Autorenporträt George Orwell

von Till Kinzel

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

Eric Arthur Blair (1903 – 1950), bekannt unter sei­nem Pseud­onym Geor­ge Orwell, ist längst zu einer posi­ti­ven iko­ni­schen Figur gewor­den. Auf ihn beruft sich, wer intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit in Anspruch neh­men möch­te, wer an dem kul­tu­rel­len Kapi­tal par­ti­zi­pie­ren will, das mit sei­nem Namen ver­bun­den ist. Das ist ein Weg mit Fett­näpf­chen, in die jüngst ein grü­ner Par­tei­vor­sit­zen­der mit Schwung trat: Sein Vor­wort zu Orwells anti­uto­pi­schem Roman 1984 darf als mus­ter­gül­ti­ges Bei­spiel für eben­je­nes »Dop­pel­denk« gel­ten, dem Orwells gan­ze Ver­ach­tung gehör­te. Zugleich aber legt jenes Vor­wort auch Zeug­nis davon ab, wie sehr der Main­stream selbst für sich zu ver­ein­nah­men sucht, was sonst der Auf­klä­rung über ihn die­nen könnte.

Grund genug, unbe­ein­druckt von sol­chen Par­tei­nah­men wie­der zu Orwells Büchern zu grei­fen und sich mit ihnen »jen­seits der Linie« ans Den­ken zu machen. Denn Orwell wird oft genug zu einem Abzieh­bild poli­tisch kor­rek­ter Gesin­nung ver­kitscht, obwohl er genau das Gegen­teil woll­te: uns hin­ein­sto­ßen in eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Gedan­ken, die über das hin­aus­ge­hen, was man im soge­nann­ten Main­stream heu­te gern hören möchte.

Orwell war ein Mann der Wider­sprü­che, der kei­ne kohä­ren­te oder sys­te­ma­ti­sche poli­ti­sche Welt­an­schau­ung ent­wi­ckel­te. Er war ein Mann, der im Pro­pa­gan­da-Appa­rat der BBC arbei­te­te und in sei­nem lite­ra­ri­schen Werk blei­ben­de Denk­an­stö­ße zur kri­ti­schen Durch­leuch­tung von Pro­pa­gan­da for­mu­lier­te. Er war kein abs­trakt räso­nie­ren­der Phi­lo­soph, son­dern ein Intel­lek­tu­el­ler, der teil­wei­se aggres­siv anti­intellektuelle Posi­tio­nen ver­trat. Er war ein Sozia­list, der sei­ne schärfs­te Kri­tik für die sozia­lis­ti­schen Intel­lek­tu­el­len reser­vier­te. Er war ein Sym­pa­thi­sant der Arbei­ter­klas­se und der Aus­ge­grenz­ten am unte­ren Ende der sozia­len Pyra­mi­de, aber nach­hal­tig irri­tiert dar­über, daß der Sozia­lis­mus »mit magne­ti­scher Kraft jeden Frucht­saft­trin­ker, Nudis­ten, San­da­len­trä­ger, Sex­be­ses­se­nen, Quä­ker, Natur­heilquacksalber, Pazi­fis­ten und Femi­nis­ten in Eng­land« anzog, also all jene, die nichts mit dem nor­ma­len Leben nor­ma­ler Men­schen zu tun haben.

Er war ein anti­ko­lo­ni­al ein­ge­stell­ter Eng­län­der, der selbst in der Kolo­ni­al­po­li­zei in Bur­ma Dienst tat, zugleich aber ein genu­in eng­li­scher Autor: Eng­land als gro­ße Kon­ti­nui­tät im Hin­ter­grund soll­te mit sei­nen Kon­ven­tio­nen leben­dig blei­ben, auch wenn Orwell selbst ein sehr fei­nes Organ für die außer­or­dent­li­che Bedeu­tung von Klas­sen­un­ter­schie­den besaß, wie auch sei­ne Selbst­ein­stu­fung als Ange­hö­ri­ger der »unte­ren obe­ren Mit­tel­schicht« deut­lich macht. Die Form von Sozia­lis­mus, für die sich Orwell ein­setz­te, bedeu­te­te des­halb für ihn kei­nen Bruch mit der Ver­gan­gen­heit; Orwells Freun­de aus der undog­ma­ti­schen und pazi­fis­ti­schen Lin­ken wie der Anar­chist Geor­ge Wood­cock erkann­ten daher früh die kon­ser­va­ti­ve Sei­te an Orwell, der viel­leicht zur Hälf­te ein Tory war, ohne je irgend etwas mit der Kon­ser­va­ti­ven Par­tei anfan­gen zu kön­nen. Die zu wenig gele­se­nen frü­hen Roma­ne und Repor­ta­gen, vor allem Die Won­nen der Aspi­dis­tra (1936), Der Weg nach Wigan Pier (1937) sowie Auf­tau­chen, um Luft zu holen (1939), bie­ten dafür rei­ches Anschau­ungs­ma­te­ri­al, der letzt­ge­nann­te Roman auch als atmo­sphä­ri­scher Vor­schein von 1984.

