Eric Arthur Blair (1903 – 1950), bekannt unter seinem Pseudonym George Orwell, ist längst zu einer positiven ikonischen Figur geworden. Auf ihn beruft sich, wer intellektuelle Redlichkeit in Anspruch nehmen möchte, wer an dem kulturellen Kapital partizipieren will, das mit seinem Namen verbunden ist. Das ist ein Weg mit Fettnäpfchen, in die jüngst ein grüner Parteivorsitzender mit Schwung trat: Sein Vorwort zu Orwells antiutopischem Roman 1984 darf als mustergültiges Beispiel für ebenjenes »Doppeldenk« gelten, dem Orwells ganze Verachtung gehörte. Zugleich aber legt jenes Vorwort auch Zeugnis davon ab, wie sehr der Mainstream selbst für sich zu vereinnahmen sucht, was sonst der Aufklärung über ihn dienen könnte.
Grund genug, unbeeindruckt von solchen Parteinahmen wieder zu Orwells Büchern zu greifen und sich mit ihnen »jenseits der Linie« ans Denken zu machen. Denn Orwell wird oft genug zu einem Abziehbild politisch korrekter Gesinnung verkitscht, obwohl er genau das Gegenteil wollte: uns hineinstoßen in eine Auseinandersetzung mit Gedanken, die über das hinausgehen, was man im sogenannten Mainstream heute gern hören möchte.
Orwell war ein Mann der Widersprüche, der keine kohärente oder systematische politische Weltanschauung entwickelte. Er war ein Mann, der im Propaganda-Apparat der BBC arbeitete und in seinem literarischen Werk bleibende Denkanstöße zur kritischen Durchleuchtung von Propaganda formulierte. Er war kein abstrakt räsonierender Philosoph, sondern ein Intellektueller, der teilweise aggressiv antiintellektuelle Positionen vertrat. Er war ein Sozialist, der seine schärfste Kritik für die sozialistischen Intellektuellen reservierte. Er war ein Sympathisant der Arbeiterklasse und der Ausgegrenzten am unteren Ende der sozialen Pyramide, aber nachhaltig irritiert darüber, daß der Sozialismus »mit magnetischer Kraft jeden Fruchtsafttrinker, Nudisten, Sandalenträger, Sexbesessenen, Quäker, Naturheilquacksalber, Pazifisten und Feministen in England« anzog, also all jene, die nichts mit dem normalen Leben normaler Menschen zu tun haben.
Er war ein antikolonial eingestellter Engländer, der selbst in der Kolonialpolizei in Burma Dienst tat, zugleich aber ein genuin englischer Autor: England als große Kontinuität im Hintergrund sollte mit seinen Konventionen lebendig bleiben, auch wenn Orwell selbst ein sehr feines Organ für die außerordentliche Bedeutung von Klassenunterschieden besaß, wie auch seine Selbsteinstufung als Angehöriger der »unteren oberen Mittelschicht« deutlich macht. Die Form von Sozialismus, für die sich Orwell einsetzte, bedeutete deshalb für ihn keinen Bruch mit der Vergangenheit; Orwells Freunde aus der undogmatischen und pazifistischen Linken wie der Anarchist George Woodcock erkannten daher früh die konservative Seite an Orwell, der vielleicht zur Hälfte ein Tory war, ohne je irgend etwas mit der Konservativen Partei anfangen zu können. Die zu wenig gelesenen frühen Romane und Reportagen, vor allem Die Wonnen der Aspidistra (1936), Der Weg nach Wigan Pier (1937) sowie Auftauchen, um Luft zu holen (1939), bieten dafür reiches Anschauungsmaterial, der letztgenannte Roman auch als atmosphärischer Vorschein von 1984.
