Die Proteste gegen die Corona-Politik lösen im rechten Lager immer noch verschiedenste Reaktionen aus, von Sympathie über Verunsicherung bis hin zu völliger Verblüffung. Es fällt schwer, das Phänomen dieser Protestbewegung in seiner Gesamtheit zu verstehen und einen entsprechenden Zugang zu finden. Knapp 25% sind aktuell unzufrieden mit den Maßnahmen in der Corona-Politik bzw. halten diese für zu weitgehend. Dies ist ein Zuwachs um 8% innerhalb der letzten Wochen.
Augenscheinlicher wird diese Unzufriedenheit schließlich immer montags in der gesamten Bundesrepublik. Woche für Woche sind hunderttausende Spaziergänger auf Deutschlands Straßen unterwegs, um ihrem Frust über Schikanemaßnahmen des Staates und drohender Impfpflicht ein Ventil zu geben. Viele rechte Akteure von Partei bis hin zum politischen Vorfeld sehen in dieser Protestbewegung eine große Chance. Gelingt es, aus den bisweilen recht diffusen Motivlagen einen politischen Widerstandsblock gegen den Great Reset und Großen Austausch zu formen? Können Partei und Vorfeld politisch-infrastrukturelle Ressourcen aus den Protesten ziehen?
Die Studienlage zu den politischen Einstellungsmustern und soziodemographischen Merkmalen der Maßnahmenkritiker ist aktuell noch etwas dünn. Die größeren demoskopischen Institute messen lediglich das prozentuale Verhältnis zwischen den Befürwortern und Kritikern. Dennoch gibt es an einzelnen Universitäten bereits Forschungsprojekte, die erste handfeste Daten über Online-Fragebögen und entsprechende Feldstudien auf den Demonstrationen in den letzten anderthalb Jahren gesammelt haben.
So haben Prof. Dr. Oliver Nachtwey und weitere Kollegen in einer größeren Online-Umfrage soziologische und politische Einstellungsmuster der Corona-Protestler in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht (mit Schwerpunkt auf die Bundesrepublik).
Was viele bereits vermuten, findet sich auch in der Studie wieder: Die Maßnahmenkritiker sind keineswegs ein homogener politischer Block. Anders als die Bürgerproteste der PEGIDA-Bewegung im Jahr 2014–2015, die aus einer locker zusammengehaltenen konservativ-rechten Melange aus Migrationskritikern zusammengesetzt waren, sind die Motivlagen und Standpunkte der Teilnehmer der Corona-Proteste deutlich diffuserer Natur.
Dies dürfte jedoch auch der Multidimensionalität der Folgen der Corona-Politik widerspiegeln: Vom Unternehmer, der sein Gewerbe nicht ausüben kann, über die Krankenschwester, die durch den Impfzwang ein Berufsausübungsverbot befürchtet, bis hin zu jenem Bürger, der die totalitäre Tendenz in der zunehmenden staatlichen Gängelungspolitik erkennt und eine Gefährdung der Grundrechte wahrnimmt.
Das Protestgeschehen ist volatil, dynamisch und äußerst heterogen und ob das rechte Lager noch auf ein erhebendes Momentum hoffen kann, an dem sich der Protest auch politisch kanalisieren läßt, muß aufgrund der harten Zahlen teilweise in Zweifel gezogen werden. Dennoch bleibt die Entwicklung dynamisch und während die Studien die Milieus Anfang 2021 gemessen haben, hat sich in den letzten Wochen höchstwahrscheinlich eine völlig neue Sozialstruktur gebildet.
Aber zunächst zu den Fakten.
Hinsichtlich der Geschlechterverteilung läßt sich überraschenderweise ein höherer Frauenanteil als Männeranteil feststellen. In zwei unterschiedlichen Forschungsprojekten wurde der Anteil jeweils mit ca. 60–65% im Verhältnis zu den Männern angegeben – deutlich mehr, als man trotz der sichtbar hohen Zahl oft noch sehr junger Frauen auf den Protesten vermutet hätte.
Noch deutlicher lassen sich Abweichungen feststellen bei Betrachtung der Schichtzugehörigkeiten und Bildungsabschlüsse. Alle hier zur Recherche verwendeten Studien weisen die große Schwäche auf, daß sie keine tiefergehende regionale Differenzierung und Spezifikation zwischen Ost- und Westdeutschland vornehmen. Der Großteil der Datenerhebungen erfolgte im Westen, schwerpunktmäßig in Baden-Württemberg und es ist sehr wohl möglich, daß im Osten der Republik deutlich andere Ergebnisse herauskämen.