Lite­ra­tur­ge­schicht­lich wirk­te Orwell aber vor allem durch sei­ne bei­den berühm­ten Spät­wer­ke. Ani­mal farm (1945) erfreu­te sich vor allem des­we­gen einer gro­ßen Beliebt­heit, ein­schließ­lich sei­ner Kano­ni­sie­rung als Schul­lek­tü­re, weil die Erzäh­lung im Modus der Fabel eine Deu­tung der Revo­lu­ti­ons­ge­schich­te nach dem Modell des Sowjet­kom­mu­nis­mus, also des Bol­sche­wis­mus, bot. Die Dis­kre­panz zwi­schen den heh­ren ega­li­tä­ren Visio­nen einer Ideo­lo­gie der Befrei­ung und ihrer Wand­lung zu einer Herr­schafts­ideo­lo­gie nach der Macht­über­nah­me spie­gelt das Dilem­ma des Mar­xis­mus in der Geschich­te des 20. Jahrhunderts.

Unab­hän­gig von den viel­leicht sogar guten Inten­tio­nen bringt die Revo­lu­ti­on nur ein neu­es Unter­drü­ckungs­re­gime an die Macht, das durch eine Mischung aus Gewalt und Pro­pa­gan­da aus­ge­übt wird. Das als Denun­zi­ant akti­ve Schwein­chen namens Squea­ler wird in einer neu­en Über­set­zung in Abwei­chung von ande­ren Über­set­zun­gen, die den Namen etwa als Schwatz­wutz ver­nied­licht hat­ten, mit Petz­wutz über­tra­gen, um den ele­men­ta­ren Aspekt der Denun­zia­ti­on, des Ver­pet­zens, schon im Namen kennt­lich zu machen und anzu­deu­ten, daß die Denun­zia­ti­on und die Angst vor ihr ein essen­ti­el­ler Bestand­teil jeder tota­li­tä­ren Gesell­schafts­for­ma­ti­on sind.

Orwell hat mit sei­ner Para­bel einer Revo­lu­ti­on, die den Ver­rat ihrer grund­le­gen­den Ideen prak­ti­ziert, auch sei­ne eige­nen Erfah­run­gen mit den diver­sen lin­ken Revo­lu­ti­ons­trup­pen im Spa­ni­schen Bür­ger­krieg (Mein Kata­lo­ni­en, 1938) lite­ra­risch gestal­tet. Wie bei dem Deu­tungs­sche­ma der ver­ra­te­nen Revo­lu­ti­on, das zu den Stan­dard­in­ter­pre­ta­tio­nen der Trotz­ki-Anhän­ger gehör­te, lebt auch die Fabel davon, daß gegen­über einer anfäng­li­chen Unter­drü­ckungs­si­tua­ti­on, die in grel­len Far­ben gezeich­net wird, die revo­lu­tio­nä­re Ideo­lo­gie als »human«, im Medi­um der Sati­re also als »ani­ma­lisch« und legi­tim erschei­nen muß. Ein sol­ches Deu­tungs­mus­ter ist schon des­we­gen höchst pro­ble­ma­tisch, weil sich dar­aus ablei­ten lie­ße, daß selbst der Sta­li­nis­mus noch einen »huma­nis­ti­schen« Kern gehabt habe, jeden­falls der Kom­mu­nis­mus als Ideo­lo­gie auf die Sei­te der welt­ge­schicht­li­chen »Guten« gehöre.

