Die Masse der Spaziergangsdemonstranten versteht sich nicht als rechts, ja verwahrt sich teils unaufgeregt, teils energisch gegen eine entsprechende Etikettierung. Doch sind das Selbstverständnis der Akteure und die objektive, politisch-geschichtliche Signifikanz ihres Handelns und Wirkens seit jeher zwei verschiedene Paar Schuhe.
Vieles spricht dafür, dass die Spaziergangsdemonstrationen in der politischen Szenerie der Bundesrepublik eine Kraftwirkung nach rechts entfalten, auch wenn die Spaziergänger selbst eine derartige Zuschreibung großenteils von sich weisen.
Die politische Szenerie der Bundesrepublik ist in den vergangenen Jahren zunehmend dadurch bestimmt, dass eine kollektive Sichtbarkeit im öffentlich-politischen Raum nur noch dann für statthaft (für „anständig“) erachtet wird, wenn sie explizit gegen das Eigene mobilisiert und autoaggressive Züge aufweist. Dies gilt für die jugendlichen Aktivisten von Fridays for Future, die ihre Eltern und Großeltern zu „Klimasündern“ erklären, dazu aufrufen, die eigenen materiellen Ansprüche zu reduzieren und auf geradezu wollüstige Weise eine besondere „deutsche Schuld an der Klimakrise“ (Greta Thunberg) insinuieren. Dies gilt ferner für die zur politischen Folklore der Bundesrepublik gehörenden Demonstrationen, Menschenketten oder Konzerte gegen rechts, welche die Deutschen als das ewige, von untergründig schlummernder Bösartigkeit durchzogene Tätervolk erscheinen lassen, dem jederzeit mit Misstrauen zu begegnen ist und das die ihm beigebrachten Schläge demütig hinzunehmen hat; dies gilt schließlich für die Black-Lives-Matter-Proteste, die die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft eines strukturellen, von der Geisteshaltung des je einzelnen entkoppelten und damit tendenziell unentrinnbaren Rassismus bezichtigen.
Aus diesem skrupulös abgezirkelten Bereich des politisch Statthaften und öffentlich Darstellbaren brechen die Spaziergangsdemonstrationen aus, indem sie sich erkühnen, eigene Rechte geltend zu machen, eigene Interessen zu vertreten und eigene Ansprüche zu formulieren. Der bloße Umstand, dass sie (weitgehend als Deutsche) den öffentlichen Raum okkupieren, ohne sich selbst zu bezichtigen und gegen sich selbst zu agitieren, setzt sie in prinzipielle Opposition zu dem hegemonial etablierten und weitgehend für einzig legitim erachteten Modus politischer Praxis.
Statt universalistische Agenden zu verfolgen, wie die linken Groß- und Weltprojekte sie vertreten, fordern die Spaziergangsdemonstranten institutionell gesicherte Freiheitsrechte in einem territorial begrenzten, bürgerschaftlich verfaßten Bezugsrahmen ein. Statt die politische Initiative supranationalen Organisationen und superreichen Weltmagnaten zu überlassen, die unser aller Gesundheit und Sicherheit gewährleisten sollen, nehmen sie die öffentlichen Angelegenheiten als selbstbewußte Bürger in die eigene Hand.
Auffällig ist dabei namentlich die Verbundenheit der Spaziergangsdemonstranten mit dem Ort, die sich darin manifestiert, daß sie nicht zentral in Berlin oder gar in Brüssel auf die Straße gehen, sondern in ihrer Stadt, ihrer Gemeinde, ihrem Dorf.
Indem sie solchermaßen ihre Anhänglichkeit an den Ort demonstrieren, stellen sie sich der linken universalistischen Vorstellung eines ortlosen, von Tradition und Herkunft abgekoppelten Individuums dezidiert entgegen, das nirgends in der Welt eingewurzelt ist. Woche für Woche erobern sich die Spaziergänger ihre eigene Lebensumgebung zurück, nutzen sie ihre Ortskenntnis, ihre Vertrautheit mit den Straßen und Plätzen ihrer Stadt, um sich dem Zugriff der staatlichen Gewalten zu entziehen; gelingt es der Polizei gleichwohl, einen Teil der Spaziergänger einzukesseln, singen sie in Freiberg (Sachsen) widerborstig-eigensinnig das Steigerlied und stellen sich damit in die stolze geschichtliche Tradition der alten Bergbaustadt.
