Der tausendjährige Staat Ungarn hat nach jahrhundertelangem Ringen 1989 / 90 seine Unabhängigkeit wiedererlangt – seine Souveränität hat er jedoch erst im vorigen Jahrzehnt zurückgewonnen. Denn vom Jahre 2010 an hat Ungarn nicht nur den – von postkommunistisch-liberalen Kräften unterbrochenen (2002 – 2010) und rückgängig gemachten – Regimewechsel abgeschlossen, es hat auch die politischen Grundlagen eines neuen nationalen politischen Ordnungsrahmens gelegt. Das könnte der Ausgangspunkt einer konservativen Kultur epoche sein, die nach der Bündelung der heimischen nationalen, rechten Kräfte – nach dem Muster eines in den See geworfenen Steins – genügend Attraktivität besäße, um weitere Kreise von Allianzen zu bilden. Am Ende dieses Prozesses wäre die Entstehung eines mitteleuropäischen Nationalblocks denkbar, der die Staaten und Regionen des Karpatenbeckens, Mitteleuropas und des sich dorthin gravitierenden Westbalkans sowie Ostdeutschland und Norditalien umfassen würde. Mit anderen Worten: eine moderne, auf dem »Recht der jungen Völker« (Arthur Moeller van den Bruck) basierende Allianz.
Die begrenzte Souveränität des Königreichs Ungarn – seine fast vollständige Zerstörung, seine Aufteilung in drei Territorien, seine Eingliederung ins osmanische bzw. österreichische Reich, schließlich die indirekt ausgeübte Kontrolle durch Wien – währte insgesamt dreihundert Jahre lang (1541 – 1848), worauf das fünfzigjährige System der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (1867 – 1918) mit ihrer eigenen, auf Kompromissen basierenden Praxis der Souveränitätsübertragung folgte. Ungarn besaß insgesamt nur während eines Drittels des 20. Jahrhunderts seine volle Souveränität: Von 1920 bis 1944 existierte die Unabhängigkeit des Staates, dessen Territorium aber durch den Raubfrieden von Trianon verstümmelt worden war. Am Ende des Zweiten Weltkrieges erlitt Ungarn eine nationalsozialistische und sowjetische Doppelbesetzung; das Land blieb bis 1991 (!) von sowjetischen Truppen besetzt.
Mit dem Machtwechsel von 1989 / 90 kam Ungarn endlich in den Genuß der vollen staatlichen Unabhängigkeit, allerdings wurde dieser erst 2010 ein Programm zur Entfaltung der nationalen Unabhängigkeit zur Seite gestellt. Im letzten Jahrzehnt konnte Ungarn trotz der Souveränitätsdelegierung an die Europäische Union auf mehreren Gebieten Erfolge erzielen. In der Orbán-Dekade (2010 – 2020) wurde im Vergleich zur vorherigen linksliberalen Regierung folgendes erreicht: Reduzierung der Staatsverschuldung (von 77 auf 65 Prozent), Steigerung der Beschäftigungsquote (von knapp der Hälfte auf nahezu zwei Drittel der Erwerbsfähigen), Anstieg der Eheschließungen (um mehr als das Anderthalbfache), Steigerung der Geburtenrate (von 1,3 auf fast 1,5), Verdoppelung des Mindestlohns, Zuwachs des Pro-Kopf-BIP um 130 Prozent. Darüber hinaus unternahm die Orbán-Regierung wichtige Schritte zur Stärkung der Selbstbestimmung, wie den Rauswurf des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Besteuerung von Banken, Medienkonzernen sowie von multinationalen und Telekommunikations-Unternehmen, die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für außerhalb der Landesgrenze lebende Ungarn, den Rückkauf zuvor privatisierter Infrastruktur und schließlich die aktive Entwicklung der Streitkräfte.