Der anti­to­ta­li­tä­re Kampf Orwells, so der bel­gi­sche Essay­ist Simon Leys, folg­te aus sei­nen sozia­lis­ti­schen Über­zeu­gun­gen, da Orwell wie vie­le demo­kra­ti­sche Sozia­lis­ten vor und nach ihm geglaubt hat­te, nur die Nie­der­la­ge des Tota­li­ta­ris­mus kön­ne den Sieg des Sozia­lis­mus garan­tie­ren. Dar­aus erge­ben sich auch Schwä­chen in Orwells Ana­ly­se, da er den Sozia­lis­mus letzt­lich als eine Sache der guten Inten­ti­on ansah, der sich nie­mand ver­schlie­ßen kön­ne. Ohne hin­rei­chend zu berück­sich­ti­gen, daß die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen des Sozia­lis­mus völ­lig unab­hän­gig von guten oder schlech­ten Inten­tio­nen ent­ste­hen, blieb Orwell die Ein­sicht Les­zek Kola­kow­skis ver­wehrt, der einen nicht­to­ta­li­tä­ren Sozia­lis­mus mit der Vor­stel­lung gerös­te­ter Schnee­bäl­le gleichsetzte.

Die Nai­vi­tät der Intel­lek­tu­el­len sei­ner Zeit spiel­te bei der Par­tei­nah­me für den Kom­mu­nis­mus sicher eine gro­ße Rol­le. Orwells lako­ni­scher Kom­men­tar deu­tet das an: »Fast alle pro­mi­nen­ten Schrift­stel­ler der drei­ßi­ger Jah­re gehör­ten zur weich­ge­koch­ten, eman­zi­pier­ten Mit­tel­klas­se und waren zu jung, um sich noch deut­lich an den Welt­krieg zu erin­nern. Für Leu­te die­ses Schla­ges sind Din­ge wie Säu­be­run­gen, Geheim­po­li­zei, stand­recht­li­che Erschie­ßun­gen, Inhaf­tie­rung ohne Gerichts­ver­fah­ren etc. zu fern, um schreck­lich zu wir­ken. Sie kön­nen Tota­li­ta­ris­mus ver­dau­en, weil sie nichts ande­res ken­nen als Liberalismus.«

In einem als Vor­wort zur Farm der Tie­re vor­ge­se­he­nen Text, »Die Presse­freiheit«, der aus dem Nach­laß Anfang der 1970er Jah­re publi­ziert wur­de, äußer­te sich Orwell zur Zen­sur und weist auf den Umstand hin, daß die staat­li­che Zen­sur ver­gleichs­wei­se mild war. Weit­aus bedenk­li­cher sei es, daß die lite­ra­ri­sche Zen­sur in Wirk­lich­keit »mehr­heit­lich frei­wil­lig geleis­tet wird.« Orwell unter­streicht, wor­um es hier im letz­ten geht: »Auch ohne staat­li­ches Ver­bot kön­nen unlieb­sa­me Ideen ver­schwie­gen und unbe­que­me Fak­ten im Dun­keln belas­sen werden.«

Orwell kennt jene Rezen­sen­ten­kol­le­gen, die sich zu welt­an­schau­li­chen Kon­trol­leu­ren machen lie­ßen oder auch selbst machen woll­ten, gut genug, um sich vor­stel­len zu kön­nen, wie sie ihr Urteil begrün­den wür­den, sein Buch hät­te nicht gedruckt wer­den dür­fen: »Rezen­sen­ten, die sich auf die Kunst der Ver­un­glimp­fung ver­ste­hen, wer­den es natür­lich nicht aus poli­ti­schen, son­dern aus lite­ra­ri­schen Grün­den zer­fet­zen. Sie wer­den sagen, es sei ein drö­ges, alber­nes Buch und eine schänd­li­che Papier­ver­schwen­dung.« Doch Orwell weiß, daß es bei all dem nur um ein ein­fa­ches und grund­le­gen­des Pro­blem geht: »Hat jede Mei­nung, sei sie auch noch so unpo­pu­lär, ja hirn­ris­sig, Anspruch dar­auf, gehört zu wer­den?« Im Abs­trak­ten ­wer­den dem sogar noch vie­le Intel­lek­tu­el­le zustim­men, wird es aber kon­kret – ­Orwell bezog das damals auf Kri­tik an Sta­lin –, sieht es schon deut­lich anders aus.

