Rund ein Jahr ist vergangen, seit die Ausbreitung des »Schweren akuten Atemwegssyndrom-Coronavirus-Typ 2« (SARS-CoV‑2) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärt wurde. Deutschland erlebt gerade seinen zweiten Lockdown, der länger und strenger ausfällt als der erste. Der Streit um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist mittlerweile genauso virulent wie das Virus selbst und treibt die Deutschen entweder in Autokorsos auf die Straße oder in die selbstgewählte Isolation innerhalb der eigenen vier Wände.
Hatte der erste Lockdown noch eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, so strittig ist der zweite, und mit jedem Tag, den er weiter anhält, werden die zweifelnden Stimmen lauter: Rechtfertigt die Letalität von SARS-CoV‑2 wirklich derart strenge Maßnahmen? Ist der Lockdown wirklich das probate Mittel zur Eindämmung des Virusgeschehens? Sitzen wir am Ende nicht derselben Panikmache, wie wir sie bei der Schweinegrippe (H1N1) im Jahr 2009 erlebt haben, auf? Fragen, die zum aktuellen Zeitpunkt nicht eindeutig und wenn überhaupt erst in ein paar Jahren in der Retrospektive beantwortet werden können.
Was jedoch mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden kann, ist, daß SARS-CoV‑2 keineswegs ein neues Ebola oder die nächste Vogelgrippe (H5N1) darstellt – die Letalität dieser beiden Viren liegt weit höher als die des neuen Coronavirus. Je nach Ausbruch und Erregervariante bewegt sich die Mortalitätsrate bei Ebola zwischen 25 und 90 Prozent: Beim westafrikanischen Ausbruch im Jahr 2014 und 2015 infizierten sich bis Juli 2015 laut WHO über 27 000 Menschen, von denen über 11 000 starben. Bei den glücklicherweise bisher nur in geringem Maße erfolgten Übersprüngen von H5N1 auf den Menschen lesen sich die von der WHO veröffentlichten Zahlen ähnlich: In Indonesien wurden beispielsweise 200 Erkrankte gezählt, 168 von ihnen starben am Virus (Stand 2020).
Ungeachtet der unterschiedlichen Herkunft, Ausbreitungsweise und Letalität, vereint alle drei Viren ihr zoonotischer Charakter. Ebola, die Vogelgrippe und das Coronavirus sind Zoonosen, also »Infektionskrankheiten, die von Bakterien, Parasiten, Pilzen, Prionen oder Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können«, wie es das Bundesinstitut für Risikobewertung definiert. Im Falle der drei Viren ist es ziemlich sicher, daß die Übertragung vom Tier auf den Menschen stattfand. In den meisten Fällen bedarf es dafür eines engen Kontaktes zwischen Mensch und Tier, und deshalb ist die Beziehung »Mensch-Nutztier« in diesem Kontext von fundamentaler Bedeutung.
Nun ist zu beobachten, daß die Zahl der auftretenden Zoonosen über die letzten Jahrzehnte erheblich zugenommen hat. Wie Katherine F. Smith et al. in einer Studie für das Journal of the Royal Society Interface im Jahr 2014 ermittelten, nimmt die Dynamik bei den Infektionen seit den 1980ern zu – Zoonosen sind auf dem Vormarsch. Doch woran liegt das? Einen der Gründe hat der Historiker und Publizist Nils Wegner in der Sezession 81 in seinem Artikel »Eine Welt, eine Risikogruppe« herausgearbeitet: »Daß eigentliche Tierkrankheiten (Zoonosen) die Artengrenze überschreiten, erklärt sich insbesondere durch das massive Bevölkerungswachstum in Afrika, die damit verbundene Durchsiedelung des Urwalds und die daraus erfolgende Verschleppung in Ballungsräume. Von dort aus führen Verkehrswege in die ganze Welt, und einer globalen Ausbreitung binnen weniger Wochen ließe sich nur durch die – kaum mögliche – umgehende Abschottung eines ganzen befallenen Lands entgegensteuern.« Er konstatiert weiter: »Die Globalisierung hat nicht zuletzt auch dem Tod die Weltreise einfacher gemacht – doch solange Warenfluß und Tourismus Vorrang haben, sind etwaige Vorsichtsmaßnahmen nur hinderlich.«
Die Vernetzung der Welt trägt ohne Zweifel dazu bei, daß einzelnen Krankheitserregern, die vorher nur kleinräumig auftraten und über ein begrenztes, regionales Infektionsgeschehen nicht hinauskamen, heute das Potential zur nächsten tödlichen Pandemie innewohnt. Allerdings stellt die Globalisierung nur einen Faden unter vielen in einem engmaschigen Netz aus miteinander verwobenen Faktoren dar. Die von Wegner angeschnittene »Durchsiedelung des Urwalds« ist ein weiterer gewichtiger Aspekt: Die Vernetzung der Welt, aber auch das Vordringen dieses Netzes in die entlegensten Ecken der Erde und die daraus resultierenden Störungen der Ökosysteme, insbesondere ihrer regulativen Funktionen im Hinblick auf die Ausbreitung von Krankheiten, sind ursächlich für den von Smith et al. beobachteten Anstieg der Zoonosen.
