Vor über einem Jahr, Ende Januar 2020, wurde aus Deutschland der erste Fall von SARS-CoV‑2 gemeldet. Ein Mitarbeiter eines Autobauzulieferers hatte sich in Bayern im Rahmen einer Schulung bei einer chinesischen Kollegin angesteckt. Diese Infektion, hundertfach potenziert einige Tage später in Heinsberg, dem ersten deutschen »Hotspot«, war auch hierzulande der Auftakt zu einer Epoche der globalen Transformation von Lebensverhältnissen, politischen Strukturen und ökonomischen Prozessen. Einer Transformation, die bisweilen »Great Reset«, »Großer Umbruch« oder »Große Unterbrechung« genannt wird – und an dessen Anfang wir erst stehen.
Vor einem Jahr …
wußte im Grunde noch niemand, was SARS-CoV‑2 bedeuten könnte. Das »schwere akute Atemwegssyndrom-Coronavirus-Typ 2« kann die Infektionskrankheit COVID-19 (Coronavirus-Krankheit 2019) auslösen. Auch zur Jahreswende 2002 / 2003 kam es zu einer Viruskrankheit, die von einem Coronavirus verursacht wurde. Ihr wurden damals rund 800 Todesfälle zugerechnet. Größere Verheerungen konnten ebenso eingedämmt werden wie 2012, als MERS-CoV in Saudi-Arabien auftrat. In beiden Beispielfällen war eine Übertragung durch Fledermäuse ursächlich. Davon geht auch bei SARS-CoV‑2 die Mehrzahl der Wissenschaftler aus. Einzelne Forscher, darunter der Nanowissenschaftler Roland Wiesendanger (Universität Hamburg), vertreten dagegen die These eines »Laborunfalls« im chinesischen Corona-Epizentrum Wuhan. Es liegen somit divergierende Analysen zur Entstehung von neuen Coronaviren vor, die zoonotisch – von Tieren auf Menschen – übertragen werden. Doch das Entscheidende ist, daß sich neue Krankheitserreger in hochmobilen Zeiten weltweit rasend schnell verbreiten und daß sich so die Wahrscheinlichkeit einer Pandemie, das heißt einer weltweiten Epidemie, erhöht. Das wußte auch die Bundespolitik. Man war – theoretisch – vorbereitet.
Vor einem Jahr …
jährte sich die Verabschiedung des deutschen Pandemieplans zum fünfzehntenmal. 2005 wurde er vorgestellt, 2017 aktualisiert. Der Titel einer Risikostudie lautete Pandemie durch Virus Modi-SARS; Hauptakteur war das bundeseigene Robert-Koch-Institut (RKI). Die dazugehörige Bundestagsdrucksache (17 / 12051, 3. 1. 2013) umfaßt etwa 90 Seiten inklusive Virus-Simulation. Doch der zuständige Ausschuß beschloß, daß man »von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht«. Die Vorlagen lesen sich – mit heutigem Erkenntnisstand – drängend: Von Wildtieren, die auf Märkten gehandelt wurden, auf Menschen übergegangen, verbreitet sich das Virus von China aus nach Deutschland. Als regelrechte »Spreader« werden Krankenhäuser, Hotels und Flugzeuge angeführt, ein Lockdown wird für nicht notwendig befunden. Hygieneempfehlungen, Schulschließungen und die Absage von Großveranstaltungen werden angeführt, um die drei Wellen der Infektionskrankheit über drei Jahre hinweg abzufedern. Die Autoren, darunter RKI-Verantwortungsträger, zeichnen ein drastisches Bild möglicher Infektionszahlen und Folgewirkungen. Doch der damalige Gesundheitsminister Daniel Bahr ließ sie nicht zur Debatte stellen: Das Thema verschwand bis Ende 2019 aus der Wahrnehmung.
