Michel de Montaigne (1533 – 1592) wird die Erkenntnis zugeschrieben, daß die Angst »alle anderen Beeinträchtigungen an Heftigkeit« übersteige. Nun lebte der katholische Philosoph in der Hochphase der »Hugenottenkriege« von 1562 bis 1598. Angst meinte während dieser acht verzweigten religiösen und machtpolitischen Konflikte ursächlich Todesangst.
Während dieser gegenseitigen Massaker und Racheorgien am Ende der Renaissance festigte sich in Frankreich die zentralistische Macht; regionale und »föderale« Sonderheiten wurden strikt untergeordnet. Heinrich IV. (1553 – 1610, französischer König ab 1589) schuf den Pariser Einheitsstaat und überwand damit die zurückgekehrte »Angst des Naturzustandes«, in dem »jeder jeden töten« konnte, wie Carl Schmitt formulierte. In seiner staatsphilosophischen Schrift Leviathan affirmiert Schmitt eine solche Überwindung des elementaren Bürgerkrieges durch eine organisierte Entität, da erst in einem solchen »›zivilen‹, staatlichen Zustand alle Staatsbürger ihres physischen Daseins sicher« seien; erst »hier herrscht Ruhe, Sicherheit und Ordnung«.
Angst als wesentliche Todesangst wurde in der Geschichte der letzten fünf Jahrhunderte somit immer wieder durch den Staat eingehegt, der die physische Existenz seiner ihm anvertrauten Staatsbürger zu schützen hatte (was er freilich nicht immer leisten konnte oder wollte), während die Alltagsbereiche der Menschen, darunter die persönliche Stellung im Wirtschaftsprozeß, größtenteils durch die Verhältnisse strukturiert und tradiert wurden: Der Mensch wirkte entsprechend seiner gemeinschaftlichen Aufgabe, die ständische Gliederung sorgte für Gewißheiten, die Religion gab einen Denk- und Handlungsrahmen vor – den einzelnen umgaben somit feste religiöse, politische und ökonomische Gefüge. Den Tod zu vermeiden, vor dem man sich in Gestalt des Krieges oder einer Krankheit fürchtete, blieb das zentrale, in jedem Falle primäre Motiv im Kontext der Angst.
Doch Angst umfaßt mehr Teilbereiche als die Angst vor der eigenen Auslöschung, insbesondere in den für viele Menschen komplexen und damit fordernden Epochen der Moderne und der Postmoderne. Angst stellt nunmehr, in den Worten des Wahrnehmungsforschers Rainer Mausfeld, »allgemein eine Verunsicherung des Gefühlslebens dar«, die man, bezieht sie sich auf ein konkretes Objekt, »Furcht« oder »Realangst« zu nennen gewöhnt ist, wohingegen Angst, der es an einem konkreten Gegenstand zumindest objektiv mangelt, als »neurotische Angst« oder als »Binnenangst« firmiert.
Realangst im Sinne Mausfelds könne durch aktives Handeln des betroffenen Menschen bewältigt werden, Binnenangst bleibe demgegenüber »in der Person gefangen« und werde »als gegenstandslose, kaum konkretisierbare Grundstimmung in das eigene Leben aufgenommen, lähmt die betroffene Person, zehrt ihre Energien aus und verstärkt ihre Neigung zu Rückzug, Isolation und schließlich zu Regression und Apathie«.
Nicht verwunderlich erscheint demnach, daß Binnenängste machtpolitisch in erheblichem Maße instrumentalisierbar wirken und ausgenutzt werden können. Daher sind Akteure, die einen solchen Typus von Angst zur gesellschaftlichen Waffe machen, daran interessiert, daß Binnenängste gefördert werden – auch, indem Formen der Realangst (Furcht) verstärkt in Arten der Binnenangst transformiert werden. Entsprechende Transformationen in der neueren und neuesten Geschichte bezeichnet Mausfeld als »zentrale Herrschaftstechnik«, die erst unter den Bedingungen der kapitalistischen Demokratien der westlichen Hemisphäre reüssieren konnte. Denn hier gehe es wesentlich darum, eine vorhandene Diskrepanz zwischen der wohlfühlenden Rhetorik der Demokratie und den Realitäten des Kapitalismus zu verschleiern, um die Legitimität des Bestehenden zu maximieren und den grundsätzlichen Widerspruch (als Dissens mit den Herrschenden) zu minimieren.
