »Sesam, öffne dich!«, das den Eintritt in die Mittelschicht ermöglicht, und der Unterricht, der einem dort zuteil wird, ähnelt weniger einer Unterweisung in geistiger Freiheit als vielmehr einer ideologischen Schulung, die unabdingbar ist, wenn man eine Funktion in einem der diversen Verwaltungsämter der Gesellschaft ausüben will.
Die im klassischen Wortsinn Freien Künste behalten als Konzept weiterhin ihre Gültigkeit, man kann weiterhin Shakespeare lesen und darüber in Entzücken geraten, erschüttert werden aufgrund eines tieferen Begreifens des menschlichen Daseins, Dankbarkeit empfinden für die uns von der Welt geschenkten schönen Dinge. Leider aber ist die Universität nicht der Ort, an dem man solche Erfahrungen machen kann, zumindest nicht in der englischsprachigen Welt.
Sennett: In meinem Buch Handwerk habe ich den vermeintlichen Gegensatz zwischen Freien Künsten und dem Handwerk entlarvt. Aufgrund meiner Ausbildung bin ich philosophisch gesehen ein Vertreter des Pragmatismus, und ich weiß, daß die Bearbeitung von Objekten engstens mit dem intellektuellen Prozeß verknüpft ist. Die Verbindung zwischen »Haupt« und »Hand« ist so eng, daß jede fein säuberliche Trennung dieser beiden Begriffe unfruchtbar und müßig ist. Mein Einwand gegen David Goodhart ist also in diesem Punkt ein grundsätzlicher.
Erfährt die Handwerksarbeit gerade eine Aufwertung? Ja, ich bin dieser Meinung. Und dies um so mehr, als Handwerk für mich vor allem eins bedeutet: seine Arbeit gut zu tun, im Bereich der manuellen Tätigkeiten wie in allen anderen. Mathematiker und Naturwissenschaftler können damit zu den guten Handwerkern gezählt werden. Ich wollte darlegen, daß es ein Kontinuum gibt zwischen Formen manueller Arbeit und Arbeitsformen, die wir zu den symbolischen oder immateriellen rechnen. Der Unterschied zwischen der sogenannten Eliten- und der manuellen Arbeit, den David hier zu essentialisieren sucht, ist keine naturgegebener, er ist nichts als ein Konstrukt von Kräfteverhältnissen, die in unserer Gesellschaft am Werke sind.
Hennetier: Matthew Crawford, Richard Sennett, Sie erheben die manuelle Betätigung oder das Handwerk zu einer Art normativem politischen Modell, das eine bessere Gesellschaft hervorbringen soll. Inwiefern würde die Tatsache, daß jemand ein guter Handwerker wird, seine Befähigung zum sozialen Leben, seine Verbindung zu den Mitmenschen oder seine ethische Urteilsbildung verbessern?
Crawford: Ich werde Richard über die großen Handwerkstraditionen sprechen lassen. Sie kennzeichnen die höchsten Gipfel der technischen Leistungen des Menschen, die köstlichen Früchte einer lebenslangen Leidenschaft, die Beständigkeit einer Tradition, die in der Ausbildung der Lehrlinge greifbar wird. Ein an Ablagerungen reicher Boden entsteht, in dem etwas Kräftiges Wurzeln schlägt, das einen scharfen Kontrast bildet zur modernen Rastlosigkeit, mit der man glaubt, ein vollständig autonomes und undeterminiertes Individuum zusammensetzen zu müssen.