Vor einem Jahr …
wußte man nicht exakt Bescheid über den Zustand des weltweit hochgeachteten deutschen Gesundheitssystems. Gewiß: In den letzten zehn Jahren wurden 120 Kliniken geschlossen und mehr als 10 000 Krankenhausbetten abgeschafft. Dennoch konnte die Financial Times im April 2020 vermelden, daß es in Deutschland ein »Überangebot« gebe, denn die BRD lag im Vergleich von zehn Ländern bei der Zahl der Betten je 1000 Einwohner auf Platz drei. Die Bertelsmann-Stiftung war nun nicht der einzige, wohl aber der prominenteste Akteur, der aus Gründen der Profitabilität zu einer Art verstärkten »Krankenhaus-Wettbewerbswirtschaft« drängte: Man empfahl – unmittelbar vor der Coronawelle – Schließungen weiterer Kliniken, deren Betrieb sich nicht »lohne«. Die linke Publizistin Verena Kreilinger verweist zudem auf einen Aspekt, der unabhängig der Zahlenangabe von Betten zu bedenken ist: Pro ausgebildeter Pflegekraft kommen in Deutschland je Tagesschicht 13 Patienten. In den Niederlanden liegt der Wert bei sieben, in Norwegen knapp über fünf. Dieser Umstand, korrelierend mit dem Mangel an circa 150 000 Pflegekräften in deutschen Krankenhäusern und der anhaltenden Lohndebatte, war vor einem Jahr schon eine Herausforderung. Doch erst »Corona« lenkte den Fokus auf diese Gemengelage, was im Frühjahr 2020 zum Dauerklatschen vor Kliniken führte. Man kann sich die Parallelentwicklung so vorstellen: Während Pharmakonzerne den Fokus auf die (zu?) rasante Entwicklung diverser Corona-Vakzine richteten, den sich öffnenden Krisenmarkt als Mittel zur Bereicherung auffaßten und jenes große Geschäft witterten, das sie gegenwärtig weltweit einfahren, beantwortete man die Mängel des Gesundheitswesens mit Jubelarien auf seine Beschäftigten. Es war eine bundesweit zu beobachtende Farce, die in den unangenehmen Lockdown-Zeiten zahlreichen YouTube-Videos gefällige Inhalte verschaffte, aber als wohlfeil und wertlos erscheinen muß.
Vor einem Jahr …
war der Begriff des »Lockdown«, der Ausgangssperre oder der Massenquarantäne, im Alltag ungebräuchlich. Das änderte sich mit den ersten Nachrichten über den real existierenden Lockdown in der Elfmillionenstadt Wuhan, und ab Mitte März 2020 war das Herunterfahren öffentlichen und zunehmend auch privaten Lebens in Deutschland notorisch. Die Einschränkung grundgesetzlich verbriefter Rechte der Deutschen müßte dabei stets neu abgewogen werden zwischen den Interessen der Allgemeinheit (dem Schutz vor einem schwerbeherrschbaren, aber einfach zu übertragenden Virus) und den Grundrechten eines jeden. Doch mit zunehmender Dauer der Lockdown-Maßnahmen – mit zum Teil absurden Sonderregelungen und ostentativen Logiksprüngen – nahm das Vorschußvertrauen gegenüber der politisch verantwortlichen Klasse ab. Vor einem Jahr bezeichnete Angela Merkel den Vorrang restriktiver Verordnungen vermeintlich selbstkritisch als »demokratische Zumutung«, und in der Tat ist die Krise eine Bewährungsprobe für den Verfassungsstaat. Daß Bund und Länder auf Grundlage unterschiedlichster Auslegungen des Infektionsschutzgesetzes regeln, wer sich mit wem treffen darf und wer nicht, welche Kinder betreut werden und welche nicht, wer sich versammeln darf und wer nicht, sorgt für Unmut, denn gleichzeitig geht die wirtschaftliche Produktion und Verwertung weiter, als gälten dort andere Übertragungswege. Was für die einen die Wiederkehr einer staatlich erzeugten »Entwürdigung in Samthandschuhen« (Helmuth Plessner) ist, glich anderen schon vor einem Jahr als ein Merkelscher »Pragmatismus mit Plan« (Gertrude Lübbe-Wolff). Wieder andere, vor allem am politisch linken Rand, verwerfen beides und fordern die Steigerung des Lockdowns: den totalen Shutdown.