Auf der einen Seite gab es in Westeuropa in Zeiten des modifizierten Kapitalismus im Sinne einer sozialen und gehegten Marktwirtschaft Schutzmaßnahmen verschiedenster Art für die absolute Mehrheit der Bevölkerung über alle Schichten hinweg, von denen viele – aufgrund der liberalen »Arbeitsmarktreformen« längst nicht alle – noch heute wirksam sind und ein Sicherheitsnetz bieten. Auf der anderen Seite gelang es den Kräften des Marktes im Zeichen der »langen Wende zum Neoliberalismus« (Wolfgang Streeck) ab den 1980er Jahren, zunehmend Barrieren für die eigene Entwicklung zu beseitigen, die Nationalstaaten marktförmig umzubauen und die relativ gesicherten Verhältnisse des »klassischen« Arbeitsmarktes zunehmend zugunsten eines »flexiblen« Pendants zu ersetzen.
Das ging einher mit einem erheblichen Zuwachs von bis dato atypischen Beschäftigungsverhältnissen: Aus Berufen wurden Jobs, aus Festanstellungen temporäre, aus unbefristeten Verträgen befristete, aus tarifvertraglich gebundenen Beschäftigungen immer häufiger geringfügige, aus dem unternehmensverbundenen Mitarbeiter der Leiharbeiter usf. Die bekannten Pole der relativen Einkommens- und Lebensplanungssicherheit wichen in den letzten vier Jahrzehnten in vielen Bereichen und vor allem in ländlichen Regionen »prekären«, das heißt unbeständigen und unberechenbaren Arbeitsverhältnissen, was sich auf Familienplanung und Lebensqualität der Betroffenen auswirken kann.
Rainer Mausfeld verweist daher auf die immanente Funktion der Angst (i. S. v. Binnenangst) für bestimmte Gesellschaftsschichten im Kapitalismus: Wer Angst vor beruflichen (und damit in der Regel auch privaten) Brüchen in seiner Biographie mit sich trägt, erweist sich für die politisch und ökonomisch Herrschenden als gefügiger und konformistischer; ferner läßt er sich leichter auf seine neue identitätsstiftende Rolle als »Unternehmer seiner selbst« zurückwerfen, der einem permanenten Schwebezustand ausgesetzt ist.
Just diese Situation, die die rund vier Millionen Selbständigen in Deutschland als Teil ihres Lebensentwurfs nur allzu gut kennen, wird fortan auch für einen erklecklichen Teil der 27 Millionen Angestellten und der sieben Millionen Arbeiter aller Branchen – das ist die absolute Bevölkerungsmehrheit im erwerbsfähigen Alter – zumindest als latente Bedrohung realer: Je nach individueller Vertragssituation (befristet vs. unbefristet, Leiharbeiter vs. Tarifvertrag usf.) kann die Einkommensquelle versiegen, kann ein Sprung ins Unbekannte erforderlich sein, was ideologisch aufgeladen als »Freiheit« des einzelnen propagiert wird.
