Ökologische Betrachtungen (8): Industrielle Viren

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Rund ein Jahr ist ver­gan­gen, seit die Aus­brei­tung des »Schwe­ren aku­ten Atem­wegs­syn­drom-Coro­na­vi­rus-Typ 2« (SARS-CoV‑2) von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) zur Pan­de­mie erklärt wur­de. Deutsch­land erlebt gera­de sei­nen zwei­ten Lock­down, der län­ger und stren­ger aus­fällt als der ers­te. Der Streit um die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Maß­nah­men zur Ein­däm­mung der Pan­de­mie ist mitt­ler­wei­le genau­so viru­lent wie das Virus selbst und treibt die Deut­schen ent­we­der in Auto­kor­sos auf die Stra­ße oder in die selbst­ge­wähl­te Iso­la­ti­on inner­halb der eige­nen vier Wände.

Hat­te der ers­te Lock­down noch eine brei­te Unter­stüt­zung in der Bevöl­ke­rung, so strit­tig ist der zwei­te, und mit jedem Tag, den er wei­ter anhält, wer­den die zwei­feln­den Stim­men lau­ter: Recht­fer­tigt die Leta­li­tät von SARS-CoV‑2 wirk­lich der­art stren­ge Maß­nah­men? Ist der Lock­down wirk­lich das pro­ba­te Mit­tel zur Ein­däm­mung des Virus­ge­sche­hens? Sit­zen wir am Ende nicht der­sel­ben Panik­ma­che, wie wir sie bei der Schwei­negrip­pe (H1N1) im Jahr 2009 erlebt haben, auf? Fra­gen, die zum aktu­el­len Zeit­punkt nicht ein­deu­tig und wenn über­haupt erst in ein paar Jah­ren in der Retro­spek­ti­ve beant­wor­tet wer­den können.

Was jedoch mit ziem­li­cher Sicher­heit gesagt wer­den kann, ist, daß SARS-CoV‑2 kei­nes­wegs ein neu­es Ebo­la oder die nächs­te Vogel­grip­pe (H5N1) dar­stellt – die Leta­li­tät die­ser bei­den Viren liegt weit höher als die des neu­en Coro­na­vi­rus. Je nach Aus­bruch und Erre­ger­va­ri­an­te bewegt sich die Mor­ta­li­täts­ra­te bei Ebo­la zwi­schen 25 und 90 Pro­zent: Beim west­afri­ka­ni­schen Aus­bruch im Jahr 2014 und 2015 infi­zier­ten sich bis Juli 2015 laut WHO über 27 000 Men­schen, von denen über 11 000 star­ben. Bei den glück­li­cher­wei­se bis­her nur in gerin­gem Maße erfolg­ten Über­sprün­gen von H5N1 auf den Men­schen lesen sich die von der WHO ver­öf­fent­lich­ten Zah­len ähn­lich: In Indo­ne­si­en wur­den bei­spiels­wei­se 200 Erkrank­te gezählt, 168 von ihnen star­ben am Virus (Stand 2020).

Unge­ach­tet der unter­schied­li­chen Her­kunft, Aus­brei­tungs­wei­se und Leta­li­tät, ver­eint alle drei Viren ihr zoo­no­ti­scher Cha­rak­ter. Ebo­la, die Vogel­grip­pe und das Coro­na­vi­rus sind Zoo­no­sen, also »Infek­ti­ons­krank­hei­ten, die von Bak­te­ri­en, Para­si­ten, Pil­zen, Prio­nen oder Viren ver­ur­sacht und wech­sel­sei­tig zwi­schen Tie­ren und Men­schen über­tra­gen wer­den kön­nen«, wie es das Bun­des­in­sti­tut für Risi­ko­be­wer­tung defi­niert. Im Fal­le der drei Viren ist es ziem­lich sicher, daß die Über­tra­gung vom Tier auf den Men­schen statt­fand. In den meis­ten Fäl­len bedarf es dafür eines engen Kon­tak­tes zwi­schen Mensch und Tier, und des­halb ist die Bezie­hung »Mensch-Nutz­tier« in die­sem Kon­text von fun­da­men­ta­ler Bedeutung.

