Ortung und Positionierung werden so einfacher und eindeutiger möglich: Impfbefürworter oder ‑gegner, russischer Doppeladler oder Blau-Gelb. Man gesellt sich jeweils einer der sich getrennt gegenüberstehenden Gruppen auf dem großen Pausenhof zu und blafft die Gegenseite an. Wir – und nicht sie!
Ich selbst wuchs in einer dualen Welt auf. Sie war nicht gemütlich, aber vergleichsweise simpel.
Polarisierung erleichtert nicht nur die Festlegung des Standortes, sondern steigert das eigene Kraftgefühl. Kein Abwägen mehr, kein Einerseits-Andererseits, keine Dialektik, kein Differenzieren, sondern Gläubigkeit gegenüber dem einen, Ablehnung, gar Verteufeln des anderen. Zwei-Seiten-Totalitarismus.
Verursacht durch Prägungen, durch Autoritäten, die man bewundert, durch alte Geschichten, offene Rechnungen und Traumata, mit denen man ringt oder an denen man leidet – und nie erwachsen aus sicherem Wissen, das der Simplizität des Entweder-Oder doch stets entgegensteht.
Daß bloßes Meinen dem qualifizierten Urteilen längst gleichgestellt ist, erzieht die Schule bereits den Heranwachsenden an; die Talk-Show-Kultur und das Netz zelebrieren es. Meinungsfreiheit!
Die suggeriert, jeder hat auf seine Weise Recht und soll gehört werden; alles andere ist Diskriminierung. Nur stellt der durchideologisierte Staat dann doch behördlich klar, was angeblich “grundvereinbart” vertretbar zu sein hat und offiziell verkündet und nachgesprochen werden muß. Deshalb fällt die wichtige Trennung zwischen Meldung und Kommentar gerade gegenwärtig in den staatsnahen Medien wieder mal weg: Jede Nachricht ist in sich bereits politisches Credo.
Als selbsterklärte Vollstreckerin der Aufklärung will namentlich die Linke nicht nur permanent erziehen und auf penetrante Weise umerziehen, sondern entwickelt überhaupt einen hypertrophen Moralismus, den sie im Sinne ihres Feindbildes erst als Kampf‑, nunmehr aber, unmittelbar an der Macht, als Herrschaftsmittel einsetzt, womit sie ganz bei Carl Schmitts “Begriff des Politischen” angekommen ist, bei dem sie unbewußt schon immer war – erst recht, wenn sie regierte.
Die von der geschichtlichen Erfahrung sattsam bestätigte These, daß Politik dort, wo sie Machtpolitik wird, allein Interessen und eben nicht moralischen Normen und Begriffen folgt, gilt der Linken als schlimme Provokation, eben weil sie genau das spätestens seit Lenin weiß.
Dualistische und dabei moralistisch akzentuierte Einordnungen finden sowohl gegenüber dem Impfproblem als auch mit Blick auf die Ukraine-Krise statt. Zur Positionierung meinen gerade die lauten Agitatoren keines genaueren geschichtlichen und vor allem geistesgeschichtlichen Wissens zu Osteuropa und Rußland zu bedürfen, ebensowenig wie es Impfbefürworter oder ‑gegnern um mikrobiologische oder biochemische Expertise geht. Man lotet einfach so lange im Netz, bis sich ein Link findet, der sich bündig in der eigenen Konstruktion verbauen lässt.
Was zählt, ist das digitalisierte Wort, das man in Ermangelung eigener Argumentationsbefähigung als Autoritätsbeweis herzeigen kann. Wer viel verlinkt, traut kaum der eigenen Vernunft oder hat selbst zu wenig beizutragen. Überhaupt bilden sich hermetische Chat-Gruppen, in denen diskursfrei nur ganz fundamentalistisch das eigene Glaubensbekenntnis zu gelten hat und gerade nicht bezweifelt werden darf. Wer zweifelt oder gar nachdenken möchte, wird entfreundet und entfernt.
Die naseweisen Sniper des Netz-Kommentariats verbergen ihr Gesicht hinter Pseudonymen und beschießen sich mit Bekenntnissen, gerade nicht, um den anderen zu überzeugen oder dessen Sichtweise zu bereichern, sondern um ihn zu treffen. Die Anonymität verstärkt die Unflätigkeit:
Man blökt aus dem Dunkel ins Dunkle hinein. Geht plötzlich das Licht an, herrscht das verzagte Schweigen der Peinlichkeit – wie bei einer Begegnung barfuß in der Kanalisation.
Ginge es jedoch tatsächlich um Urteile, brauchte es über einen gewissen Anstand hinaus nicht allein ein Minimum an Wissen, sondern vor allem den Abstand, die Leerstelle, aus der heraus ruhige, freie, aber kritische Betrachtung erst möglich wird, um in Irrsal und Wirrsal überhaupt etwas erkennen zu können.
Das Erkannte wiederum will geprüft sein. Also hinterfragen, sich selbst mißtrauen, gerade dem Gegner zuhören. Dazu gehört Demut, im Vermögen, davon auszugehen, nicht per se im Recht zu sein, sondern skeptisch über Komplexität und Kontingenz nachsinnen und die Möglichkeit des eigenen Irrtums oder einfach die Leerstelle des Blinden Flecks bedenken zu müssen.