Die Orbán-Regierung hat 2010, 2014 und 2018 die Parlamentswahl in Ungarn jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen, was die ausreichende Legitimation für eine stabile und pragmatische, gleichwohl weltanschaulich orientierte Regierung sicherte. Dazu gehören 2011 das Inkrafttreten einer neuen Verfassung (bis dahin war das immer wieder geflickte Grundgesetz des sowjetischen Typs von 1949 in Kraft), der Ausbau der Grenzsicherung 2015, um illegale Migranten aufzuhalten, die Revitalisierung der Visegrád-Gruppe und die Konfrontation mit den politischen Angriffen aus Brüssel. Außerdem wurden die NGO-Netzwerke und die Universität von George Soros (Central European University) gezwungen, die einheimischen Gesetze einzuhalten.
Die Verfassung von Ungarn legt nunmehr fest: »Wir erkennen die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation an«, und verkündet, »daß der wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens Familie und Nation sind«, ferner, »daß die Arbeit die Grundlage der gemeinschaftlichen Kraft und der Ehre des Menschen ist« und »daß die Ehe ein Bündnis zwischen Mann und Frau ist; der Vater ist ein Mann, die Mutter eine Frau«.
Die seit 2010 verantwortliche Nationalregierung fügt sich in drei langfristige internationale Entwicklungstendenzen ein, welche die jetzige Epoche zu einem Ende führen:
1. Der Zerfallsprozeß der neoliberalen Globalisierung, der, von der Weltwirtschaftskrise 2008 ausgehend, bis zur Corona-Pandemie 2020 stetig offenbarer wurde.
2. Die Wandlung der (post-bipolaren) Weltordnung nach dem Kalten Krieg, die eine Neuverteilung der internationalen Kräfteverhältnisse mit sich brachte (Brexit, Präsidentschaft Trumps, populistische
Strömungen, Chinas Aufstieg).
3. Der Untergang des sogenannten amerikanischen Jahrhunderts, des American Century (1917 bis 2017), welches als Folge des Ersten Weltkrieges entstanden war.
Viele der europäischen politischen Prozesse der 2010er Jahre lassen sich auf diesen Wandel im Weltsystem zurückführen. Dieser politische »Epochenwechsel« (Rolf Peter Sieferle) nimmt zunehmend die Dimensionen eines Krieges zwischen zwei gegnerischen Kräften an: Auf der einen Seite stehen die Vertreter der globalen alten Ordnung, auf der anderen die Repräsentanten der neuen nationalen Kräfte.
In den dreißig Jahren zwischen 1990 und 2020 kamen in der ungarischen Innenpolitik drei große Bruchlinien zur Geltung. Die Hauptbruchlinie entstand in der Periode ab 1990, nach den ersten freien Wahlen, bis zum Regierungswechsel 1994. Sie verlief zwischen den Profiteuren des kommunistischen Regimes und den heterogenen antikommunistischen Kräften (Zentristen, Kleinbauernpartei, Christdemokraten, Liberale, Konservative, Völkisch-Nationale). Nachdem die Sozialistische Partei und die Freien Demokraten 1994 eine Koalition gebildet hatten, wurde diese Spaltung zunehmend durch einen Konflikt zwischen der Linken und der Rechten ersetzt. In Wirklichkeit bedeutete die sozialistische-freidemokratische Koalition eine Linksallianz zwischen der postkommunistischen politisch-wirtschaftlichen Elite und den liberal-kosmopolitischen Intellektuellen.
Auf der anderen Seite erstarkte sukzessive die von Viktor Orbán geführte Fidesz-Partei (Bund Junger Demokraten), die sich aus einer anfänglich jungradikalen Partei zur nationalliberalen (1993) und später (1996) zur bürgerlichen Rechtspartei entwickelte. Von 1998 bis 2002 regierte Fidesz gemeinsam mit der Kleinbauernpartei und den Christdemokraten. 2002 kehrten die postkommunistischen Sozialliberalen zurück und wurden schließlich 2010 von der Allianz aus Fidesz und der KDNP (Christlich-Demokratische Volkspartei) abgelöst. Ab 2006 wurde die ursprünglich nationalradikale Partei Jobbik zunehmend stärker (Jobbik bedeutet auf ungarisch nicht nur »rechts«, sondern auch »der Richtigere« oder »der Bessere«).