Nun ist zu beob­ach­ten, daß die Zahl der auf­tre­ten­den Zoo­no­sen über die letz­ten Jahr­zehn­te erheb­lich zuge­nom­men hat. Wie Kathe­ri­ne F. Smith et al. in einer Stu­die für das Jour­nal of the Roy­al Socie­ty Inter­face im Jahr 2014 ermit­tel­ten, nimmt die Dyna­mik bei den Infek­tio­nen seit den 1980ern zu – Zoo­no­sen sind auf dem Vor­marsch. Doch wor­an liegt das? Einen der Grün­de hat der His­to­ri­ker und Publi­zist Nils Weg­ner in der Sezes­si­on 81 in sei­nem Arti­kel »Eine Welt, eine Risi­ko­grup­pe« her­aus­ge­ar­bei­tet: »Daß eigent­li­che Tier­krank­hei­ten (Zoo­no­sen) die Arten­gren­ze über­schrei­ten, erklärt sich ins­be­son­de­re durch das mas­si­ve Bevöl­ke­rungs­wachs­tum in Afri­ka, die damit ver­bun­de­ne Durch­sie­de­lung des Urwalds und die dar­aus erfol­gen­de Ver­schlep­pung in Bal­lungs­räu­me. Von dort aus füh­ren Ver­kehrs­we­ge in die gan­ze Welt, und einer glo­ba­len Aus­brei­tung bin­nen weni­ger Wochen lie­ße sich nur durch die – kaum mög­li­che – umge­hen­de Abschot­tung eines gan­zen befal­le­nen Lands ent­ge­gen­steu­ern.« Er kon­sta­tiert wei­ter: »Die Glo­ba­li­sie­rung hat nicht zuletzt auch dem Tod die Welt­rei­se ein­fa­cher gemacht – doch solan­ge Waren­fluß und Tou­ris­mus Vor­rang haben, sind etwa­ige Vor­sichts­maß­nah­men nur hinderlich.«

Die Ver­net­zung der Welt trägt ohne Zwei­fel dazu bei, daß ein­zel­nen Krank­heits­er­re­gern, die vor­her nur klein­räu­mig auf­tra­ten und über ein begrenz­tes, regio­na­les Infek­ti­ons­ge­sche­hen nicht hin­aus­ka­men, heu­te das Poten­ti­al zur nächs­ten töd­li­chen Pan­de­mie inne­wohnt. Aller­dings stellt die Glo­ba­li­sie­rung nur einen Faden unter vie­len in einem eng­ma­schi­gen Netz aus mit­ein­an­der ver­wo­be­nen Fak­to­ren dar. Die von Weg­ner ange­schnit­te­ne »Durch­sie­de­lung des Urwalds« ist ein wei­te­rer gewich­ti­ger Aspekt: Die Ver­net­zung der Welt, aber auch das Vor­drin­gen die­ses Net­zes in die ent­le­gens­ten Ecken der Erde und die dar­aus resul­tie­ren­den Stö­run­gen der Öko­sys­te­me, ins­be­son­de­re ihrer regu­la­ti­ven Funk­tio­nen im Hin­blick auf die Aus­brei­tung von Krank­hei­ten, sind ursäch­lich für den von Smith et al. beob­ach­te­ten Anstieg der Zoonosen.

Dar­aus folgt, daß für die Kon­zep­ti­on einer wirk­sa­men Erre­ger-Ein­däm­mungs­stra­te­gie Viren nicht nur iso­liert medi­zi­nisch und viro­lo­gisch betrach­tet wer­den dür­fen, son­dern die sozio-öko­lo­gi­schen Rah­men­be­din­gun­gen, in denen sie ent­ste­hen, zwangs­läu­fig Teil der Ana­ly­se sein müs­sen. Denn die­se Rah­men­be­din­gun­gen haben einen signi­fi­kan­ten Ein­fluß dar­auf, in wel­che Rich­tung sich Erre­ger ent­wi­ckeln und auf wel­che Wei­se sie sich ver­brei­ten. Rob Wal­lace, US-ame­ri­ka­ni­scher Evo­lu­ti­ons­bio­lo­ge und Epi­de­mio­lo­ge, faßt es in sei­nem Buch Was COVID-19 mit der öko­lo­gi­schen Kri­se, dem Raub­bau an der Natur und dem Agro­busi­ness zu tun hat wie folgt zusam­men: »Die Ursa­che von COVID-19 und ähn­li­cher Erre­ger [kann] nicht auf den Aus­lö­ser einer Infek­ti­on oder ihren kli­ni­schen Ver­lauf beschränkt wer­den, son­dern [liegt] in den öko­sys­te­mi­schen Ver­hält­nis­sen […], die unter ande­rem das Kapi­tal sei­nen Inter­es­sen gemäß gestal­tet hat.« Er fügt damit den bei­den bereits ange­führ­ten Fak­to­ren der Glo­ba­li­sie­rung und der öko­lo­gi­schen Kri­se – im wesent­li­chen die Stö­rung natür­li­cher Lebens­räu­me sowie die Abnah­me der Bio­di­ver­si­tät – noch eine öko­no­mi­sche Dimen­si­on, bestehend aus Indus­tria­li­sie­rung und Kapi­ta­lis­mus, hin­zu, wobei alle drei in einem wech­sel­sei­ti­gen Bezug zuein­an­der stehen.

