In ihrem Vorwort zu Gerd-Klaus Kaltenbrunners vor zwei Jahren neu herausgegebenem Doppelband Vom Geist Europas fragt Magdalena S. Gmehling, seine langjährige Mitarbeiterin: »Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?« und resümiert: »Ein Essayist von internationalem Ruf, Kulturmorphologe und Ideenporträtist, ein elitärer, enzyklopädisch gebildeter Denker, Polyhistor und spiritueller Idealist, konservativer Intellektueller und Bewahrer der Tradition.«
Kaltenbrunner, geboren 1939, starb vor zehn Jahren in Kandern im Schwarzwald. Sein ganzes intellektuelles Leben, nicht erst die Spätphase, in der er sich ausschließlich einigen großen christlichen Mystikern widmete, war in einem bestimmten Sinne »abschiedlich« gestimmt. Er verstand unter »Abschiedlichkeit« – den Ausdruck übernahm er vom Philosophen Wilhelm Weischedel – das Folgende, und zitierte es in mehreren seiner Aufsätze: »Habituell gewordene Zurückhaltung gegenüber dem ›Natürlichen‹, produktive und kulturstiftende wie ‑bewahrende Hemmung, die nicht mit pathologischer Gehemmtheit verwechselt werden darf. Sie berührt sich hingegen innig mit jener ›Grundhaltung der Abschiedlichkeit‹. […] Abschiedlich gestimmt und gesinnt zu sein ist eine noble Antwort auf die unbestreitbare Tatsache, daß in dieser Welt alles vergänglich, dem schließlichen Untergang verfallen und deshalb problematisch ist. In der Verfassung der Abschiedlichkeit lernen wir zu entsagen, zu verzichten und gelassen zu sein.«
Das Schaffen Kaltenbrunners verlief in zwei Phasen: Zunächst avancierte er zum Vordenker des Konservatismus – und stattete die konservative Position (in einer Zeit, in der die progressistische Linke einen ungeheuren Auswurf marxistischer »Theorie« zum Behufe der »Revolution« und parallellaufend zum schleichenden Umbau des kulturellen »Überbaus« der westlichen Gesellschaften produziert hat) mit genuiner Theoriegrundlage aus. Dies vollbrachte Kaltenbrunner einesteils durch Reflexion des Begriffs des Konservatismus (die zentrale Schrift ist Der schwierige Konservatismus von 1975, »Zehn Gebote für Konservative und solche, die es werden möchten« sind darin enthalten). Andernteils durch Ausgrabung, Zusammenstellung, facettenreiche Beurteilung und – dies ist ein wichtiges Mittel seines Herangehens an diese Gegenstände – Huldigung einer wahren Schar von Geistesriesen, auf deren Schultern wir alle stehen können, wenn wir nur in die Lage gebracht werden, uns ihres Beistands zu versichern.
Ab 1974 gab er die Taschenbuchreihe Herderbücherei Initiative heraus und schrieb zu jedem einzelnen Band ein Vorwort voller eigener Gedanken. Die Reihe wurde zu einer Art »heimlicher Universität« konservativen Denkens und wuchs bis 1988 auf 75 Einzelbände und drei Sonderbände an – sie sind größtenteils antiquarisch noch erhältlich, oft für wenig Geld. Einige davon sind vordergründig sehr zeitgebunden, beispielsweise Nr. 2 zu Klassenkampf und Bildungsreform oder Nr. 27 über Die elternlose Generation, aber bei genauerem Hinsehen findet sich darin eine vollständig entfaltete Kritikfolie für so gut wie alles, worüber wir uns in zahllosen rechten und konservativen Publikationsorganen gegenwärtig immer noch die Finger wundschreiben – wir befinden uns nämlich an einem End- oder Kulminationspunkt mehrerer Entwicklungen gleichzeitig (von Feminismus bis Ökologie, Erziehungsnotstand, Wissenschaftskapitulation, Kirchenkrise, Gesundheitsfundamentalismus und Technokratie), die in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik bereits zur Kenntlichkeit hervortraten. Einzelne Bände der Initiative-Reihe lohnen sich, neu veröffentlicht zu werden, besonders möchte ich hier Band Nr. 63, Der asketische Imperativ. Strategien der Selbstbeherrschung, herausheben.
1984 erschien Kaltenbrunners provokatives Bändchen Elite. Erziehung für den Ernstfall, das als kaplaken Nr. 10 im Jahre 2008 wieder aufgelegt wurde (und ein als Einstieg perfekt geeignetes Kapitel über Geheimgesellschaften enthält), 1987 der Initiative-Sammelband mit dem Titel Was ist deutsch?, wohl sein politischstes und »rechtestes« Buch. Ab 1990 nichts mehr davon. Provokation, Politik, Teilnahme am »gesellschaftlichen Diskurs« waren beendet. Er trat als politischer Theoretiker nie wieder in Erscheinung. Keine Rechtfertigung, keine Programmschrift, keine »persönlichen Gründe« sind auffindbar. Abschiedlichkeit?
Statt dessen vergrub sich der Denker in die Höhen des Geistigen – die Metapher in meinem Satz ist nicht schief, sondern entspricht Kaltenbrunners Habitus: tief schürfen, um hoch hinaus schauen zu können. Johannes ist sein Name (1993) widmet sich dem »gleichnamigen Priesterkönig und Gralshüter, dessen Einfluß in der abendländischen Geistesgeschichte kaum überschätzt werden kann« (Staatspolitisches Handbuch: Vordenker). In seinem größten Spätwerk, Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine (1996), lese ich immer wieder, immer noch – es ist unfaßbar. Dies meine ich als Lobpreis des Lobpreises jenes schillernden, schwierigen, in seiner historischen Existenz so umstrittenen wie in seiner geistigen Existenz weltbewegenden Areopagiten: kaum auf den Begriff zu bringen, gleichzeitig schwärmerisch und hochpräzise.