Zugespitzt fährt Mausfeld fort, daß es sich hierbei um einen »pervertierten Freiheitsbegriff« handle. Die »Freiheit« einer Person beziehe sich darauf, daß »sie sich den Kräften des ›freien Marktes‹ zu unterwerfen« und, »von allen gesellschaftlichen und sozialen Banden ›befreit‹«, als Marktteilnehmer zu funktionieren habe, was einer kontinuierlichen Entwurzelung gleichkomme. Zudem werde die Verantwortung einseitig dieser entwurzelten Persönlichkeit aufgebürdet: »Scheitert sie auf dem ›Markt‹, so darf sie nicht gesellschaftliche Verhältnisse verantwortlich machen, sondern muß dies ihrem individuellen Versagen zuschreiben.«
Obschon offensichtlich ist, daß Mausfeld wie viele andere (Alt-)Linke dazu neigt, ein entgegengesetztes Extrem zu favorisieren – die Persönlichkeit von Selbstverantwortung loszusagen und (fast) alles »den Verhältnissen« zuzuschreiben –, bleibt sein im Anschluß eingeführter Terminus »Psychotechnik der Machtstabilisierung« bedenkenswert. Der einzelne ist ja im Zeitalter der liberalen Massengesellschaft tatsächlich zu oft mit sich selbst beschäftigt, findet Entlastung und Zerstreuung im Konsum, nimmt den Staat als jederzeit zu bemühenden Dienstleistungsgaranten wahr, der einem eigenverantwortliches Denken »abnimmt«, und vermeidet in der Regel politisches Engagement in kollektiven Strukturen, da er, bewußt oder unbewußt, mit sich selbst und seinem (am besten gelegentlich neu zu erfindenden) Lebensentwurf und ‑vollzug zu ringen hat. Der konsumorientierte Mensch, satt und ichbezogen, ist zu jeder Zeit der herrschaftsstabilisierende Mensch.
Dieser neue Mensch, der gegen jede anthropologisch rückgebundene Vernunft geschaffen wird, wird in unseren Tagen doppelt reglementiert: Einerseits durch den strafenden Markt, der Ausscheren (ob politisch, menschlich, gesellschaftlich usw.) mit Sanktionen (Arbeitsplatzverlust, Lohnkürzung usw.) beantwortet. Andererseits schnürt der von Interessengruppen aller Art usurpierte Staat den einzelnen in ein Korsett von Regelungen und Vorschriften. Letzteres, in der Coronakrise vor allem für Selbständige aller Art – ganz besonders in den Bereichen Gastronomie und Einzelhandel – erfahrbar, kulminiert in dem Zusammenspiel aus schwachem und starkem Staat: schwach im Hinblick auf große Spieler, sehr Vermögende, Lobbygruppen aller Art; stark im Hinblick auf die zur Norm werdende Übergriffigkeit gegenüber dem durchschnittlichen Staatsbürger.
Mausfeld erfaßt diese negative Erscheinungsform der Dialektik, wenn er diesen scheinbaren Widerspruch geradezu als Essenz des Neoliberalismus in seinem Endzustand ausmacht (also augenblicklich, das heißt kurz vor seiner Aufhebung durch den Great Reset in Richtung einer Mixtur aus staatsmonopolistischem Kapitalismus 2.0, Big-Tech-Herrschaft und feudal anmutender Reichtums- und Machtkonzentration bei linksliberaler Hegemonie über die geistige Sphäre): Der Neoliberalismus ziele ab »auf die Schaffung eines gewährenden schwachen Staates für Reiche und Konzerne und zugleich auf die Schaffung eines starken disziplinierenden Staates für die Bevölkerung«. Ebendieses Prinzip müßte vom Kopf auf die Füße gestellt werden: ein gewährender Staat »für die Bevölkerung«, also die »normalen Menschen« des Volkes, ein starker und disziplinierender Staat für steuer- und gemeinschaftsvermeidende »Reiche und Konzerne«. Das Verhältnis von Angst und Ökonomie sähe sich somit – zumindest in gröbsten Zügen – korrigiert.
Die Angst vor drohender (politisch-ökonomischer) Disziplinierung und ihren gesellschaftlichen Folgen kann man auf zwei Wegen überwinden: Auf der einen Seite durch die Förderung eigenverantwortlicher Persönlichkeiten, die sich selbst jene Räume verschaffen, die ihnen die Luft zum Atmen lassen; Persönlichkeiten, die der Angst weder als realem Phänomen noch als Konstrukt der Angst-Lobbyisten Zugriff auf ihr Leben gewähren.
