Der Name „Ukraine“ entstand nach der Eroberung der südwestlichen Rus (Rußlands alter Name) durch die Polen 1569 und hatte ursprünglich die rein geographische Bedeutung von „Randgebiet, Militärgrenze“. Es handelte sich also um einen Teil Rußlands (Kleinrußland), der als Grenzzone zwischen Großrußland und Polen (eine Weile auch Österreich-Ungarn) geographisch auch den Namen Ukraine trug.
Die Geschichte der Ukraine, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert und zunehmend bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, ist die Geschichte der Verdrängung des geographischen Faktors durch den nationalen. Mit anderen Worten: Es ist die Geschichte der leiblichen Brüder, von denen der jüngere sich nicht nur seiner Verwandtschaft nicht erinnern will, sondern auch nach anderen Verwandtschaften lechzt.
Erst die russische Revolution von 1917 zog einen Schlußstrich unter die Sache. Was ursprünglich lediglich ein Grenzgebiet, eine Mark war, ist schließlich zur Nation, dann zum Staat geworden. Es war dies ein weiteres Paradox bolschewistisch-marxistischer Ideologie: Sie predigten Internationalismus, brachten aber künstliche Nationen zur Welt.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte faßt das treffend zusammen. Seit Peter dem Großen besteht das Land aus Gouvernements. Es waren 50 unter Katharina II., und 78 vor der Revolution 1917. Das Imperium, das nach der Revolution zerfiel, wurde nach dem Bürgerkrieg wiederhergestellt, diesmal aber nicht mehr zentralistisch, sondern föderativ. So entstand die UdSSR (Ende 1922), ein eigenartiger Verschnitt aus ehemaligen Gouvernements, von denen die meisten hinfort „Republiken“ hießen.
Das erinnerte an eine Zauberwelt im Stil von «Tausend und eine Nacht». Im Handumdrehen sind die vormaligen Nomadenstämme und die längst aus der Geschichte herausgefallenen und ihrem zeitlos gegenwärtigen Fellachentum auf Gedeih und Verlust ausgelieferten Völker Nationen und Staaten geworden – mit allen Attributen von Staatlichkeit und (nominell allerdings) Macht, inklusive Hymne, Wappen, Auswärtigem Amt, Akademie, Universität, Operntheater, kurzum, dem ganzen Zubehör eines hochzivilisierten Landes.
Die bolschewistischen Enthusiasten hätten sich nicht im Traum einfallen lassen, daß sich diese aus dem Nichts hergeholten Gespenster eines Tages als Zeitbomben erweisen würden. Denn unter dem dicken Makeup von Brüderlichkeit und Internationalismus steckte zügelloser Chauvinismus, der geduldig auf seine Stunde wartete.
Die Stunde schlug mit dem Zerfall des Ganzen, ja sogar ein klein wenig früher, nachdem das Ungeheuer Anzeichen von Schwäche und Altersverfall zu zeigen begann. Hie und da brachen Krisenherde, bewaffnete Konflikte und Zusammenstöße aus, die einen riesigen Bürgerkrieg zu entfesseln drohten.
Putin, der 2005 den Zerfall der UdSSR «die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» genannt hat, sollte hinzufügen, daß die Ursache der Katastrophe keine äußere, sondern eine immanente war: von Chruschtschow, der Stalins Terrorstaat zaghaft zu demontieren begann, bis zu Gorbatschow und Jelzin, die ihn einfach abgeschafft haben.
Indes: Der Terrorstaat war der einzige modus vivendi und existendi dieses deklarierten Schlaraffenlandes, sodaß Putins Urteil unangreifbar (wenn auch logisch paradox bis unmöglich) wäre, hätte er gleichzeitig gesagt, daß es auch eine weitere geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen wäre, wenn die UdSSR fortgedauert hätte.
Von diesen beiden Katastrophen wählte der Zufall heißende Gott die eine. Bezeichnend, daß zur existentiellen Triebkraft der «Parade der Souveränitäten» aller ehemaliger Provinzen, die sich über Nacht in Republiken verwandelt hatten, Rußlandhaß geworden ist. Nicht so sehr ein Sowjethaß, sondern eben ein urwüchsiger Russenhaß, der sich aufgrund der sowjetischen Erfahrung lediglich verschärft hatte.
Es ist hier nicht der Ort, Ursachen und Gründe dieses Phänomens zu eruieren. Sicher ist aber, daß unter allen Trümpfen der westlichen Ost-Politik dieser (und nicht nur in der Ukraine) wohl der wirksamste ist. Es gemahnte an mittelalterliche Flagellantenzüge oder Veitstänze: Regelmäßig häuften sich – im Freien, auf den Plätzen, und schon überall, selbst in den U‑Bahn-Zügen – Menschenmengen an, um – alt und jung, Männlein und Weiblein – unter ständigem Skandieren der Losung: «Wer nicht hüpft, der ist ein Moskal» („Moskal“ ist die in der Ukraine geläufige abwertende Bezeichnung der Russen), stundenlang zu hüpfen.