Für Westdeutschland läßt sich konstatieren, daß die Coronademos kein Protestphänomen der klassischen Arbeiterschicht darstellen, sondern von Teilnehmern der oberen Mittelschicht mit Abitur oder akademischer Ausbildung dominiert werden. Ganze 66% ordnen sich in die Kategorie der oberen bzw. unteren Mittelschicht ein. Die Arbeiter oder prekären Milieus machen jedoch nur insgesamt etwas mehr als 10% aus.
Immerhin rechnet sich nur ein marginaler Teil zur Oberschicht. Ein Viertel der Demonstranten geht einer selbstständigen Tätigkeit nach und ist damit im Vergleich zum Bevölkerungsschnitt (9,6% Selbstständige) deutlich überrepräsentiert. Die unmittelbare Betroffenheit durch die Lockdowns spiegelt sich also auch im Protestgeschehen wider. Gleichzeitig scheinen Notfallmaßnahmen wie Kurzarbeitergeld und andere monetäre Brandlöschversuche die größte Wut abgefedert und die Regierung vor dem Schlimmsten bewahrt zu haben.
Die Revolte der Arbeiter und Angestellten blieb bisher aus. Die Selbstständigen, die sich durch den Bürokratiesumpf kämpfen mußten und durch die ausbleibenden Umsätze sich selbst kaum Gehälter aus den Betriebseinnahmen auszahlen konnten, scheinen jedoch deutlich frustrierter zu sein.
In einer Bertelsmann-Studie zu den Wertemilieus und ihren Einstellungsmustern zu Corona zeigt sich ebenfalls, daß die Kritiker der Maßnahmen sozioökonomisch in leicht höheren Einkommensklassen verortet und mental eher materialistisch orientiert sind.
In einer Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung wurde schließlich gezeigt, daß das Verständnis für die Corona-Proteste bei jenen am stärksten ausgeprägt ist, die durch die Krise wirtschaftliche Einbußen zu erdulden hatten.
Auch Leute, die ihre Kinder zuhause betreuen mußten, zeigen ein hohes Verständnis für die Proteste. Der innere Impuls der Leute folgt zunächst einmal relativ unpolitischen Einstellungen. Die Proteste sind also in erster Linie eine direkte Reaktion auf politisches Handeln der Regierung und nicht durch ein bestimmtes Framing oder proaktives Agenda-Setting eines Widerstandsakteurs geprägt.
Dies wird auch daran deutlich, daß fast die Hälfte der Demonstranten angibt, bisher noch nie in ihrem Leben eine Demonstration besucht zu haben. Es scheint ein unpolitisch bis leicht anpolitisiertes Milieu zu sein, welches durch Corona jedoch vollends politisiert wurde.
Bei den politischen Wahlabsichten und Parteipräferenzen neigt der Großteil der Demonstranten zu Parteien innerhalb des Spektrums der „Sonstigen“. Immerhin geben im Jahr 2021 27% die AfD als Wahlpräferenz an. Daß dieser Anteil absolut betrachtet scheinbar jedoch kein signifikantes Wachstumspotential der Partei abbildet, zeigen die stagnierenden Umfragewerte als auch die durchwachsenen Wahlergebnisse im Jahr 2021.
Viele Parteimitglieder und Funktionäre berichten auch in Gesprächen von kaum vorhandenen politischen Zugängen für Positionen der AfD. Die Partei betrachtete die Proteste zwar mit Wohlwollen, aber dennoch mit vorsichtigem Abstand, während in Österreich der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl sogar als Redner auf den Demonstrationen auftritt und von Woche zu Woche leicht steigende Umfragewerte verzeichnet.
Etwas paradox anmutend, aber für die bundesdeutsche Wählerschaft auch nicht allzu überraschend, ist folgende Beobachtung: Annähernd dasselbe Milieu, welches jetzt angibt, zu rund 27% AfD und zu 61% „Andere“ wählen zu wollen, gab an, bei der Bundestagswahl 2017 nur zu 15% AfD, dafür aber zu 23% die Grünen und zu immerhin 18% die Linkspartei gewählt zu haben.