Literaturgeschichtlich wirkte Orwell aber vor allem durch seine beiden berühmten Spätwerke. Animal farm (1945) erfreute sich vor allem deswegen einer großen Beliebtheit, einschließlich seiner Kanonisierung als Schullektüre, weil die Erzählung im Modus der Fabel eine Deutung der Revolutionsgeschichte nach dem Modell des Sowjetkommunismus, also des Bolschewismus, bot. Die Diskrepanz zwischen den hehren egalitären Visionen einer Ideologie der Befreiung und ihrer Wandlung zu einer Herrschaftsideologie nach der Machtübernahme spiegelt das Dilemma des Marxismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Unabhängig von den vielleicht sogar guten Intentionen bringt die Revolution nur ein neues Unterdrückungsregime an die Macht, das durch eine Mischung aus Gewalt und Propaganda ausgeübt wird. Das als Denunziant aktive Schweinchen namens Squealer wird in einer neuen Übersetzung in Abweichung von anderen Übersetzungen, die den Namen etwa als Schwatzwutz verniedlicht hatten, mit Petzwutz übertragen, um den elementaren Aspekt der Denunziation, des Verpetzens, schon im Namen kenntlich zu machen und anzudeuten, daß die Denunziation und die Angst vor ihr ein essentieller Bestandteil jeder totalitären Gesellschaftsformation sind.
Orwell hat mit seiner Parabel einer Revolution, die den Verrat ihrer grundlegenden Ideen praktiziert, auch seine eigenen Erfahrungen mit den diversen linken Revolutionstruppen im Spanischen Bürgerkrieg (Mein Katalonien, 1938) literarisch gestaltet. Wie bei dem Deutungsschema der verratenen Revolution, das zu den Standardinterpretationen der Trotzki-Anhänger gehörte, lebt auch die Fabel davon, daß gegenüber einer anfänglichen Unterdrückungssituation, die in grellen Farben gezeichnet wird, die revolutionäre Ideologie als »human«, im Medium der Satire also als »animalisch« und legitim erscheinen muß. Ein solches Deutungsmuster ist schon deswegen höchst problematisch, weil sich daraus ableiten ließe, daß selbst der Stalinismus noch einen »humanistischen« Kern gehabt habe, jedenfalls der Kommunismus als Ideologie auf die Seite der weltgeschichtlichen »Guten« gehöre.
Der antitotalitäre Kampf Orwells, so der belgische Essayist Simon Leys, folgte aus seinen sozialistischen Überzeugungen, da Orwell wie viele demokratische Sozialisten vor und nach ihm geglaubt hatte, nur die Niederlage des Totalitarismus könne den Sieg des Sozialismus garantieren. Daraus ergeben sich auch Schwächen in Orwells Analyse, da er den Sozialismus letztlich als eine Sache der guten Intention ansah, der sich niemand verschließen könne. Ohne hinreichend zu berücksichtigen, daß die negativen Konsequenzen des Sozialismus völlig unabhängig von guten oder schlechten Intentionen entstehen, blieb Orwell die Einsicht Leszek Kolakowskis verwehrt, der einen nichttotalitären Sozialismus mit der Vorstellung gerösteter Schneebälle gleichsetzte.
Die Naivität der Intellektuellen seiner Zeit spielte bei der Parteinahme für den Kommunismus sicher eine große Rolle. Orwells lakonischer Kommentar deutet das an: »Fast alle prominenten Schriftsteller der dreißiger Jahre gehörten zur weichgekochten, emanzipierten Mittelklasse und waren zu jung, um sich noch deutlich an den Weltkrieg zu erinnern. Für Leute dieses Schlages sind Dinge wie Säuberungen, Geheimpolizei, standrechtliche Erschießungen, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren etc. zu fern, um schrecklich zu wirken. Sie können Totalitarismus verdauen, weil sie nichts anderes kennen als Liberalismus.«
In einem als Vorwort zur Farm der Tiere vorgesehenen Text, »Die Pressefreiheit«, der aus dem Nachlaß Anfang der 1970er Jahre publiziert wurde, äußerte sich Orwell zur Zensur und weist auf den Umstand hin, daß die staatliche Zensur vergleichsweise mild war. Weitaus bedenklicher sei es, daß die literarische Zensur in Wirklichkeit »mehrheitlich freiwillig geleistet wird.« Orwell unterstreicht, worum es hier im letzten geht: »Auch ohne staatliches Verbot können unliebsame Ideen verschwiegen und unbequeme Fakten im Dunkeln belassen werden.«
Orwell kennt jene Rezensentenkollegen, die sich zu weltanschaulichen Kontrolleuren machen ließen oder auch selbst machen wollten, gut genug, um sich vorstellen zu können, wie sie ihr Urteil begründen würden, sein Buch hätte nicht gedruckt werden dürfen: »Rezensenten, die sich auf die Kunst der Verunglimpfung verstehen, werden es natürlich nicht aus politischen, sondern aus literarischen Gründen zerfetzen. Sie werden sagen, es sei ein dröges, albernes Buch und eine schändliche Papierverschwendung.« Doch Orwell weiß, daß es bei all dem nur um ein einfaches und grundlegendes Problem geht: »Hat jede Meinung, sei sie auch noch so unpopulär, ja hirnrissig, Anspruch darauf, gehört zu werden?« Im Abstrakten werden dem sogar noch viele Intellektuelle zustimmen, wird es aber konkret – Orwell bezog das damals auf Kritik an Stalin –, sieht es schon deutlich anders aus.