Auch hier hat Orwell einen wirk­mäch­ti­gen Mecha­nis­mus erkannt, den er mit der Auf­fas­sung man­cher Krei­se damals ver­knüpf­te, es las­se sich die Demo­kra­tie nur mit tota­li­tä­ren Mit­teln ver­tei­di­gen: »Wenn man die Demo­kra­tie liebt, so das Argu­ment, muß man ihre Fein­de ver­nich­ten, mit wel­chen Mit­teln auch immer. Und wer sind ihre Fein­de? Nicht etwa die­je­ni­gen, die sie offen und bewußt angrei­fen, hat es zuneh­mend den Anschein, son­dern die, die sie durch die Ver­brei­tung irri­ger Lehr­mei­nun­gen ›objek­tiv‹ gefähr­den. Anders gesagt«, so Orwells sar­kas­ti­sche Schluß­fol­ge­rung, »die Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie erfor­dert die Zer­stö­rung unab­hän­gi­gen Denkens«.

Orwell kann­te die Argu­men­te gegen Gedan­ken- und Mei­nungs­frei­heit, aber sie über­zeug­ten ihn nicht. Auch gegen­über Moden des Den­kens soll­te Skep­sis prak­ti­ziert wer­den: »Eine Ortho­do­xie durch eine ande­re zu erset­zen ist noch nicht unbe­dingt ein Fort­schritt. Das Übel ist das Gram­mo­phon­den­ken selbst, ob die Plat­te, die gera­de gespielt wird, einem nun paßt oder nicht.« Orwell stu­dier­te Sati­ri­ker wie Jona­than Swift, in des­sen Gul­li­vers Rei­sen (3. Teil) er eine Vor­schau des tota­li­tä­ren Poli­zei­staats erkann­te, in dem es end­lo­se Jag­den auf Häre­ti­ker sowie Hoch­ver­rats­pro­zes­se gab.

Beson­ders omi­nös erschien Orwell die an Swift ange­lehn­te Ein­sicht, daß das Ziel des Tota­li­ta­ris­mus nicht nur dar­in bestehe, das Den­ken rich­ti­ger Gedan­ken sicher­zu­stel­len, son­dern die Men­schen tat­säch­lich »weni­ger bewußt« zu machen. Gar nicht mehr nach­zu­den­ken ist bes­ser, als das jewei­li­ge Rich­ti­ge zu den­ken, das immer noch in Wider­streit mit dem vor kur­zem für rich­tig Gehal­te­nen gera­ten kann. »Ortho­do­xie war Bewußt­lo­sig­keit«, so die ent­schei­den­de Erkennt­nis Win­s­tons in 1984, und: »Gesun­der Men­schen­ver­stand war die Ket­ze­rei aller Ket­ze­rei­en.« Um sich in einem sol­chen Sys­tem ein­zu­rich­ten, ist es daher am bes­ten, befehls­ge­mäß »die Wahr­neh­mun­gen der eige­nen Augen und Ohren zu verwerfen«.

Orwell setz­te mit sol­chen Gedan­ken sei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit Spra­che und Poli­tik in 1984 (1949) fort, wo es unter ande­rem um genau die­se Schwie­rig­keit ging, wie der ein­zel­ne sich mög­lichst voll­stän­dig dem herr­schen­den Regime unter­wer­fen kann. Selbst wer den Roman nicht gele­sen hat, kennt die Rede vom »Gro­ßen Bru­der«, von den »Haß-Minu­ten«, den »Gedan­ken­ver­bre­chen« oder dem »Neu­sprech« sowie die Umco­die­rung von Begrif­fen und logi­schen Rela­tio­nen à la »Krieg ist Frie­den«, »Unwis­sen­heit ist Stär­ke« oder »Frei­heit ist Sklaverei«.

Das Bild einer tota­li­tä­ren Macht von unheim­li­chen Dimen­sio­nen, die Krieg nach außen führt, Ter­ror nach innen aus­übt und auch die Ver­gan­gen­heit oder wah­re Aus­sa­gen je nach poli­ti­schen Not­wen­dig­kei­ten mani­pu­liert, hat sich so nach­hal­tig in das kul­tu­rel­le Gedächt­nis ein­ge­schrie­ben, daß auch »Orwell« zu einem Code­wort der Angst gewor­den ist, das wie »Kaf­ka« oft als Kurz­form bestimm­te Ein­schät­zun­gen und Wert­ur­tei­le ver­mit­teln soll.