Vor einem Jahr …
war dieser Wandel des Staatsbildes nicht vorhersehbar. Autoritäre Maßnahmenkataloge finden in Pandemiezeiten Befürworter an ungeahnter Stelle, während die genuinen Vertreter des handlungsstarken, autoritären Staates zu Skeptikern dieser Staatsmaschinerie werden. Man kann an dieser Stelle »Zero Covid«-Extreme ebenso vernachlässigen wie Feuilletonradikale (»Mehr Diktatur wagen!« forderte Thomas Brussig in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Februar). Interessanter wird es bei jenen Köpfen, deren Denken sich nicht in Rabulistik erschöpft, sondern die aus der Lage Überdauerndes ableiten wollen. Der SPD-Politiker Mathias Brodkorb beispielsweise schneidet in einem vielbeachteten Cicero-Leitartikel diverse heilige Zöpfe der vereinigten Liberalen und Linken ab. Krisenbewältigung, so definiert Brodkorb, »ist die staatspolitische Königsklasse«, und es liege »in der Natur der Sache, daß es in keiner Situation so sehr auf den Staat ankommt wie im ›Ernstfall‹ (Carl Schmitt)«. Doch ebenjener Staat hat einen schlechten Leumund in der BRD des Jahres 2021. Das führe dazu, daß sowohl »Autorität« als auch »Handlungsfähigkeit« des Staates sukzessive verlorengehen. Der Staat sei degradiert zur »Versorgungsanstalt für jedermann«. Brodkorb, der es wohlweislich unterläßt, die Schuldfrage zu erörtern, benennt drei Forderungen: Erstens das Zurückstutzen einer teils »metastasierenden Bürokratie«; zweitens eine Neuordnung der föderalen Mechanismen; drittens mehr Führung und weniger »bloße Moderation«. »Der Staat«, entfaltet Brodkorb, »ist keine ›Milchkuh‹ (Arnold Gehlen), an deren Zitzen sich allerlei Partikularinteressen laben können, sondern hat in unser aller Interesse dem Gemeinwohl zu dienen.«
Autorität, Staat, Schmitt, Ernstfall, Gehlen, Gemeinwohl – Brodkorb wildert selbstbewußt in rechtem Terrain. Auch das war vor einem Jahr unvorstellbar. Die Gretchenfrage wird sein, ob es Brodkorb tatsächlich um einen Staat als Staat geht, was eine Absage an die mehr denn je drohende »Herrschaft der Betreuer« implizierte. Es werden nämlich Politpädagogen schwarzer, grüner und roter Provenienz sein, »die ein politisches Eigeninteresse daran haben, die Betreuten materiell und vor allem in ihrem Selbstverständnis hilflos und hilfsbedürftig zu halten« (Helmut Schelsky) – und demzufolge würde man alle drei Parteifarben gleichermaßen des Feldes verweisen müssen. Kann Brodkorb auch diesen schlußfolgernden Sprung des Denkens wagen?
Vor einem Jahr …
begann sich eine neue Corona-Bevölkerungsgemeinschaft zu bilden. Ihr machtpolitisches Zentrum integriert unterschiedliche Spektren: Die Bandbreite reicht im parlamentspolitischen Betrieb von Law-and-Order-Neocons der CSU über Multiplikatoren wie Karl Lauterbach (SPD) bis zu Bodo Ramelow (Die Linke), vervollkommnet durch die massenmediale Omnipräsenz der Merkel-Regierung subordinierter Virologen und ihnen Gehorsam leistenden Bürgerscharen. Diese im falschen Sinne autoritär gepolte Allianz läßt immer strengere Maßnahmen gelten und warnt im gleichen Atemzuge vor »Covidioten« oder dem »Öffnungsrausch« (Markus Söder) moderater wie radikaler Maßnahmenkritiker. Gegen diese »Dreieinigkeit zwischen Politik, Wissenschaft und Volk« (und der Journalist Cordt Schnibben sieht diese ins Negative gespiegelte Verfallsform einer Volksgemeinschaft durchaus positiv) erweist sich bis dato kein Kraut gewachsen, sofern man von juristischen Teilerfolgen wider die Coronaschutzmaßnahmen – etwa seitens der AfD in Thüringen – absieht. Obschon das Sanktionsregime der Coronapolitik grosso modo funktioniert, kann auch Positives bilanziert werden: Denn das staatliche Treiben der (falschen) Elite zeigt, daß die Handlungsmacht des Staates weiterhin gegeben ist und mehr denn je von der Bereitschaft der Verantwortungsträger zur Dezision abhängt. Unverhofft eindeutig sind Dinge, von denen uns gesagt wurde, sie seien aufgrund objektiver Gegebenheiten nicht möglich und machbar, objektiv möglich und machbar. Die ideologischen Parameter der verantwortlichen Akteure sind zu verwerfen, aber auf einer wertneutralen Ebene wird deutlich: Die Räume von Staat und Politik bleiben auch im frühen 21. Jahrhundert gestaltbar. »Im Laufe einer einzigen Woche«, liest man bei Ivan Krastev, »wurden wegen Covid-19 mehr europäische Grenzen geschlossen als in der Flüchtlingskrise 2015.« Die Krise, die vor einem Jahr begann, zeigt uns, was ein planungsfähiger Staat vollbringen kann, wenn der politische Wille vorhanden und die öffentliche (respektive veröffentlichte) Stimmung günstig ist.