Sehr charakteristisch nahm sich dabei auch die sträfliche Passivität und Trägheit der Kremlherren (einschließlich Putins) aus, die, angesichts dieser Wutanfälle der Russophobie keinen Finger krumm machten, um ihnen etwas entgegenzusetzen. Während westliche Förderprogramme zusammen mit diversen Open-Society-Foundations Öl ins Feuer gossen und den Bruderhaß bis zum Gehtnichtmehr potenzierten, lieferte Rußland der Ukraine täglich Öl und Gas weit unter Marktpreis.
Niemand schien des drohenden Gewitters gewahr zu werden, bis es dann plötzlich in alle Richtungen knallte. Was de facto eine vom Westen organisierte und durchgeführte Machtergreifung war unter dem Namen Euromaidan, wurde später, im Duktus des Postfaktischen, «Revolution der Würde» genannt. Unter «Würde» waren höchstwahrscheinlich die mit Steinen und brennenden Decken beworfenen und mit Eisenstäben wie auch Baseballschlägern geschlagenen Polizisten zu verstehen, denen «von oben» streng verboten war, von ihren Waffe Gebrauch zu machen.
Und so torkelten sie wie lebende Fackeln umher, unter dem Gejohle des tobenden Mobs und zur Ehre der «Revolution der Würde», wie auch jene rund 50 (oder mehr) Anti-Maidan-Aktivisten, die am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus in Odessa bei lebendigem Leib verbrannt wurden.
Gleich nach dem prowestlichen Umsturz in Kiew brach der prorussische Aufstand im Donbass (Ostukraine) los. Es ergab sich eine typische Pattsituation: Wie jene da nicht mit den Russen wollen, wollen diese hier nicht mit jenen. Alles innerhalb eines Volkes, dessen westlicher (galizischer) und östlicher Teil nicht nur absolut inkompatibel, sondern auch extrem aggressiv und gehässig gegeneinander. Dazu kam auch die «Krim-Affäre»: die Wiedervereinigung durch Volksabstimmung (nach russischer Version) oder die Annexion (in westlicher Fassung) der Halbinsel Krim mit Russland, die bis 1954 russisch war und im gleichen Jahr von Chruschtschow an die Ukraine «verschenkt» wurde.
Zusammenfassend: Die USA samt ihren Europa-Trabanten haben allen Grund, mit diesem Pulverfaß zufrieden zu sein, sind sie doch ihrem Wunschziel, die Ukraine von Rußland loszulösen, so nah wie nie zuvor. Vor fast 25 Jahren hat Zbigniew Brzeziński, Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, folgende Zeilen geschrieben, die fürderhin zum Knotenpunkt der ganzen amerikanischen Russland-Politik geworden sind:
Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Rußland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Rußland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Rußland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht.
Nun endlich ist der Moment gekommen, wo sie alle Trümpfe in der Hand zu haben scheinen. Besser als bei diesem Zusammentreffen der Umstände hätte es nicht laufen können. Es bleibt nur, ein Streichholz anzuzünden.
Eigentlich hätte das schon zu Obamas Zeit losgehen müssen. Das Tempo der Eskalation war schon recht hoch. Dann aber kam Trump und hat – zwar plump und zaghaft, dafür aber unmißverständlich –, einer weiteren Eskalation einen Riegel vorgeschoben.
Die Russen wiederum nehmen nach wie vor eine beklemmend abwartende Haltung ein. Tausende Freiwillige ziehen in den Donbass, wo die beiden Rebellenstädte (Donezk und Lugansk) von der regulären ukrainischen Armee Tag und Nacht beschossen, ja selbst aus der Luft bombardiert werden. Irgendeine Militärpräsenz regulärer russischer Truppen auf diesem Territorium war und bleibt eine Desinformation (fake news). Inzwischen scheint Putins tiefsinnig scheinende Unentschlossenheit fatal. Es ist nun schon gute acht Jahre her, seit der buddhistische Kremlherr keinen Finger krumm macht, um hier etwas zu ändern. Die Situation ist haargenau dieselbe wie im Fall der Krim. Nur: Einmal wurde alles getan, das andere Mal so gut wie nichts.
Jetzt scheint der „Sleepy Joe“ Biden oder, genauer, seine Drahtzieher, unter deren Obhut er schläft, die versäumte Zeit nachzuholen. Der Hahn ist gespannt. Nur abdrücken muß man noch.
(Verfaßt am 16. Februar 2022 – Fortsetzung folgt in Wirklichkeit.)
Maiordomus
Der zweite Teil überzeugt stärker als der erste Teil. Was die historischen Dimensionen Polen betreffend anbelangt, sind dieselben nicht etwa nur 300 Jahre, sondern weit über 450 Jahre zurückliegend, wie Herr Swassjan bedenkenswert ausführt. Dass sich indes Polen der Nato angeschlossen hat, steht vor einem ganz anderen Hintergrund als dies beim Wunsch der Ukraine der Fall ist.