Parteipolitisch scheinen viele Protestler sich vor Corona als klassische Altlinke verstanden zu haben, die vordergründig an die Grünen gebunden waren. Dies scheint vollends gekippt zu sein und die Grünen landen in den heutigen Parteipräferenzen bei lediglich einem Prozent. Absolut betrachtet, dürfte dieser Exodus für die Grünen aber verkraftbar sein.
Bemerkenswert ist dieser Fakt dennoch, da die Stärke der AfD und der Aufstieg der Grünen vor allem durch den gegenseitigen ideologischen Antagonismus zwischen Partikularisten und Kosmopoliten potenziert wird. Zumindest im politischen Mikrokosmos der Corona-Maßnahmenkritiker scheint sich die AfD durchgesetzt zu haben.
Ob hier die Begriffsfolie der „Querfront“ paßt, kann zumindest als offene Frage in den Raum gestellt werden. Jedenfalls schöpft die AfD ihre Anhänger innerhalb der Querdenker und Maßnahmenkritiker zu einem erheblichen Teil aus ideologisch konträren Flügeln des politischen Spektrums.
Betrachten wir die Einstellungsmuster, zeigt sich, daß bei den Fragen, bei denen AfD-Wähler recht eindeutige Antworten geben würden, die Antworten des befragten Milieus deutlich abweichen und das Mobilisierungspotential der Corona-Proteste gegen eine Politik des Großen Austausches doch recht limitiert sein dürfte.
Bei der Aussage »Es wird zu viel Rücksicht auf Minderheiten in Deutschland genommen« antwortet eine knappe Mehrheit mit »Stimme nicht zu« bzw. »Stimme überhaupt nicht zu«.
Noch deutlicher wird es bei der Frage nach der Islamisierung und dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein. Hier sagen 56%, daß sie der Aussage »Durch die vielen Muslime fühle ich mich manchmal fremd im eigenen Land« nicht zustimmen würden.
Die Studienautoren haben einige Aussagen nochmals mit der Leipziger Autoritarismus-Studie abgeglichen, die ohne Frage eine äußerst fragwürdige Methodik und Gewichtung ihrer Ergebnisse vornimmt, aber hier als Indikator zeigt, daß vor allem in migrationskritischen Aussagen das Milieu der Corona-Maßnahmenkritiker sogar linker und „offener“ eingestellt ist als der gesellschaftliche Durchschnitt. Auch das offizielle Framing des Mainstreams zum Klimawandel wird von den Protestlern mehrheitlich mitgetragen.
Zum Verständnis ist es jedoch wichtig, daß die politische Selbsteinordnung sowohl der aktiven Protestteilnehmer als auch jener Leute, die Verständnis für die Proteste äußern, eher »mittig« ist und in der politischen Gegenüberstellung von Links-Rechts das Übergewicht auf der rechten Seite liegt.
Die Studie des Berliner Instituts für Sozialforschung hat schließlich drei Vergleichsgrößen in ihre Studie eingebaut, die vor allem die Entwicklungen im Zeitverlauf zwischen Juni/Juli 2020 und November 2020 nachzeichnet, wonach die AfD innerhalb eines Jahres fast 10% an Zustimmung unter den Befürwortern der Proteste hinzugewonnen hat.
Für eine präzise statistische Auswertung dürfte die Studie aus dem März 2021 jedoch nicht geeignet sein und kann lediglich nur eine Tendenz abbilden.
Auch wenn es nicht unmittelbar zu einer Übernahme der AfD-Themenkomplexe kommt, so scheint es jedoch zumindest im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt eine höhere Akzeptanz gegenüber der AfD als Gesamtpartei zu geben.
40% halten die AfD für eine normale Partei wie jede andere. Fast 28% sind in der Frage unschlüssig. Wer sich die monatlichen INSA-Potentialanalysen der jeweiligen Parteien anschaut wird sehen, daß die Zustimmung fundamentale Ablehnung der AfD im Maßnahmenkritikermilieu deutlich geringer ausfällt.
Inzwischen dürften die Proteste einen völlig neuen Charakter erhalten haben. Insbesondere die dezentrale Mobilisierung ohne zentrale Koordinierung einer Führungsfigur oder Organisation und auch der offensichtliche quantitative Anstieg der Teilnehmer verdeutlicht, daß der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen im Sommer 2020 ein anderes Phänomen war als jetzt im Januar/Februar 2022. Ob sich jedoch auch das politische Profil grundsätzlich nach rechts verschoben hat, wird noch zu untersuchen sein.