Wie so oft werden auch hier en passant ein Alleinstellungsmerkmal der Kritik von rechts und der blinde Fleck der Linken evident: Denn ein dezidiert linker Publizist wie D. F. Bertz tut zwar gut daran, dieses Virus als Globalisierungsfolge zu beschreiben und darauf hinzuweisen, daß temporäre »Grenzschließungen, diagnostische Tests und Quarantänemaßnahmen« vor einem Jahr »die ungehinderte Ausbreitung des Virus« hätten bremsen können, und er behält recht, wenn er bemängelt, daß just diese staatlichen Maßnahmen vermieden wurden, weil sie »als Unterbrechungen der Schlagadern des Welthandels tabu« erschienen. Doch fällt das Schema auf ihn zurück: Auch die Migrationskrise 2015 ff. hätte nämlich durch »Grenzschließungen« präventiv eingehegt werden können. Pull-Faktoren wären schwächer geworden, der damit verbundene Drang von Millionen Menschen, die Heimat zu verlassen, wäre nicht durch generöse Einladungspolitik genährt worden. Freilich waren auch diese autoritären Setzungen nicht zuletzt deshalb »tabu«, weil sie eben »als Unterbrechungen der Schlagadern des Welthandels« gewirkt hätten: Das Kapital bedarf nicht nur des freien Finanz- und Warenverkehrs, sondern auch der freien Migrationsströme.
Vor einem Jahr …
schon waren die Parteien der verknüpften Globalisierungs- und Migrationskritik die AfD in Deutschland und der Rassemblement National (RN) in Frankreich. Beide haben sich im Zuge der Krise ungleich entwickelt. Während die AfD trotz endlich wachsenden Unmuts in Teilen des Wahlvolks in keinen Umfragen mehr an das Bundestagswahlergebnis von 2017 herankommt und sich immer wieder coronapolitische Kehrtwendungen leistet, kann sich die seit Anbeginn einigermaßen auf eine Generallinie kaprizierende RN-Chefin Marine Le Pen »im Glanz guter Umfragewerte sonnen«. Doch zunächst zur AfD: Ein Vier-Punkte-Thesenpapier, das Ende Februar 2021 beschlossen wurde, fordert, daß in allen Einrichtungen, in denen Hygieneregeln umgesetzt werden können, »sofort eine Eröffnung erfolgen« müsse. Vor einem Jahr klang das anders: Man forderte als erste Bundestagspartei den Lockdown, um dem aufkommenden Virus Herr zu werden, bevor man zum markigsten Gegner ebenjener (zu spät?) erfolgten Maßnahmen wurde. Interne Turbulenzen rund um »Querdenker« und schrille Töne einzelner Verantwortungsträger zeigten: Es gab keine einheitliche Position, sondern ein Sammelsurium sich zum Teil gegenseitig ausschließender Positionen. Das wird auch am Thema Impfstoff deutlich. Obschon man damals wie heute eine »Impfpflicht« (direkt oder indirekt) ablehnt, änderte sich der Ton: Hatten Bundestagsabgeordnete im Laufe des Jahres 2020 noch vor dem »Experiment« Coronaimpfung gewarnt, das »in die Gene« eingreife, fordert das AfD-Papier nun, »zeitnah eine ausreichende Menge an Impfdosen und Medikamenten zur Verfügung zu haben«. Darüber hinaus Zugangsmißbrauch: Der Fraktionsvorsitzende im Landtag zu Düsseldorf ließ nicht nur sich selbst impfen, sondern gleich noch Ehefrau und Sohnemann. Derartige Widersprüche werden vom politischen Gegner lustvoll verwertet. Der RN in Frankreich hingegen hat seine Position seit März 2020 kaum verändert: Er fordert als Schutzpatron der classes populaires eine Befreiung vom Lockdown für kleine Geschäfte (während die Großen betroffen sein sollen), hebt zentral das gesundheitliche Schutzbedürfnis hervor, positioniert sich nicht wertend zum Impfen (obgleich sich Marine Le Pen impfen lassen möchte) und stellt die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Notlage ins Zentrum der Agitation, weniger die Benotung aktueller Maßnahmenpolitiken. Diese strategische Weitsicht könnte sich auszahlen. Auch RN-kritische Intellektuelle wie Ivan Krastev räumen langfristig ausgerichteten Hegemonieprojekten wie demjenigen Le Pens reelle Wirkungsoptionen ein. Ist die »heißeste Phase der gegenwärtigen Krise« erst einmal vorbei und fürchten »die Menschen nicht mehr um ihr Leben«, dann »wird die Wut zurückkehren« und »Politiker wie Marine Le Pen« dürften »Oberwasser bekommen«. Die häufig abstrakte Angst vor dem Virus, könnte man schlußfolgern, weicht dann der konkreten Angst vor sozialen Verwerfungen.