In seinem kleinen Nachwort zu Elite hat Götz Kubitschek geschrieben, das »Konzept der Kulturrevolution, dem auch Kaltenbrunner anhing, ist nicht tot«. Eigentlich gibt es doch kaum etwas Unkonservativeres als ausgerechnet »Kulturrevolution«. In der Tat ist im Vorwort zum Inititiative-Band Nr. 6, Zur Emanzipation verurteilt, von einem »zweideutigen Anspruch des Emanzipationsbegriffs der westlichen Kulturrevolution« die Rede, der darin bestehe, »jede Art von Zwang beseitigen« zu wollen, worauf Kaltenbrunner ironisch bemerkt, in letzter Konsequenz werde es bald nicht mehr heißen, jemand sei satt, sondern er habe sich emanzipiert vom Hunger. Dementsprechend könne alles, was als Widerstand, Übel oder Hemmung empfunden wird, als Mangel an Emanzipation verstanden werden. Dies aber lasse sich reduzieren auf das »protestlerisch gereizte und mit Ekel gepaarte Mißtrauen gegen alles Bestehende«. »Mit einer sich in Abstraktionen austobenden idealistischen Wut wird, wie dem Licht die Finsternis, einem progressiv-kritisch-demokratisch-emanzipatorischen ein konservativ-positivistisch-autoritär-technokratisches Lager entgegengesetzt. Geschichte und Gegenwart erscheinen dann extrem polarisiert, denn der Feind ist a priori ermittelt und das gute Gewissen der eigenen Partei garantiert.« Die ewige Linke in nuce.
Eigentlich wäre sie in einem fairen Boxkampf hiermit ein für allemal erledigt. Aber der Witz der linken »Kulturrevolution« besteht gerade darin, sich von Widerlegungen nicht beirren zu lassen und »alles Bestehende« bis auf den heutigen Tag stur weiter zu unterminieren, bis es fällt.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner setzte dieser Wühlarbeit das entgegen, was er – hier ganz im Geist der Konservativen Revolution, die er andernorts namentlich in der Gestalt Moeller van den Brucks scharf kritisierte – »eine Philosophie revolutionärer Bewahrung« nannte. Ein solcher Konservatismus ist jedoch in seinem Kern ganz und gar abschiedlich gestimmt, denn er fußt auf »einer Anthropologie, die sich nicht um die Doppelstrebigkeit, Gegensätzlichkeit und Zwieseligkeit des Menschen, seine schwankende Stellung zwischen Schicksal und Machbarkeit, Gegenwärtigkeit der Vergangenheit und Gegenwärtigkeit der Zukunft betrügt.«
Wenn sie »Kulturrevolution« so verstehen, können Konservative (um mit Alex Kurtagić zu sprechen) allerdings »immer nur verlieren«. Es wäre also wohl ratsam, unseren Helden trotz des paradoxen Wortspiels mit der »revolutionären Bewahrung« aus dem gesamten Denkbild der Revolution herauszunehmen. Er ist in diesem Sinne schlicht und einfach kein politischer Denker und ist es auch nie gewesen. Was er jedoch gewesen ist, und zwar gerade und eigentlich in seiner konservativen Theoriephase: ein Korrektiv zum grassierenden politischen Denken und dessen Machtpraxis. Ein politischer Denker jedweder Couleur will das »gute Gewissen der eigenen Partei« metapolitisch aufmunitionieren, will, daß sein eigenes Lager den Kampf gewinnt. Kaltenbrunner war viel zu skeptisch, viel zu behutsam, viel zu tief davon überzeugt, daß der Kampf in Wirklichkeit auf einer anderen Ebene ausgetragen werden muß und historisch ausgetragen worden ist, nämlich auf der geistigen Ebene. Ich lese ihn als großen Vordenker eines geistigen Widerstands, viel weniger als einen Vordenker des politischen Konservatismus, für den Kaltenbrunners mannigfache Einwürfe, Richtigstellungen und geschichtliche Klärungen ein bitter nötiges Korrektiv sind.
In seinen »Zehn Geboten für Konservative« findet sich unter der Ziffer 4 ein Gedanke, der scheinbar die Einschätzung widerlegt, Kaltenbrunner sei der Vordenker eines geistigen und nicht politischen Widerstands: »Wisse: Konservativ ist heute, wer sich auf die Seite der Demokratie schlägt. Wer gegen die Arroganz selbsternannter Vögte und Vormünder kämpft, die vorgeben, die Demokratie zu erweitern, zu vertiefen und mit emanzipatorischem Inhalt zu erfüllen, in Wirklichkeit aber auf eine gnadenlose totalitäre Bürokratie und Parteidiktatur hinarbeiten.«
So ein Kaltenbrunner könnte heute beinahe zu den »Querdenkern« gezählt werden! Doch auch hier wieder: der schmerzhafte Abschied von der »Demokratie« ist innerlich bereits vollzogen, Kaltenbrunner weiß schon 1975, daß sie unaufhaltsam umgebaut wird in »gnadenlose totalitäre Bürokratie und Parteidiktatur«. Auf Demokratie im Gegensatz zur »Demokratisierung« zu setzen stellt ein retardierendes Moment dar. Es ist ebenjene »produktive und kulturstiftende wie bewahrende Hemmung«, durch die abschiedliches Denken und Wollen geprägt sind. Hemmung ist kein politisches Konzept, sondern ein geistiges Hilfsmittel zur Weltbewahrung.