Anhand der Datenlage aus den bekanntesten vorliegenden Studien bestätigt sich einerseits die Vermutung eines dynamischen und diffusen Protestphänomens, welches von einer einkommensstärkeren Mittelschicht mit hohem Bildungsgrad und überdurchschnittlichem Anteil an Selbstständigen getragen wird.
Die Teilnehmer und Befürworter bewegen sich stärker in einem altlinken-mittigen Spektrum, das von Skepsis, Mißtrauen und Ablehnung gegenüber den Mainstreammedien geprägt ist, aber im thematischen Hauptstrom des rechten Lagers, der Migrationskritik, weiter links positioniert ist.
Beschreibungen wie etwa »Hippiekarneval« (Schick) oder »New-Age-Esoterikanhängerschaft« (Sellner) dürften in der Gesamtbetrachtung zu kurz greifen, wenngleich sie auch durch eigene Eindrücke auf den Demonstrationen einen wahren Kern haben.
Wir sehen uns mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert und müssen daher den politischen Zugangsweg zu diesen Menschen überdenken. Das heißt:
–> Es darf das Potential der Corona-Proteste für das rechte Lager nicht überschätzt (demoskopisch und inhaltlich), aber auch nicht gleichgültig liegengelassen werden. Nüchterne Faktenanalyse und daran angepaßte Zielgruppenansprache über den allgemeinen Verdruß und die politische Unzufriedenheit ist geboten. Die wenigsten Demonstrationsteilnehmer warten offensichtlich auf den AfD-Flyer, der ihnen in die Hand gedrückt wird. Auch hier will ich aber nochmals die Sonderrolle der Proteste in Ostdeutschland betonen, auf die ich aber mangels empirischer Datenlage nicht weiter eingehen kann. Die Maßnahmenkritiker sind also für eine rechte Partei und ihr Vorfeld politisch ansprechbar. Jedoch nicht über die konventionellen Wege der Agitation und Überzeugungsarbeit.
–> Außerdem ist damit zu rechnen, daß die Protestwellen ob mit oder ohne Impfpflicht in der BRD im Frühjahr/Sommer wieder auslaufen können. Das bedeutet vor allem für die AfD und das politische Vorfeld, lokale Widerstandsplattformen zu schaffen, die den Druck aufrechterhalten können und das vermutlich irreversible Vertrauen der Menschen in die etablierte Politik langfristig und nachhaltig in oppositionellen Widerstand transformiert. Vielleicht muß das rechte Lager die Corona-Proteste tatsächlich zum Anlaß nehmen und weltanschauliche Gewissheiten im Abgleich mit den eigenen Zielgruppen überdenken und Ambivalenzen in möglichen Zweckbündnissen hinnehmen. Sorgen auch wir dafür, daß die Zeiten spannend bleiben!
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RMH
Das, was es für die AfD im Zusammenhang mit den Corona Protesten zu gewinnen gibt, ist die Steigerung der Wahrnehmung der AfD als normale, wählbare Partei - mehr nicht. Alleine aus dem "Framing" als Unberührbare ausbrechen zu können, ist ein riesiger Erfolg. Sich jetzt irgendwie zwanghaft auf die "Bewegung" drauf setzen zu wollen oder den eigenen Protest direkt in zählbare Wählerstimmen kanalisieren zu wollen, wirkt eben "zwanghaft" und schreckt bei dem geschilderten Milieu dieses ab. Insofern ist es aus meiner Sicht für eine AfD vollkommen ausreichend, wenn sie vermittelt, wir sind bei diesem Thema auf Eurer Seite, wir bieten auch ggf. Hilfe bei der Anmeldung von Versammlungen etc. an. Zu den mitteldeutschen Besonderheiten wäre noch die Rolle der "Freien Sachsen" zu klären, die mit dem sächsischen Wappen und den Landesfarben ein starkes "Branding" haben und die über ihre Telegram Kanäle sehr aktiv sind. Dazu wird es wohl keine Daten geben. Für mich aber - als Außenstehender - scheint das ein starkes Comeback ehem. NPD Kader zu sein. Die AfD kommt nicht mehr umhin, damit irgendwie umzugehen, zumal man bei den anstehenden Kommunalwahlen hier nun einen Konkurrenten auf eigenem Gebiet heranwachsen sieht.