Vor einem Jahr …
schon besaßen Entwicklungen »Oberwasser«, die in Richtung einer stärker digitalisierten Lebenswelt in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft drängten. Das Coronavirus und die globalen Maßnahmen zu seiner Eindämmung wirkten hierbei lediglich als Vehikel für Prozesse, die ohnehin heranreiften. Man kann, negativer gewendet, von einer Art Brandbeschleuniger sprechen, der Tendenzen verstärkt und zusammengeführt hat. Das Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus – seit Reagan und Thatcher eingeführt, seit Schröder und Blair durch Gesetzespakete in Europa verstetigt – geht seinem Ende entgegen; wir erleben ein »Interregnum« (Antonio Gramsci), in dem das Alte abgelöst wird, das Neue aber noch nicht vollendet ist. Was sich in diesen letzten dreißig Jahren verändert hat, ist die Rolle des Staates. Vor der neoliberalen Wende war er ein Hindernis; nach ihr wurde er als Instrument verstanden. Der Staat wurde zurechtgeschnitten eingesetzt zur Absicherung der Herrschaft der Märkte, wurde zu einer Beute, die sich selbst als hungrig erwies. Derart gestärkt, transformiert sich der zeitgenössische Kapitalismus unter den Bedingungen anhaltender Krisengelegenheiten in neue Mischformen.
Bleiben die Grundparameter der Produktions- und Profitweise auch erhalten: Die neue Entwicklungsphase wartet mit stärker finanzialisierten und digitalisierten Formen auf. Zu konstatieren ist die monopolartige Verfügungsgewalt von Big Tech ebenso wie die Rolle von zu Mikrostaaten werdenden Hyperkonzernen. Sie fördern Entwicklungen, die den kontinentaleuropäischen Mittelstand liquidieren, während der politisch-ideologische Staatsapparat nichts zu dessen Verteidigung beizutragen hat. Das heißt auch: Über die neue Mixtur aus Elementen von staatsmonopolistischem Kapitalismus, Big-Tech-Märkten und neofeudaler Reichtumskonzentration verfestigen sich Zustände, die mit klassischer Marktwirtschaft nichts gemein haben, von einer sozial ausstaffierten ganz zu schweigen. Die herrschende Klasse – eine kapitalistische, die einen linksliberalen, »woken« Überbau kooptiert – nutzt die anhaltende Corona-Krisensituation für den weiteren globalen Umbau. Die Produktions- und Lebensweise unter Bedingungen der digitalen Netzgesellschaft soll exklusiver denn je »Reichen und Einflußreichen« (Paul Schreyer) bzw. »Wohlhabenden und Wohlmeinenden« (Bernd Stegemann) zugute kommen; sie wird autoritär abgesichert, durch massenwirksame Angstpropaganda sekundiert und stößt in Richtung »Post-truth«-Gefilde vor, in einen »Zustand jenseits der Wahrheit« (Timothy Snyder).
Das heißt im Umkehrschluß nicht, daß dieser Neubeginn Scripted Reality wäre. Der Great Reset ist real, doch trotz der Verlautbarungen von Klaus Schwab und Co. folgt er eher gesetzmäßigen Abläufen und politischen Richtungsentscheidungen als einem festgezurrten Plot. Wirtschaftlich und politisch Herrschende nutzen jede Krise – so auch im Falle Coronas die hegemonialen Globalisten. Die spezifischen Inhalte dieser Krisenjustierung und die Frage, wer ihnen wie begegnet, ziehen eine Neuvermessung des Geländes auch für die Outsider des Betriebes nach sich. Das heißt konkret, daß wir spätestens jetzt über die Gewißheit verfügen, daß sich alte politische Frontlinien neu ordnen. »Die COVID-19-Pandemie verheißt uns ein Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen«, mutmaßt Ivan Krastev. Wenn der Prognosedenker recht behält, gilt es lediglich zu ergänzen: Die Pandemie verheißt uns auch ein Ende der Frontverläufe, wie wir sie kennen. Der Hauptwiderspruch wird fortan zwischen Globalisten und Antiglobalisten (jeweils: aller Couleur) verlaufen.
Vor einem Jahr …
begann somit die Neuordnung des Politischen. Man täte gut daran, nicht abseits zu stehen, sondern, notwendige Standpunkte vertiefend und verdichtend, selbst darob tätig zu werden. Great Reset, der große Neustart, hieße dann, zugeschnitten auf unseren Kontext: Die Karten werden neu gemischt und ausgeteilt. Vielleicht ziehen wir schon bald ein As.