Im Jahr 2010 kam die Parteiallianz aus Fidesz und KDNP an die Macht, die fast ein Jahrzehnt die dreiteilige parlamentarische politische Ebene dominierte. Im Zentrum stand die rechtsnationale-nationalkonservative Regierungspartei, links von ihr die kleineren linksliberalen und grünen Fraktionen, und am Rechtsaußenrand blieb Jobbik. Diese komfortable Situation hielt bis 2019 an. Doch bereits während der Parlamentswahlen 2018 näherte sich Jobbik dem linksliberal-grünen Pol an, und bei den Kommunalwahlen 2019 unterstützten diese Kräfte gegenseitig ihre jeweiligen Kandidaten. Zum Jahreswechsel 2020 / 2021 formierte die Opposition eine neue Koalition, die aus sechs Parteien besteht. Der Preis dafür war, daß Jobbik im Verlauf des letzten halben Jahrzehnts allmählich das nationale Programm vollständig aufgab und zur Kleinpartei mutierte – letztlich entpuppt sich Jobbik als Hilfswilliger der vereinigten Linken.
Seit 2019 herrscht in Ungarn also eine neue politische Situation: Die Bruchlinie verläuft nun zwischen den nationalen und den internationalen Kräften. Auf der nationalen Seite findet man als Nachfolger des antikommunistischen, rechten Pols die regierende Orbán-Partei; auf der internationalen Seite sieht man ein Sammelsurium von ideologisch heterogenen Parteien, die, obschon sie verschiedene Namen tragen, tatsächlich eine Art internationale Quasi-Einheitspartei bilden. Ihre Mitglieder unterscheiden sich insofern, als sie verschiedenen Kapitalfraktionen zugehören. In dieser Regenbogenkoalition vertreten Altlinke den Internationalismus, Neulinke den Kosmopolitismus, die (Neo)Liberalen sind Globalisten, die Grünen und selbst Jobbik interessieren sich nicht für die nationale Interessenvertretung.
Die gesellschaftliche breite Unterstützung der nationalen Kräfte gleicht einem nationalen »historischen Block« (Antonio Gramsci). Unter ihnen finden sich Vertreter verschiedener sozialer Schichten, Menschen, die von realen Löhnen und Gehältern leben, Rentner und diejenigen, die auf dem Land, in den Kleinstädten und in den Wohnsiedlungen leben. Wie in Europa ist es auch in Ungarn typisch, daß die Großstadtmenschen in den Metropolen, die urban-liberale Oberschicht, sich multikulturell orientieren.
Von 1945 bis 2010 herrschte in Ungarn eine »progressive« Epoche, deren ersten 45 Jahre (1945 – 1989) aus einer direkten, sich auf Gewalt stützenden kommunistischen Diktatur bestanden. Die letzten zwanzig Jahre (1990 – 2010) waren hingegen ein postkommunistisches System, in dem die Rechten zwar die Macht zweimal ergreifen konnten, die Herrschaft jedoch stets im Besitz der linksdominierten Kräfte blieb.
In diesen zwei Jahrzehnten ging es nicht nur darum, daß die wirtschaftliche und politische Elite ihre Schlüsselpositionen, die sie in der Diktatur gesichert hatte, erfolgreich hinüberrettete, sondern auch, daß die liberale Intelligenz und die Medienelite im weitgefassten kulturellen Bereich dank ihrer indirekten Macht das Monopol auf Deutung, Erklärung und Geschichtserzählung in ihren Händen behielten. Eben aus diesem Grund erleben wir gegenwärtig auch in Ungarn einen harten Kulturkampf zwischen den »individualistisch-universalistischen« und den »kollektivistisch-partikularistischen« Grundorientierungen (Lothar Fritze).