Wal­lace hat es dabei spe­zi­ell auf die welt­markt­ori­en­tier­te, indus­tria­li­sier­te Land­wirt­schaft abge­se­hen, die er als »Antrieb und Netz­werk, das Krank­heits­er­re­ger unter­schied­lichs­ter Her­kunft über die Erde ver­teilt, von den abge­le­gens­ten Reser­voirs zu den zen­trals­ten Metro­po­len«, beschreibt. Sei­ner Ansicht nach »bie­tet die indus­tria­li­sier­te Vieh­hal­tung […] die per­fek­ten Vor­aus­set­zun­gen für viru­len­te Krank­heits­er­re­ger. Durch die gene­ti­sche Mono­kul­tur der Zucht­tie­re fal­len Immun­re­ak­tio­nen der Tie­re weg, die ansons­ten die Über­tra­gung abbrem­sen wür­den. […] Zudem begüns­ti­gen grö­ße­re Popu­la­tio­nen und die grö­ße­re Dich­te höhe­re Über­tra­gungs­ra­ten. Die beeng­ten Ver­hält­nis­se schwä­chen die Immun­re­ak­ti­on der Tie­re. Der schnel­le Umschlag, der zu jeder indus­tri­el­len Pro­duk­ti­on gehört, lie­fert per­ma­nent neue anfäl­li­ge Wirts­kör­per und befeu­ert so die Evo­lu­ti­on von Virulenz.«

Die Viel­zahl neu­er Influ­en­za-A-Vari­an­ten seit dem Jahr 2000 gibt Wal­lace recht: H1N1, H1N2v, H3N2v, H5N1, H5N2, H5Nx usw. Vor allem bis ins kleins­te Detail durch­tech­ni­sier­te Hüh­ner­mas­ten sind wah­re Influ­en­za-Her­de und ste­hen exem­pla­risch für die kapi­ta­lis­tisch-indus­tri­el­le Ver­wer­tungs­lo­gik moder­ner Fleisch­pro­duk­ti­on. Das dort im Wort­sinn »ver­ar­bei­te­te« Huhn ist mitt­ler­wei­le durch Zucht gene­tisch so modi­fi­ziert, daß es ein leben­di­ger Teil der Pro­duk­ti­ons­ma­schi­ne gewor­den ist. Es ist sogar über­haupt nur in die­ser arti­fi­zi­el­len Umwelt über­le­bens­fä­hig: schnell­wach­send, über­di­men­sio­nier­te Brüs­te, Lebens­dau­er 28 bis 42 Tage. Unter die­sen künst­li­chen Bedin­gun­gen evol­vie­ren dann auch ent­spre­chen­de Viren.

Am Anfang der Coro­na-Pan­de­mie, als es noch ver­mehrt um die Fra­ge nach der Gene­se des neu­en Virus ging, lag das Schein­wer­fer­licht für kur­ze Zeit auf den hier skiz­zier­ten sozio-öko­lo­gi­schen Rah­men­be­din­gun­gen, die es her­vor­ge­bracht haben könn­ten, doch dann schwenk­te man recht schnell zurück auf die klas­sisch-mole­ku­la­re Ebe­ne. Heu­te dreht es sich im Zusam­men­hang mit »Coro­na« wie­der vor­nehm­lich um viro­lo­gi­sche Details: »Krank­heit erscheint« in die­ser Betrach­tungs­wei­se »als das Ergeb­nis eines Kon­flikts zwi­schen Viri­on und Immu­ni­tät – ein Kampf zwi­schen der Evo­lu­ti­on des Virus einer­seits und den Bemü­hun­gen der Mensch­heit ande­rer­seits, wirk­sa­me Imp­fun­gen und anti­vi­ra­le Mit­tel zu ent­wi­ckeln, ein Kampf zwi­schen Natur (in rotem Gly­ko­pro­te­in) und Kul­tur (in wei­ßen Labor­kit­teln)«, so Wal­lace. In die­ser iso­lier­ten Betrach­tungs­wei­se bleibt der Blick für die tie­fer­lie­gen­den Struk­tu­ren, die der­ar­ti­ge Pan­de­mien erst her­vor­brin­gen, ver­stellt und somit wird auch kei­ne nach­hal­ti­ge Besei­ti­gung der Virus­quel­len erfol­gen. Man dok­tert an den Sym­pto­men eines Pro­blems her­um, des­sen Wur­zeln sys­te­mi­scher Natur sind. Schlim­mer noch, mit den tech­ni­schen und medi­zi­ni­schen Bemü­hun­gen, das von den kapi­ta­lis­ti­schen Indus­trie­sys­te­men her­vor­ge­ru­fe­ne Infek­ti­ons­ge­sche­hen ein­zu­däm­men, treibt man die Evo­lu­ti­on der Viren auf die Spit­ze – sie ent­wi­ckeln sich ent­lang dem durch Impf­stof­fe aus­ge­üb­ten Druck. Es gleicht einem Wett­rüs­ten mit unge­wis­sem Aus­gang. Eines ist zumin­dest sicher, irgend­wo da drau­ßen, auf einer Hüh­ner­farm oder in einem zer­schnit­te­nen Urwald, war­tet der nächs­te Erre­ger mit pan­de­mi­schem Potential.

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