Auf der anderen Seite gelänge dies, indem der Staat Schutzräume grundsätzlicher Natur für jene bereithielte, die weder zur Selbständigkeit tendieren noch bei »den Großen« oder gar bei staatlichen oder staatsnahen Stellen sicher untergekommen sind. Mitzudenken ist bei letzterem Sachverhalt, daß unter jetzigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen die Gestaltung von nachhaltigen Schutzräumen von einem widersprüchlichen Charakter geprägt ist. Denn sie müßte gerade so vollzogen werden, daß Schutz durch den Staat nicht gleichgesetzt wird mit den Ansprüchen, die man – nicht zuletzt aufgrund einer zeitgeistbedingten Vollversorgungsmentalität in Teilen der Gesellschaft – an den Staat stellen will, verstärkt auch durch Forderungen migrantischer Kreise. Diese Einschränkung ist bedeutsam und kann final wohl erst aufgehoben werden, wenn ein grundsätzlicher Wandel des Politischen ebenso durchgesetzt werden kann wie eine begleitende Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse.
In einer Situation, in der das dominierende Problemkonvolut seine Überwindung in einem verbesserten Staat entgegensähe, würde man den »klassischen« staatlichen Angstvermeidungsaufgaben – »Ruhe, Sicherheit und Ordnung« (Schmitt) – zweifellos mehr Vorschußvertrauen entgegenbringen, als es aufgrund des heutigen, usurpierten bzw. deformierten Apparates und der Herrschaft rotgrün rückgebundener Gesellschaftserzieher der Fall sein dürfte. Gegenwärtig tritt zu oft »an die Stelle des Schutzes durch den Staat […] der Schutz vor dem Staat« (Reinhart Koselleck), indem Freiheitsräume vor dem allumfassenden Zugriff bewahrt werden müssen.
Diese Umkehrung der Verhältnisse – prinzipiell staatsnahe Menschen auf der Suche nach staatsfernen Refugien – entspricht einer bundesdeutschen Sondersituation und birgt einige Ambivalenzen. Bei der Kritik an diesem Staat und seinen handelnden Akteuren darf aus rechter Sicht keineswegs der Eindruck erzeugt werden, daß man die Institutionen per se ablehnt, obwohl es falsche Entscheidungen bestimmter Politiker und Verantwortungsträger sind, welche die Mißstände hervorrufen und verschärfen.
Die staatlichen Institutionen funktionieren prinzipiell, sie sind insbesondere in Deutschland traditionell tragfähig. Nur wurden sie über Jahrzehnte hinweg zur Beute von Parteien, Lobbygruppen und einer aggressiven, antifaschistisch grundierten Zivilgesellschaft. Deshalb scheint auch im politisch alternativen Bereich gelegentlich eine grundlegende Staatsferne durch, wo es im eigentlichen Sinne um die Befreiung des Staates von seinen Usurpatoren und um die Bewahrung der Idee des Staates gegen ihre reale Depravation gehen müßte.
Zu dieser Idee des Staates zählt auch – nicht zuletzt aufgrund des immanenten Solidarprinzips –, effektive Schutzschirme für all jene zu setzen und durchzusetzen, deren Lebensvollzug entlang »normaler« (in linksliberaler Auffassung: »spießiger«, »reaktionärer« und dergleichen mehr) Marker verläuft, deren möglicher (!) Verlust spezifische Angstgefühle reproduziert: Arbeit, Familie, Heimat. Es handelt sich bei diesen »normalen« Lebensentwürfen, für die der »bindungslose Selbstverwirklichungs-Individualismus« (Sahra Wagenknecht) etwas Fernes ist und traditionelle Gemeinschaftswerte etwas Nahes sind, gewiß nicht um jene vor Kreativität überbordenden, sich selbst stetig neu erfindenden Individuen und auch nicht um verschiedene innovative Unternehmertypen.