Eine der wichtigsten Komponenten der kulturellen Hegemonie ist die »Herrschaft durch Sprache« (Helmut Schelsky), die in Ungarn bis vor kurzem ausschließlich im Besitz der neomarxistischen Kreise war, die sich wiederum Ende der 1960er Jahre gebildet hatten. Die zentrale Figur war der aktiv mit der Diktatur zusammenarbeitende Georg Lukács (1885 – 1971), dessen Jünger mehr als ein halbes Jahrhundert lang über die Zusammensetzung der ungarischen neuen Linken und der kritischen Intelligenz entschieden. Sie sind die ungarischen 68er, die in ihrem Denken enge Verwandte der Frankfurter Schule darstellen.
Trotz der »Wende« hat also die postkommunistisch-liberale Allianz nach 1989 / 90 jegliche Art von Kapital unter Kontrolle gehalten: Während das politische und wirtschaftliche Kapital von den ehemaligen (?) Kommunisten kontrolliert wurde, machte sich die liberale Intelligenz das »kulturelle Kapital« (Pierre Bourdieu) zu eigen. Darüber hinaus arbeiteten sie eng mit jenen externen Mächten zusammen (EU, IWF, USA), die Ungarn nicht nur mit Hilfe der Privatisierung und einer neoliberalen Schocktherapie, sondern auch durch die machtvolle Zusammenarbeit mit der linksliberal orientierten »Kompradorenbourgeoisie« (Nicos Poulantzas) gleichsam in einer Art neokolonialer Abhängigkeit hielten.
Die politische Wende von 2010 erfordert daher weiterhin die Durchsetzung einer kulturellen Wende, die neben der gesellschaftlichen Mehrheit auch »die ideologische Mehrheit« (Alain de Benoist) erringen kann. Aus diesem Grund ist die metapolitische Mobilmachung die dringlichste Aufgabe der ungarischen Rechten, die im indirekten Kampf der politischen Auseinandersetzungen ein breites Waffenarsenal einsetzen muß, damit neben der politischen auch die kulturelle Macht in ihren Händen bleibe.
Wir leben nun in einer »Welt ohne Weltordnung« (Mária Schmidt), in der die postmoderne Kriegführung charakteristisch geworden ist und in der es keine klare Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden, Soldaten und Zivilisten, Medienberichterstattungen und echten bewaffneten Interventionen gibt. Eine Methode ist die hybride Kriegführung, zu der die mittels Geheimdiensten operativ zustande gekommenen bunten Revolutionen, das Erlangen der Informationshoheit (Big Tech) und die Praxis des Exports weicher Demokratien durch den amerikanischen Staat gehören.
Die rechtsgerichtete Regierung, die seit zehn Jahren im Amt ist, ihre kraftvolle Selbstbehauptung in Europa, der hiesige Mangel an politischer Korrektheit, die Migrationsabwehr, die ethnisch-religiöse Homogenität und der kulturelle Konservatismus sind sämtlich Gründe dafür, daß Ungarn unter den europäischen Konservativen oft als Vorbild angesehen wird. Ungarn ist in der Tat zu einem Modell geworden, das sich durch folgendes auszeichnet: einen souveränen Staat, nationale Selbstbestimmung, innenpolitische Stabilität, expandierende Wirtschaft und wachsenden Handlungsspielraum in der Außenpolitik.
Ungarn braucht jedoch Partner, denn seine Probleme sind europäische Probleme, die Herausforderungen, denen es gegenübersteht, sind die aller europäischen Völker. Die größten europäischen Herausforderungen unserer Zeit sind das Erzwingen »offener Gesellschaften«, die staatlichen und nichtstaatlichen amerikanischen – und sonstigen nichteuropäischen – Hegemoniebestrebungen, die Masseneinwanderung Fremder nach Europa, die Durchsetzung globaler Kapitalinteressen und die zu starke Wucherung der EU-Bürokratie – sie alle bedrohen die Werte und die Interessen der Einheimischen des Kontinents.
Vor uns stehen »Jahre der Entscheidung« (Oswald Spengler). In Ungarn gibt es ein Sprichwort: Jeder Ungar ist für jeden Ungarn verantwortlich. Lassen Sie uns dies erweitern und sagen: Jede Nation ist für Europa verantwortlich.