Aber abgesehen vom Handwerk als solchem, glaube ich, daß jeder Beruf, der einen starken Realitätsbezug hat, in einem verblüffenden Kontrast zu jenen Berufen steht, die den Leistungsstandards einer unbeständigen Verwaltungspolitik unterworfen sind oder deren Abstrafung durch die reale Welt erst in einer fernen Zukunft erfolgen wird. Wem die Folgen des eigenen Handelns auf Anhieb ersichtlich sind, dessen aufgeblähtes Ich und dessen Allmachtsphantasien erhalten notwendigerweise einen Dämpfer. Hegel hatte recht hinsichtlich des Sklaven: Durch seine Beziehung zu materiellen Dingen gelangt er zu einer gewissen Einsicht ins Ich, die seinem Herrn verwehrt ist. Überdies verspricht die Technologie einen Komfort ohne Anstrengung und hält uns in dem bereits von Freud beschriebenen infantilen Narzißmus gefangen. Einem Kinde gleich hat der Narzißt nicht gelernt, daß die Dinge seinem Willen widerstehen, und er dünkt sich allmächtig. Könnte man nicht vielleicht von den Leuten, die an der Macht sind, verlangen, daß sie ein oder zwei Jahre irgendeine manuelle Arbeit verrichten? William James hatte das vor einem Jahrhundert vorgeschlagen, und William James (einer der Gründungsväter des philosophischen Pragmatismus, Bruder des Schriftstellers Henry James – A. d. Ü.) hatte in allem recht …
Sennett: In einer Werkstatt geschieht alles in konzertierter Arbeit, dies ist von absoluter Notwendigkeit. Uns ist diese, der Werkstatt eigentümliche Dimension in vielen Berufen abhanden gekommen. Der flexible Kapitalismus hat eine neue Art von Taylorismus hervorgebracht, der darin besteht, den Arbeitsprozeß in eine Reihe von Einzelaufgaben zu zergliedern, die einen vom Kollektiv absondern. Die Idee, daß eine Gruppe lange Zeit zusammenlebt, um etwas herzustellen, gilt als obsolet. Isolierte Individuen werden dazu gebracht, befristete Arbeitsverhältnisse einzugehen in Arbeitseinrichtungen, die ihre Stabilität verloren haben. Man muß erneut Rahmenbedingungen finden, die den Leuten das Gefühl vermitteln, mit anderen Arbeitern in Beziehung zu stehen, selbst wenn man dabei oft von einer Arbeit zur nächsten wechseln kann. Nehmen Sie einmal das Beispiel der universitären Hilfskräfte, die von keiner speziellen Universität abhängig sind, denn die Lebenszeitstellen gehen zurück. Der Eintritt in eine Gewerkschaft verleiht diesen jungen Forschern einen Halt: Da tauschen sie sich über die sozialen Aspekte ihrer Arbeit aus und haben das Gefühl, sich in einem Kollektiv einbringen zu können, das mehr ist als ihre Arbeit, die ursprünglich als individuelle Aufgabe konzipiert war.
Hennetier: Die lebenslange Aus- und Fortbildung scheint gerechtfertigt in einer ständig im Wandel begriffenen Welt, in der die Aussicht auf einen fürs ganze Leben gesicherten Beruf immer seltener wird. Ist dies nun tatsächlich eine gute Sache oder verhindert es nicht vielmehr eine solide Spezialisierung, die man ein Leben lang weiter ausbauen könnte?
Goodhart: Die beiden Dinge widersprechen sich nicht unbedingt. Ein junger Mann, eine junge Frau mit durchschnittlichen Schulleistungen und ohne eine ausgeprägte Neigung zum akademischen Studium sollte der Versuchung widerstehen, die Reihen der universitären Menschenmasse der Mittelschicht zu bereichern. Bei vielen ist eine kürzere Ausbildung, in Computerprogrammierung beispielsweise, sinnvoller. Nicht nur wird so ein Mensch mehr verdienen, sondern er wird sich auch oft besser fühlen als ein diplomierter Geisteswissenschaftler, der in einem bescheidenen Verwaltungsberuf landet. Wenn ersterer dann noch genug intellektuelle Neugier mitbringt und sein Fachwissen vertiefen will, kann er nach ein paar Jahren immer noch an die Universität gehen und Informatik studieren mit allem nötigen Drum und Dran.
Hennetier: Sollte das Vereinigte Königreich seine Geschichte vergessen haben? Immerhin kam es dort zur industriellen Aufklärung, zu Verknüpfungen von Wissenschaft und Technik, zur Rolle, die das Experiment vor allem unter dem Einfluß eines Francis Bacon spielte!
Goodhart: Das Vereinigte Königreich bleibt ein wichtiges Zentrum der Wissensvermittlung und der Innovation und verfügt noch über einige Universitäten, in denen erfolgreich und effizient Forschung betrieben wird. Es ist aber wahr, daß bei uns die Tradition der »Praktiker«, die akademisch kaum vorbelastet waren und am Anfang der Industriellen Revolution standen, weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Man gab der akademischen und elitären Tradition, die mit Oxford und Cambridge assoziiert wird, den Vorzug, und dies fand seinen Niederschlag, wie Richard bereits sagte, 1992 in der Umwandlung der alten polytechnischen Hochschulen in Universitäten und in der Tatsache, daß die 1944 im Education Act versprochenen technischen Fachschulen nur sehr selten zustande kamen.