Aber diese beiden Beispielschichten kommen in jeder modernen Gesellschaft leidlich voran und stellen auch in der Bundesrepublik Deutschland naturgemäß quantitative Minderheiten dar. Für die Mehrheit, und auch dies wird durch die anhaltende Coronakrise verstärkt, wächst Unsicherheit dort, wo Abstiegsrealien oder auch nur Abstiegsängste zirkulieren. Die hohe Legitimitätsrate in der Bevölkerung, welche die herrschenden Eliten trotz zunehmender Malaise genießen, ist wesentlich dem ewigen Wohlstands- und Konsumversprechen der Bundesrepublik geschuldet.
Es bröckelt indes der Putz vom Mythos des Wirtschaftswunderlandes BRD – »Das ist das beste, das freieste Deutschland, das wir je hatten« (Jens Spahn dixit) –, wenn etwa die für viele Menschen reale Gemengelage aus Arbeitslosigkeitserfahrungen, relativer Erwerbsarmut (»Aufstocken« bzw. Transferbezug trotz eigener Arbeit), gewachsenem Niedriglohnsektor (der größte seiner Art in der EU), konstant hohen Pendlerzahlen sowie weiteren Problemfeldern wie Leih- und Zeitarbeit die Unsicherheit ob der neuen, »flexiblen« und »offenen« Arbeitsmarktsituationen verstärkt.
Just aus einer Sicht, die dem gemeinschaftlichen Leben in tradierten und Sicherheit offerierenden Strukturen (Familie, Volk, Nation etc.) mehr Priorität beimißt als Profitmaximierung und anderen inhärenten Mechanismen der herrschenden Produktionsweise, ist diese multiple Prekarität (d. i. die Ausweitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse) verheerend. Denn für viele Millionen Deutsche, überwiegend »Somewheres«, originär Verwurzelte in Ost wie West, sind damit Verhältnisse entstanden, in denen ein dauerhaft beständiger Lebensentwurf – stete Arbeit in der eigenen Heimat, um explizit dort seine Familie gut zu ernähren – nicht mehr ohne weiteres möglich erscheint (obgleich das gelegentlich subjektivem Empfinden geschuldet ist, nicht immer also realiter der Fall ist).
Dieser Lebensentwurf der Verwurzelung von Mensch und Arbeit in der Heimat ist jedoch als Anker neu zu gründender Familien auch angesichts der demographischen Katastrophe des deutschen Volkes dringend notwendig und bedürfte, staatspolitisch betrachtet, höchster Gewichtung. Unter individualistischen Bedingungen der jetzigen Gesellschaftsordnung ist eine Umkehr indessen nicht in Sicht. Statt Sicherheit, Stabilität und Ordnung im Lebensvollzug und des begründbaren Vertrauens in stabile Familienverhältnisse (als den Kern gemeinschaftlichen Zusammenhalts) grassieren zu oft Unsicherheit, Unbeständigkeit und mögliche Wirren, was subkutan oder offen Angst entstehen läßt – jedenfalls bei denen, die als Seßhafte und Heimatverbundene nicht stetig und abschnittsweise »der Arbeit nach« ziehen wollen und denen das propagierte smarte »Lebensgefühl« der dauermodernisierten Arbeitswelt, das geprägt ist von »Ungebundenheit, Freiheit und Weltbürgertum« (Wagenknecht), zuwider ist.
»Den auf Grundlage der Arbeit entworfenen Lebensplan«, so formuliert es daher Wolfgang Fritz Haug, »löst der in wechselnden Gelegenheiten zusammengestückelte Lebenslauf ab« – ein ganz zentraler Unterschied zwischen der sozial relativ abgesicherten Bundesrepublik als »nivellierter Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) und den Verhältnissen nach der (neo)liberalen Kehre der 1980er Jahre und folgenden. So erleben heutige Generationen trotz vorhandenem, beispiellosem Wohlstand der Gesamtwirtschaft eine Situation, »in der schlechthin alle Lebensverhältnisse von Unsicherheit gekennzeichnet sind«. Zu viele, die damit – typisch für atomisierte und ökonomistisch ausgerichtete Gesellschaften – »auf sich selbst zurückgeworfen« (Haug) werden, verzichten angesichts der neuen, falschen Normalität auf eine Familiengründung und auf ein geographisch und strukturell verwurzeltes Dasein, das wiederum durch Zwangssituationen wie Berufspendeln, Leiharbeit etc. ohnehin erschwert wird.