Die Unberechenbarkeit der Welt ist ein Kennzeichen der ihr vom Schöpfer eingeschriebenen Freiheit, die wir mitunter als tragisch, mindestens aber dramatisch empfinden. Es läßt sich die Vergangenheit kaum ausleuchten und letztgültig verstehen und nach vorn nicht alles berechnen und sicher prognostizieren. Das schließt neben dem vermeintlich Lichten und Guten auch das Geheimnisvolle, Dunkle und Dämonische ein, mindestens aber das Risiko, in dem wir uns doch immer recht verloren ausnehmen. Der Frieden ist das Unwahrscheinliche, der Zwist die Regel.
Jörg Baberowski, erstklassiger Osteuropa-Kenner und Professor an der Humboldt-Universität, in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung (01. März 2022) zu Rußland-Ukraine-Konflikt:
“Der Krieg ist wie das Wunder in der Theologie. Alle glauben an das immerwährende Recht und daran, von ihm für alle Zeit geschützt zu sein, und dann kommt plötzlich Unvorhergesehenes, Unerhörtes, Verstörendes in die Welt, und bald schon gelangt auch dem letzten Realitätsverweigerer zu Bewußtsein, daß die Welt ein anderer Ort ist, als er sich ihn vorgestellt hat.”
Man lebe besser weiter mit der Gewißheit absoluter Ungewißheit, erwarte also das Unvorhergesehene, das Unerhörte, das Verstörende. Die größte Gefahr für die Welt mag gerade von jenen ausgehen, die laut bekennen, die Welt retten zu wollen, und dabei meinen, dies zu können, wenn man sie nur machen lasse.
Als zwischen dem eigenen bloßen Meinen und der Veröffentlichung stets zweifelhafter und fragwürdiger Gedanken noch Redakteure wachten, die kraft erworbener Qualifikation selektiv entschieden, was auf Gutenbergsche Weise den Weg in die Welt und zu den Massen findet, wurde zwar bereits genug gefährlicher Stuß verbreitet, dies jedoch vorgeprüft und kanalisiert, dabei häufiger als gegenwärtig höflich und respektvoll.
Heute liefert jeder Print, der nur eine Tastatur oder ein Smartphone bedienen kann. Das demokratisiere die Auffassungen, frohlockten die Kulturmarxisten, gingen aber selbst in der Inflation des publizierten Gezeters unter. Sicher gegenüber dem, was sie ersinnt, ist sich übrigens vor allem – die Dummheit. Sie ist stets fest von sich überzeugt.
Noch einmal mit Blick auf die große Politik:
In seiner Kriegserklärung warf Putin dem Westen vor, „unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen.” – Der politische Westen wäre überhaupt nicht bereit, über diese Wahrnehmung des Ostens überhaupt mal nachzudenken!
Jeder erklärt und ermächtigt sich zum Spezialisten der eigenen Sache. So, wie am Rande des Fußballplatzes die Büchsenbier-Trinker besser Bescheid wissen als Schiedsrichter oder Trainer, sind sich viele absolut sicher, sie sähen schon klar, was zu tun sei, ob nun als deutscher Gesundheitsminister, ob in der russischen oder ukrainischen Regierung, ob im Sicherheitsrat oder überhaupt irgendwo am Drücker.
Hart zur Sache gehen! Allzu gern nähme man eine Verantwortung für andere wahr, während man jedoch oft genug schon Mühe hat, genau die auch nur für sich selbst übernehmen zu können.
Man möchte das Weltgericht lenken, kommt aber kaum mit dem eigenen Nachbarn klar. Und übersieht, daß genau darin eine anthropologische Konstante spürbar wird: Mit den anderen auszukommen – und dabei bisweilen zurückzustecken – ist seit Kain und Abel schwierig, solange man nicht auf kritischen Abstand gelangt – dem anderen gegenüber nicht, sich selbst gegenüber aber schon gar nicht.
Sollte es Vernunft, sogar kollektive, wirklich geben, bräuchte sie den gedanklichen Spielraum eben in der Distanz, im Verhalt, im Abstand – und möglichst sichere und tiefe Kenntnisse.
Die Alternative: Demut. Sich zunächst auf die eigene kleine Welt beschränken. Nicht mit dem Großen beginnen, nicht gleich den Planeten retten wollen, sondern wissen, daß das Kleine, das Minimum, gleichsam das große Maximum umfaßt. Oder: Das Minimum ist das Maximum.
Es ist schwer genug, dort gut zu wirken, wo man gerade zu bestehen versucht. Man muß sich nicht der ukrainischen Selenskyj-Regierung als freiwilliger Kämpfer zur Verfügung stellen oder andererseits Putin beraten wollen; es reichte völlig, sich Partner zu suchen, um die eigene unmittelbare Lebensumwelt zu entmüllen. Dieses ist sogar viel schwieriger als jenes. Und es reichte zuweilen sogar etwas noch Selteneres: Schweigen.
Mit Hölderlins dem “Hyperion” vorangestellter Sentenz, freilich in fragwürdig politischer Verflachung eines viel tieferen Gedankens: “Nicht umschlossen werden vom Größten, sich umschließen lassen vom Kleinsten, das ist göttlich.“
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Grobschlosser
hochmoralische Freitagskinder , die entsprechenden Hubschraubereltern , das rotgrüne juste milieu , die ewigen Belehrungen ; "verzichte doch - ach - ich kaufe unverpackt ( stimmt nicht ) , ach .. wir sollten die Preise für den Sprit erhöhen ...usw ...
ich mag es nicht mehr hören - dann aber : "jaja , der Malte war im Urlaub , Schweiz , Hotel Zauberberg und die hochbegabte Johanna war bei ihrer Brieffreundin Hannah in New York ,und ja , wir waren im Harz , die Autobahn war so schön leer .
solange wir die Bourgeoisie nicht effektiv bekämpfen ändert sich NICHTS