Wie auch immer man Orwells sprach­phi­lo­so­phi­sche Hinter­grundannahmen bewer­ten will (es ist wohl nicht mög­lich, das Den­ken kom­plett über eine oktroy­ier­te Spra­che zu mani­pu­lie­ren), so sen­si­bi­li­siert sei­ne Dar­stel­lung der bei­den wich­tigs­ten seman­ti­schen Ope­ra­tio­nen im Orwell­schen Ozea­ni­en für die Ein­falls­to­re der Pro­pa­gan­da in den mensch­li­chen Geist. Wäh­rend das Neu­sprech zuneh­mend ver­hin­dern soll, offi­zi­ell uner­wünsch­te Gedan­ken über­haupt noch zu den­ken oder gar zu arti­ku­lie­ren, bedarf es zur gesell­schaft­li­chen Kon­trol­le vor allem des Zwie­den­kens oder Dop­pel­den­kens (dou­ble­think), des­sen berühm­te Defi­ni­ti­on lau­tet: »Dop­pel­denk bezeich­net die Fähig­keit, zwei ein­an­der wider­spre­chen­de Über­zeu­gun­gen zugleich zu haben und bei­de zu vertreten.

Der Par­tei­in­tel­lek­tu­el­le weiß, in wel­che Rich­tung sei­ne Erin­ne­run­gen ver­än­dert wer­den müs­sen; daher weiß er, daß er an der Rea­li­tät her­um­spielt; aber durch die Anwen­dung von Dop­pel­denk über­zeugt er sich auch davon, daß die Wirk­lich­keit nicht ver­ge­wal­tigt wird. […] Absicht­lich Lügen zu erzäh­len, wäh­rend man wirk­lich an sie glaubt; jede Tat­sa­che ver­ges­sen, die unbe­quem gewor­den ist, und sie dann, wenn es wie­der not­wen­dig wird, aber­mals dem Ver­ges­sen zu ent­rei­ßen, und zwar genau so lan­ge, wie es erfor­der­lich ist; die Exis­tenz einer objek­ti­ven Rea­li­tät leug­nen und dabei der Rea­li­tät, die man leug­net, Beach­tung schen­ken – all das ist uner­läß­lich notwendig.«

Das Dop­pel­den­ken gehört zu den nach­hal­tigs­ten Phä­no­me­nen einer Pries­ter­herr­schaft der Intel­lek­tu­el­len, die einer­seits erklä­ren, wir leb­ten »in der bes­ten Demo­kra­tie, die es in Deutsch­land je gab, wir leben in der frei­es­ten Gesell­schaft, die es in Deutsch­land je gab« (Robert Habeck); ande­rer­seits aber macht offen­bar eben­die­se Frei­heit gro­ße Sor­gen, erleb­ten wir doch, »wie das Gift des tota­li­tä­ren Den­kens auch in das Fun­da­ment der Demo­kra­tie ein­si­ckert und sie von innen aus­zu­höh­len droht« (wie­der­um Habeck), so daß die­se bes­te Demo­kra­tie auch zugleich als eine außer­or­dent­lich schwa­che, von Fein­den stän­dig unter­wan­der­te erscheint.

Orwells kri­ti­sche Über­le­gun­gen zu den bri­ti­schen Intel­lek­tu­el­len der Zwi­schen­kriegs- und Kriegs­zeit, Im Innern des Wals, sind geprägt davon, daß ihm die Lüge stank. Nicht alle hät­ten sich ins poli­ti­sche Getrie­be ver­wi­ckelt, »aber prak­tisch jeder hat­te am Ran­de etwas damit zu tun und nahm an Pro­pa­gan­da­feld­zü­gen und frag­wür­di­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen teil.« Es galt: »Es war eine Zeit der Eti­ket­tie­run­gen und Schlag­wor­te. In den kri­ti­schen Augen­bli­cken erwar­te­te man von einem Schrift­stel­ler, daß er sich sel­ber in einen engen, klei­nen, sti­cki­gen Käfig von Lügen ein­schloß. Im bes­ten Fall leg­te sich fast jeder eine Art frei­wil­li­ger Selbst­kon­trol­le auf (›Kann ich das über­haupt schrei­ben? Ist es nicht profaschistisch?‹).«

Stel­len wie die­se inspi­rie­ren neben sei­ner Schöp­fung eines Mythos des Tota­li­tä­ren bis heu­te Schrift­stel­ler unter­schied­li­cher Kul­tu­ren, zuletzt auf beängs­ti­gen­de Wei­se den Alge­ri­er Boua­lem San­sal, des­sen Roman 2084. Das Ende der Welt an den »Meis­ter Orwell« anknüpft und in des­sen Geis­te iro­nisch mahnt: »Schlaft ruhig, bra­ve Leu­te, alles ist völ­lig falsch und der Rest ist unter Kontrolle.«

 

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)