Wichtig ist hierbei, zu begreifen, daß es nicht ansatzweise »nur« um die seit David Graeber als »Bullshit-Jobs« definierten Formen von (gemeinschaftlich betrachtet: überflüssigen) Beschäftigungen geht, »die so vollkommen sinnlos, unnötig oder schädlich« sind, »daß selbst der Beschäftigte ihre Existenz nicht rechtfertigen kann«. Ganz im Gegenteil betrifft es einen repräsentativen Querschnitt der bodenständigen Gesellschaft – von Servicekräften bis zu Pflegern, von Heizungsinstallateuren bis zu Montageschlossern, von Solo-Selbständigen bis zu Kaufleuten, das heißt von unteren Schichten bis zur abstiegsbedrohten Mittelschicht. Letztere stellt in Krisensituationen traditionell eine »gärende« Masse dar und gerät nicht zwingend aufgrund ihrer realen sozialen Situation oder konkreter Betroffenheit in Bewegung, sehr wohl aber aufgrund eines geistigen Zustandes: aus Angst.
Gewiß: Die Angst in der Mitte vor Deklassierung ist nicht neu; Ferdinand Fried erblickte hierin eine Startbedingung für das durch eine mittelschichtenbasierte »konservative Revolution« herbeizuführende Ende des Kapitalismus (1932) in Weimarer Zeiten, Barbara Ehrenreich legte sechzig Jahre später eine ergiebige Analyse mit dem sprechenden Titel Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der Mittelklasse (1992) im bundesdeutschen Beritt vor. Aber das, was ein linker Forscher wie Reinhard Opitz dazwischen als »Proletarisierung der Mittelschichten« bezeichnen wollte – das »Ausgeliefertsein« in der »Lohnarbeit«, wie es in marxistischem Jargon heißt, meint Unsicherheit im künftigen Lebensvollzug –, erfährt durch die Coronakrise und die fortschreitende Digitalisierung relevanter Wirtschaftsbereiche tatsächliche Brisanz für all jene, die weder sich selbst als daueroptimierende Hyperkreative darstellen noch zu den fünf Millionen Deutschen im (konjunktursicheren) öffentlichen Dienst zu rechnen sind. 2021 ff. sieht erst jene »ökonomische Konzentration und wissenschaftlich-technische Revolution«, die 1969 noch als stimulierender Mythos – als Propagandathese mithin – bemüht werden mußte.
Zu hoffen ist, daß diese sich nun tatsächlich vollziehenden Prozesse, von denen die »Mitte« am stärksten betroffen sein wird, eine »Repolitisierung der innenpolitischen Szenerie bewirken und den repressiven Frieden der Formierten Gesellschaft, soweit er bereits hergestellt war, in Gefahr bringen« (Opitz) können. Wenn die gesellschaftliche (nicht: politische) Mitte aber tatsächlich von Abstieg und Unsicherheit bedroht ist, wird sie gerade nicht nach links blicken und vom politischen Juste Milieu, das für diese neue Situation verantwortlich zu machen sein wird, nichts mehr wissen wollen.
Dies erst wäre die Stunde einer solidarischen und patriotischen Prinzipien verpflichteten Rechten – zumindest dann, wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt als selbstbewußte Formation die authentische Repräsentation all derer ist, die an die Versprechen der »Eliten« geglaubt haben und künftig erfahren werden, daß diese sie nicht länger einhalten können oder wollen: etwa deshalb, da sie die staatlichen Kassen für »Klimaschutzziele« oder die Folgen offener Grenzen zu plündern bereit sind. Menschen revoltieren ja nicht, wenn sie arm sind, sondern wenn sichere Annahmen keine Realisierung finden und Versprechen nicht länger eingehalten werden (können). Schlüssig konstatiert auch der politische Provokateur Slavoj Žižek, daß »die Leute nicht rebellieren, wenn die ›Dinge wirklich schlecht stehen‹, sondern wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden« – wenn sie also angesichts eines möglichen Abstiegs »Angst« oder zumindest Sorge verspüren.