Hennetier: Eben erwähnte Richard Sennett, daß die nächste Phase der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) die Sphäre der Intellektuellenberufe tiefgreifend erschüttern wird. Allein schon diese Aussicht könnte zu einer Rehabilitierung jener Berufe führen, die im Bereich der emotionalen Intelligenz, der Pflege und der Kreativität angesiedelt sind. Darf man sich davon eine Annäherung und eine größere Solidarität zwischen Volk und Eliten versprechen?
Goodhart: Ja, viele Bürojobs, zumindest jene, die sich zuunterst und in der Mitte der Hierarchieleiter befinden, werden von der Künstlichen Intelligenz ersetzt werden und das, was ich die Blütezeit des »Hauptes« nenne, wird damit so gut wie beendet sein. Berufe, die ortsgebunden sind oder von der KI nicht ausgeführt werden können, beschränken sich dann zunehmend auf den Gesundheits‑, Pflege- und Erziehungssektor. Besonders Leuten, die in »Aschenputtel«-Berufen wie der Alten- oder Demenzpatientenpflege tätig sind, müßten dann Gehälter zugestanden werden, die ihrem Einstellungsbedarf entsprechen. Das aber könnte tatsächlich dazu beitragen, den Graben zwischen Universitätsabgängern und Leuten ohne Universitätsabschluß zu schließen.
Hennetier: Richard Sennett, Sie fordern die Rehabilitierung einer gewissen Langsamkeit in unserer Gesellschaft. Inwiefern hat die Rehabilitierung der Langsamkeit mit der Rehabilitierung der handwerklichen Arbeit zu tun?
Sennett: Man lernt, indem man Dinge ausprobiert. Handwerkliches Arbeiten heißt nicht einfach, die eigene technische Meisterschaft zu vervollkommnen, sondern heißt auch lernen, mit Rückschlägen umzugehen, mit Dingen, die einem widerstehen. Dafür aber ist Zeit nötig. Am MIT sind die Labore mit den besten Ergebnissen jene, die mit dieser Langsamkeit umzugehen wissen, wozu eben auch das gelegentliche Beschreiten von Holzwegen gehört. Im Bereich der Kunst ist es nicht anders. Wenn ein Maler an einem Gemälde arbeitet und bei einem Fehler an der Leinwand herumschabt, kommt er nur langsam vorwärts, dafür aber sicherer, dringt tiefer in die Materie ein, hinterfragt in jedem Augenblick das, was er da macht. Dies ist eine andere Herangehensweise als die schnelle und den leichtesten Ausweg suchende Verrichtung. Es steht im Gegensatz zum »benutzerfreundlichen« Verfahren – denn ein solches ist das glatte Gegenteil jeder Handwerkskunst. Hast du ein Problem? Hier ist die Lösung! Das ist schlechtes Handwerk. Das gute Handwerk besteht darin, eher nach Problemen als nach Antworten zu suchen. Das alles aber erfordert Langsamkeit.
Hennetier: David Goodhart, Sie behaupten, daß ein gewisser elitärer Feminismus von der Überbewertung des »Hauptes« profitiert und gleichzeitig zur Abwertung des »Herzens« beigetragen habe. Könnten Sie diesen Gedanken eingehender erläutern?
Goodhart: Wie einst die feministische Schriftstellerin Madeleine Bunting schrieb, definiert sich der Feminismus selbst als Widerspruch zur Hausarbeit, da diese mit geringem Status und sozialer Unsichtbarkeit konnotiert ist. Die vorherrschende Tendenz des modernen Feminismus wurde von Frauen geprägt, denen die universitäre und berufliche Laufbahn geglückt war, während sein Hauptanliegen der mit Männern gleichberechtigte Wettbewerb in Berufskarrieren war. Die Privatsphäre wurde als drückende Last empfunden, der man sich zu entledigen hatte, was wiederum – wie etliche Meinungsumfragen verdeutlichen – den Feminismus in Opposition zu den Gefühlen und den Interessen vieler Frauen brachte. Die Herausforderung für eine liberale Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter ein Wert ist, besteht also darin, in der Volkswirtschaft die »Care«-Arbeit wieder aufzuwerten.
Crawford: Hier möchte ich abschließend noch etwas hinzufügen. Ich denke, daß die Überqualifikation der Gesellschaft mit ihrer Feminisierung Hand in Hand gegangen ist. Mädchen sind eher für die klassische Schul- und Universitätslaufbahn geeignet. Jungen, denen die eigene Feminisierung mißlingt, werden im Verwaltungsbereich der Wirtschaft kaum als gute Angestellte funktionieren. Eine praktische Ausbildung ist für solche Jungen zweifelsohne förderlicher.