Auch hier hat Orwell einen wirkmächtigen Mechanismus erkannt, den er mit der Auffassung mancher Kreise damals verknüpfte, es lasse sich die Demokratie nur mit totalitären Mitteln verteidigen: »Wenn man die Demokratie liebt, so das Argument, muß man ihre Feinde vernichten, mit welchen Mitteln auch immer. Und wer sind ihre Feinde? Nicht etwa diejenigen, die sie offen und bewußt angreifen, hat es zunehmend den Anschein, sondern die, die sie durch die Verbreitung irriger Lehrmeinungen ›objektiv‹ gefährden. Anders gesagt«, so Orwells sarkastische Schlußfolgerung, »die Verteidigung der Demokratie erfordert die Zerstörung unabhängigen Denkens«.
Orwell kannte die Argumente gegen Gedanken- und Meinungsfreiheit, aber sie überzeugten ihn nicht. Auch gegenüber Moden des Denkens sollte Skepsis praktiziert werden: »Eine Orthodoxie durch eine andere zu ersetzen ist noch nicht unbedingt ein Fortschritt. Das Übel ist das Grammophondenken selbst, ob die Platte, die gerade gespielt wird, einem nun paßt oder nicht.« Orwell studierte Satiriker wie Jonathan Swift, in dessen Gullivers Reisen (3. Teil) er eine Vorschau des totalitären Polizeistaats erkannte, in dem es endlose Jagden auf Häretiker sowie Hochverratsprozesse gab.
Besonders ominös erschien Orwell die an Swift angelehnte Einsicht, daß das Ziel des Totalitarismus nicht nur darin bestehe, das Denken richtiger Gedanken sicherzustellen, sondern die Menschen tatsächlich »weniger bewußt« zu machen. Gar nicht mehr nachzudenken ist besser, als das jeweilige Richtige zu denken, das immer noch in Widerstreit mit dem vor kurzem für richtig Gehaltenen geraten kann. »Orthodoxie war Bewußtlosigkeit«, so die entscheidende Erkenntnis Winstons in 1984, und: »Gesunder Menschenverstand war die Ketzerei aller Ketzereien.« Um sich in einem solchen System einzurichten, ist es daher am besten, befehlsgemäß »die Wahrnehmungen der eigenen Augen und Ohren zu verwerfen«.
Orwell setzte mit solchen Gedanken seine Auseinandersetzung mit Sprache und Politik in 1984 (1949) fort, wo es unter anderem um genau diese Schwierigkeit ging, wie der einzelne sich möglichst vollständig dem herrschenden Regime unterwerfen kann. Selbst wer den Roman nicht gelesen hat, kennt die Rede vom »Großen Bruder«, von den »Haß-Minuten«, den »Gedankenverbrechen« oder dem »Neusprech« sowie die Umcodierung von Begriffen und logischen Relationen à la »Krieg ist Frieden«, »Unwissenheit ist Stärke« oder »Freiheit ist Sklaverei«.