Hier muß man nun den inhärenten Doppelcharakter der Angst in der augenblicklichen Ökonomie deutlicher machen und die Sonderrolle für das rechte Lager betrachten: Angst kann im Politischen zu Apathie und Enthaltsamkeit führen oder aber zur Mobilisierung beitragen. Zwar hat ein Gesellschaftskritiker wie Bernd Stegemann recht, wenn er Ängste als Mittel begreift, um die Menschen zugunsten der herrschenden Ordnung auszurichten, und insofern er akzentuiert, daß »das emotionale Regime des Kapitalismus« gezielt »kollektive Ängste« nutzt, um die Normalbürger in ein konformistisches Korsett zu pressen.
Doch übersieht er, daß er und seinesgleichen selbst mit diesen Angstproduzenten in einer gemeinsamen Front stehen, weil ihr Ziel beinhaltet, entsprechende Konformitätskampagnen einseitig gegen rechts auszurichten, von wo aus man allein tatsächliche Opposition fürchtet; auch weil man weiß, daß es immer renitente Delinquenten geben wird, bei denen Angst nicht zur Teilnahmslosigkeit, sondern zu bewußtem Engagement führt: zur Flucht nach vorn.
Erst in diesem Zuge wird verständlich, weshalb Kapital und subordinierte Politik sämtliche »Veränderungsenergien auf Ablenkziele« (Rainer Mausfeld) umleiten und den Kampf gegen rechts zum Dauerprinzip der nur in dieser Feinderklärung zu sich selbst findenden negativen Bevölkerungsgemeinschaft stilisieren. Denen, die aufgrund der Verhältnisse bereits Angst in sich tragen, wird neue Angst gemacht, wenn sie dazu tendieren, wirklich und nachhaltig vom vermeintlich »Alternativlosen« abzuweichen.
Somit sind kapitalistische Ökonomie und Angst kein Zwillingspaar; der Kampf gegen rechts macht sie zum Drilling. Denn die Angst möglicher Noch-nicht-Rechter vor Arbeitsplatzverlust und gesellschaftlicher Ächtung ist heute, fast fünf Jahrhunderte nach Michel de Montaigne, jene Angstform, die »alle anderen Beeinträchtigungen an Heftigkeit« übersteigt. In einer postmodernen Konsumgesellschaft, deren Angehörige sich oft explizit über Job, Geld und Status definieren (was einstweilen im großen Maßstab nicht zu ändern ist), scheint der drohende Verlust von Job, Geld und Status durch mediale und politische Stigmatisierung eine smarte wie wirkungsvolle Waffe der Herrschenden zu sein; eine Waffe, die als Abschreckungsinstrument effektiv wirkt, ohne daß staatliche Stellen repressiv vorgehen müssen wie noch in den 1989 / 90 untergegangenen Systemen linker Bürokratenapparate.
Würde nun diese Form der speziellen Angst fallen, sähe sich der Zusammenhang aus Angst und Ökonomie zumindest im Bereich des dezidiert Politischen negiert, jenem Bereich, der für eine politische Alternative besonders bedeutsam erscheint. Aus diesem Grund ist die Erziehung zur Resilienz derer, die einer »Mosaik-Rechten« prinzipiell zugänglich sind, ebenso dringlich wie die perspektivische Gestaltung von Schutzschirmen für all jene, deren politische Enthaltsamkeit tatsächlich von der Furcht vor Arbeitsplatzverlust rührt (und nicht als bequemer Vorwand für subjektive Apathie instrumentalisiert wird).
Denn just den selbstbewußten, selbstsicheren und auch im monetären Segment angstfreien Widerständigen will der politisch-ideologische Staatsapparat ebenso verunmöglichen wie führende Wirtschaftskreise und die konformistische Linke. Diese neue Einheitsfront bedarf der Angstproduktion; wir bedürfen ihrer Überwindung.