Die Corona-Krise hat die Entwicklung aber potenziert. Daß hier nicht nur das Exempel Amazon hervorzuheben ist, sollte – neben anderem –die IfS-Studie Corona und Profit (Schnellroda 2021) verdeutlicht haben.
Norbert Häring, als Wirtschaftsjournalist für den Branchenführer Handelsblatt tätig, greift nun besondere Fälle auf und zieht in seinem Endspiel des Kapitalismus allgemeine Schlüsse.
Ein besonderer Fall ist die deutsche Autoindustrie: Die drei größten Konzerne schütteten mitten in der Pandemie rund sechs Milliarden Euro an ihre privaten Aktionäre aus, während sie sich vom Staat – also: vom Steuerzahler – Kurzarbeitergeld und Absatzhilfen auszahlen ließen. Naturgemäß sorgt eine solche Umverteilung von unten nach oben weniger für Protestwallungen als die restriktiven Maßnahmen, die noch letzte Details des Privatlebens tangieren.
Beides hängt aber miteinander zusammen: Die „Großen“ spielen nach Regeln, die sie selbst aufstellen, vermittelt über einen Staat, der zu ihrem Dienstleister umfunktioniert worden ist und von handelnden Eliten gesteuert wird, deren Eigeninteressen das Allgemeinwohl überlagern (auch dann, wenn sie es bigott anrufen). Häring zeigt in seiner dichten Analyse, wie Staat und Kapital die Ansprüche der Großindustrie als unantastbar darstellen.
Häring poltert dabei nie, sondern bleibt sachlich-fachlich am Gegenstand. Wenn er die Macht der Konzernlobbys an Beispielen deutlich macht; wenn er das Global-Leader-Programm der Davos-Kreise untersucht; wenn er die Mechanismen des Finanzsektors durchdringt, die immer größere Bereiche des Lebens ihrem Zugriff unterwerfen – dann leistet er dies ohne Schaum vor dem Mund. Ihm geht es um die Bewußtseinsbildung dafür, daß die oft einzeln kritisierten Problemfelder ein gemeinsames Fundament besitzen.
Eine seine Kernthesen lautet, daß in der zeitgenössischen Epoche des Digital- und Finanzkapitalismus die „wettbewerbliche Marktwirtschaft“ auf der Strecke bleibt. Großkapitalisten wie Peter Thiel (PayPal) deklarieren berauscht von ihrem Siegeszug: „Wettbewerb ist für Verlierer“. Denn es gibt in der Logik Thiels und seiner Mitstreiter zwei heutige Idealformen von Unternehmertypen: Die einen (meist kleinere Unternehmen), die in marktwirtschaftlicher Konkurrenz stehen und auf der Strecke bleiben können, und die anderen (das sind: Amazon, Apple & Co.), die Konkurrenz vermeiden und Monopole sichern. Häring verweist darauf, daß diese „Zweiteilung extrem klingen mag“, doch genüge es zu wissen, daß „Apple mehr wert ist als alle börsennotierten deutschen Unternehmen zusammen“. Diese Form der Marktmacht, und das zeigt Häring überzeugend, heble alte Vorstellungen von Souveränität und Demokratie aus.
Gibt es aber bei stabilisierten Monopolen und einer devoten Politikerkaste noch Hoffnung? Häring meint: Gesellschaftliche Dynamiken sind nicht vorhersehbar. Daher bleibe die Chance, daß die neue Ordnung, die durch den „Great Reset“ einen Höhepunkt der Entwicklung findet, überwunden werden kann. Es klingt an, daß Häring einem „Crash“ nicht nur Schlechtes zuschreibt. Ein solcher wäre für die Kapitaleliten ein Problem. Andere würden nur Schaden erleiden, „wenn das Kapital auf seine angestammten Rechte beharren kann, einschließlich der Gewohnheitsrechte, die in keinem Gesetz stehen“.
Dazu gehöre die bereitwillige Kostenübernahme für krisenbedrohte Kapitalisten durch den Steuerzahler. Die Geduld der steuergeplagten Mehrheit könne bei künftigen Turbulenzen der globalen Ökonomie motivieren, „zu einer echten sozialen Marktwirtschaft überzugehen“, die nur das regle, „was sich auf sozialverträgliche Weise nach dem Ausschlussprinzip regeln lässt“ und die die leistungsfeindliche Entkopplung von Arbeit und Vermögen überwindet.
Daß diese Transformation von modernem Kapitalismus zu einer wahren sozialen Marktwirtschaft nicht bei früheren Großkrisen eingeleitet worden sei (etwa im Zuge der letzten Finanzkrise), macht er nicht zuletzt daran fest, daß die Vorrechte des Kapitals durch unablässige Propaganda in den Alltagsverstand der Menschen als „normal“ eingesickert sind. So läßt sich mit Häring erklären, weshalb zwar Umfragen hierzulande Mehrheiten für eine Einhegung des Finanzsektors, für Gehaltsobergrenzen bei den Superreichen oder für eine angemessenere Steuerbelastung der Oberschicht ergeben, dies aber nicht in konkrete Politik übersetzt wird. Häring argumentiert grundsätzlich. „Die repräsentative Demokratie war schon immer ein Herrschaftsinstrument der Besitzenden“, deklariert er, und plädiert für die Rückerlangung der Souveränität durch basisdemokratische Prozesse und Subsidiarität.
Eines bleibt hier diffus: Wenn Häring konzediert, daß der Alltagsverstand durch kapitalistische Dauerberieselung vernebelt ist und die Menschen daher nicht aufbegehren – weshalb sollen dann direktdemokratische Elemente die Macht des Kapitals brechen? Immerhin verfügt diese über Einfluß auf Staats- wie Konzernpresse gleichermaßen; im Vorfeld von Volksabstimmungen würde sie diese politische Marktmacht einsetzen. Vielleicht aber legt Häring ja einen Anschlußband vor, der seine Logiklücken zu schließen vermag.
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Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen, Quadriga: Köln 2021. 382 S., 22 € – - hier bestellen
Umlautkombinat
> weshalb sollen dann direktdemokratische Elemente die Macht des Kapitals brechen?
Das sind ja nicht nur Volksabstimmungen, sondern Subsidiaritaet erfordert diese Dinge ja die gesamte Hierarchie entlang. Je naeher der Entscheidungshorizont ist, desto schwieriger wird es fuer Manipulation von aussen. Und wenn man sich mit etwas direkt beschaeftigt oder gar beschaeftigen muss, desto besser wird man auch darin.
Problem ist u.a. eine belastbare Skalierung, die das Ausbooten der unteren Schichten dieser Hierarchie angemessen erschwert, bedingt auch durch die - zumindest in relevantem Massstab - prinzipiell voellige Abwesenheit solcher Strukturen ueber auch historisch laengste Zeitraeume. Das kann nicht nur der gescholtene deutsche Michel nicht.
Ein interessantes Beispiel ist die Organisation von Volksentscheiden auf Laenderebene im Zusammenhang des Auskippens mit GEZ. Das ist naemlich moeglich, aber die Zahlen unter dem Link waren schon vor zwei Jahren nicht wesentlich anders. Und ein Land wuerde genuegen, um das ins Rollen zu bringen. Das muss man erst einmal durchbrechen. Die Telegramtechniken zur Spaziergangsorganisation waeren hier vielleicht einmal anders einsetzbar. Die gab es damals in der gegenwaertigen Form der Sensibilisierung auf ein politisches Thema noch nicht.