Das Bild einer totalitären Macht von unheimlichen Dimensionen, die Krieg nach außen führt, Terror nach innen ausübt und auch die Vergangenheit oder wahre Aussagen je nach politischen Notwendigkeiten manipuliert, hat sich so nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben, daß auch »Orwell« zu einem Codewort der Angst geworden ist, das wie »Kafka« oft als Kurzform bestimmte Einschätzungen und Werturteile vermitteln soll.
Wie auch immer man Orwells sprachphilosophische Hintergrundannahmen bewerten will (es ist wohl nicht möglich, das Denken komplett über eine oktroyierte Sprache zu manipulieren), so sensibilisiert seine Darstellung der beiden wichtigsten semantischen Operationen im Orwellschen Ozeanien für die Einfallstore der Propaganda in den menschlichen Geist. Während das Neusprech zunehmend verhindern soll, offiziell unerwünschte Gedanken überhaupt noch zu denken oder gar zu artikulieren, bedarf es zur gesellschaftlichen Kontrolle vor allem des Zwiedenkens oder Doppeldenkens (doublethink), dessen berühmte Definition lautet: »Doppeldenk bezeichnet die Fähigkeit, zwei einander widersprechende Überzeugungen zugleich zu haben und beide zu vertreten.
Der Parteiintellektuelle weiß, in welche Richtung seine Erinnerungen verändert werden müssen; daher weiß er, daß er an der Realität herumspielt; aber durch die Anwendung von Doppeldenk überzeugt er sich auch davon, daß die Wirklichkeit nicht vergewaltigt wird. […] Absichtlich Lügen zu erzählen, während man wirklich an sie glaubt; jede Tatsache vergessen, die unbequem geworden ist, und sie dann, wenn es wieder notwendig wird, abermals dem Vergessen zu entreißen, und zwar genau so lange, wie es erforderlich ist; die Existenz einer objektiven Realität leugnen und dabei der Realität, die man leugnet, Beachtung schenken – all das ist unerläßlich notwendig.«
Das Doppeldenken gehört zu den nachhaltigsten Phänomenen einer Priesterherrschaft der Intellektuellen, die einerseits erklären, wir lebten »in der besten Demokratie, die es in Deutschland je gab, wir leben in der freiesten Gesellschaft, die es in Deutschland je gab« (Robert Habeck); andererseits aber macht offenbar ebendiese Freiheit große Sorgen, erlebten wir doch, »wie das Gift des totalitären Denkens auch in das Fundament der Demokratie einsickert und sie von innen auszuhöhlen droht« (wiederum Habeck), so daß diese beste Demokratie auch zugleich als eine außerordentlich schwache, von Feinden ständig unterwanderte erscheint.
Orwells kritische Überlegungen zu den britischen Intellektuellen der Zwischenkriegs- und Kriegszeit, Im Innern des Wals, sind geprägt davon, daß ihm die Lüge stank. Nicht alle hätten sich ins politische Getriebe verwickelt, »aber praktisch jeder hatte am Rande etwas damit zu tun und nahm an Propagandafeldzügen und fragwürdigen Auseinandersetzungen teil.« Es galt: »Es war eine Zeit der Etikettierungen und Schlagworte. In den kritischen Augenblicken erwartete man von einem Schriftsteller, daß er sich selber in einen engen, kleinen, stickigen Käfig von Lügen einschloß. Im besten Fall legte sich fast jeder eine Art freiwilliger Selbstkontrolle auf (›Kann ich das überhaupt schreiben? Ist es nicht profaschistisch?‹).«
Stellen wie diese inspirieren neben seiner Schöpfung eines Mythos des Totalitären bis heute Schriftsteller unterschiedlicher Kulturen, zuletzt auf beängstigende Weise den Algerier Boualem Sansal, dessen Roman 2084. Das Ende der Welt an den »Meister Orwell« anknüpft und in dessen Geiste ironisch mahnt: »Schlaft ruhig, brave Leute, alles ist völlig falsch und der Rest ist unter Kontrolle.«