Daraus folgt, daß für die Konzeption einer wirksamen Erreger-Eindämmungsstrategie Viren nicht nur isoliert medizinisch und virologisch betrachtet werden dürfen, sondern die sozio-ökologischen Rahmenbedingungen, in denen sie entstehen, zwangsläufig Teil der Analyse sein müssen. Denn diese Rahmenbedingungen haben einen signifikanten Einfluß darauf, in welche Richtung sich Erreger entwickeln und auf welche Weise sie sich verbreiten. Rob Wallace, US-amerikanischer Evolutionsbiologe und Epidemiologe, faßt es in seinem Buch Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat wie folgt zusammen: »Die Ursache von COVID-19 und ähnlicher Erreger [kann] nicht auf den Auslöser einer Infektion oder ihren klinischen Verlauf beschränkt werden, sondern [liegt] in den ökosystemischen Verhältnissen […], die unter anderem das Kapital seinen Interessen gemäß gestaltet hat.« Er fügt damit den beiden bereits angeführten Faktoren der Globalisierung und der ökologischen Krise – im wesentlichen die Störung natürlicher Lebensräume sowie die Abnahme der Biodiversität – noch eine ökonomische Dimension, bestehend aus Industrialisierung und Kapitalismus, hinzu, wobei alle drei in einem wechselseitigen Bezug zueinander stehen.
Wallace hat es dabei speziell auf die weltmarktorientierte, industrialisierte Landwirtschaft abgesehen, die er als »Antrieb und Netzwerk, das Krankheitserreger unterschiedlichster Herkunft über die Erde verteilt, von den abgelegensten Reservoirs zu den zentralsten Metropolen«, beschreibt. Seiner Ansicht nach »bietet die industrialisierte Viehhaltung […] die perfekten Voraussetzungen für virulente Krankheitserreger. Durch die genetische Monokultur der Zuchttiere fallen Immunreaktionen der Tiere weg, die ansonsten die Übertragung abbremsen würden. […] Zudem begünstigen größere Populationen und die größere Dichte höhere Übertragungsraten. Die beengten Verhältnisse schwächen die Immunreaktion der Tiere. Der schnelle Umschlag, der zu jeder industriellen Produktion gehört, liefert permanent neue anfällige Wirtskörper und befeuert so die Evolution von Virulenz.«
Die Vielzahl neuer Influenza-A-Varianten seit dem Jahr 2000 gibt Wallace recht: H1N1, H1N2v, H3N2v, H5N1, H5N2, H5Nx usw. Vor allem bis ins kleinste Detail durchtechnisierte Hühnermasten sind wahre Influenza-Herde und stehen exemplarisch für die kapitalistisch-industrielle Verwertungslogik moderner Fleischproduktion. Das dort im Wortsinn »verarbeitete« Huhn ist mittlerweile durch Zucht genetisch so modifiziert, daß es ein lebendiger Teil der Produktionsmaschine geworden ist. Es ist sogar überhaupt nur in dieser artifiziellen Umwelt überlebensfähig: schnellwachsend, überdimensionierte Brüste, Lebensdauer 28 bis 42 Tage. Unter diesen künstlichen Bedingungen evolvieren dann auch entsprechende Viren.
Am Anfang der Corona-Pandemie, als es noch vermehrt um die Frage nach der Genese des neuen Virus ging, lag das Scheinwerferlicht für kurze Zeit auf den hier skizzierten sozio-ökologischen Rahmenbedingungen, die es hervorgebracht haben könnten, doch dann schwenkte man recht schnell zurück auf die klassisch-molekulare Ebene. Heute dreht es sich im Zusammenhang mit »Corona« wieder vornehmlich um virologische Details: »Krankheit erscheint« in dieser Betrachtungsweise »als das Ergebnis eines Konflikts zwischen Virion und Immunität – ein Kampf zwischen der Evolution des Virus einerseits und den Bemühungen der Menschheit andererseits, wirksame Impfungen und antivirale Mittel zu entwickeln, ein Kampf zwischen Natur (in rotem Glykoprotein) und Kultur (in weißen Laborkitteln)«, so Wallace. In dieser isolierten Betrachtungsweise bleibt der Blick für die tieferliegenden Strukturen, die derartige Pandemien erst hervorbringen, verstellt und somit wird auch keine nachhaltige Beseitigung der Virusquellen erfolgen. Man doktert an den Symptomen eines Problems herum, dessen Wurzeln systemischer Natur sind. Schlimmer noch, mit den technischen und medizinischen Bemühungen, das von den kapitalistischen Industriesystemen hervorgerufene Infektionsgeschehen einzudämmen, treibt man die Evolution der Viren auf die Spitze – sie entwickeln sich entlang dem durch Impfstoffe ausgeübten Druck. Es gleicht einem Wettrüsten mit ungewissem Ausgang. Eines ist zumindest sicher, irgendwo da draußen, auf einer Hühnerfarm oder in einem zerschnittenen Urwald, wartet der nächste Erreger mit pandemischem Potential.