Überhaupt zeichnen sich die Spaziergangsdemonstrationen durch einen Sinn für Kontinuität bzw. Geschichte aus, die der globalistischen linken Agenda prinzipiell zuwiderläuft. Häufig ist zu hören, man spaziere nicht nur für sich selbst und die eigene Freiheit, sondern auch für die „unserer Kinder und Enkel“. So stellen sich die Spaziergangsdemonstranten in eine Kontinuität, sprechen sie sich eine Vergangenheit und eine Zukunft zu – in grundsätzlicher Verschiedenheit von jenem linken, atomisierten, hedonistisch-kinderlosen Subjekt, das sich im persönlichen Lebensgenuß erschöpft und eine geschichtslos punktförmige Existenz vertritt. Der Spaziergangsdemonstrant ist nicht ein abstrakt bestimmungsloses, sondern ein dezidiert konkretes Wesen, das in Zusammenhängen steht.
Den globalen biotechnischen Optimierungs- und Perfektionierungsangeboten skeptisch begegnend, ist er geneigt, die natürliche Unvollkommenheit des Menschen, die Schicksalhaftigkeit und Verletzlichkeit seiner Existenz zu ertragen, statt sich nach linker Manier von ihr emanzipieren zu wollen.
Wohl versteht sich die große Masse der Spaziergangsdemonstranten explizit nicht als rechts; wohl ist vielerorts gut esoterisch von Achtsamkeit, Schwarmintelligenz oder Menschheitsfamilie die Rede; doch indem sie sich (gegen die globalistische Geld- und Machtelite) auf die institutionell gesicherten Freiheitsgarantien eines bürgerschaftlich verfaßten Staates berufen, welchen die universalistische Linke für entbehrlich erklärt; indem sie die heimatliche Verbundenheit mit dem Ort herausstreichen, die die postmoderne Linke als Ausdruck einer geistigen Provinzialität verachtet; und indem sie den Kontinuitätsgedanken zulassen, Vergangenheit und Zukunft anerkennen und in Generationen denken, positionieren sich die Spaziergangsdemonstranten gegen die globale liquide Gesellschaft und entfalten eine strukturelle, immanente Ziehkraft nach rechts.
Nach denjenigen Teilen des Volkes, die sich 2015 in Opposition zu Merkels offenen Grenzen dem herrschenden Politikbetrieb entfremdeten, bricht nun mit den Spaziergangsdemonstranten ein weiteres Segment der deutschen Gesellschaft aus dem säuberlich eingezäunten und minutiös formatierten Konsensus der Rechtgläubigkeit aus. Wohl ist es wahr, daß die geistig-kulturelle, medial gesicherte Hegemonie der linken, universalistischen Agenda vorerst weiter besteht; doch ist die Ungeduld jener, die enttäuscht darüber sind, daß wenige Jahre nach der Zeitenwende von 2015 noch keine umfassende Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse eingetreten ist, zuletzt der Ausdruck eines mangelnden Verständnisses dafür, wie geschichtliche Prozesse und Umwälzungen sich vollziehen.
Wer den Anspruch hat, Geschichte zu gestalten, braucht vor allen anderen Dingen eines: einen langen Atem. So lagen zwischen der Societé des Égaux des François Noël Babeuf und dem Aufstand der Pariser Kommune 73 Jahre; zwischen der Urschrift des russischen Sozialismus (Alexander Herzens Wer ist schuld) und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 70 Jahre; und zwischen Fichtes Reden an die Deutsche Nation und Bismarcks Gründung des Zweiten Reiches 63 Jahre.
Der Umstand, daß die linke Öffentlichkeit und die antifaschistische Szene dieser Tage den Spaziergangsdemonstrationen mit aller Entschlossenheit entgegentreten und mit harter Hand begegnen, ist durchaus nicht Ausdruck einer bizarren Fehleinschätzung, wie viele der Spaziergänger meinen; vielmehr liegen die unduldsamen Hüter der Gesinnungshygiene instinktiv richtig, sind ihre hysterischen Reaktionen ein Reflex darauf, daß sie die sublimen tektonischen Verschiebungen registrieren, die aufziehenden Gefahren wittern und spüren, dass hier etwas ins Kippen gerät.
Noch ist die postmoderne linke Hegemonie in Deutschland funktional intakt und auf die Schnelle nicht in ihren Grundfesten zu erschüttern; doch zerbröselt sie an jedem Großkampftag der deutschen Spaziergangsbewegung ein kleines bißchen mehr.
Makel
Treffend herausgearbeitet, warum der Gegner so reagiert, ja reagieren muss. Besteht hier schon die Möglichkeit eines "Kippunktes"?