Jene Epochen der Geschichte, in denen eine Großzivilisation damit beginnt, die territorial begrenzte, kleinteilige Staatenwelt zu absorbieren und ihre nationalen Kulturen einzuebnen, sind zugleich die Zeitalter einer universal ausgreifenden, kollektiven Aufwallung der Angst. In einer sich unabsehbar weitenden Welt geht die heimatliche Verbundenheit mit Ort und Land verloren, werden lebensweltliche Zugehörigkeiten und Daseinsverhältnisse brüchig, erfährt sich der Mensch als Individuum, das alleine in der Welt steht. Wenn die tragende Überlieferung brüchig wird und das Eigentümliche, das Halt gibt, für wertlos und nichtig gilt, stellt sich die Welt als unheimlich und bedrohlich dar.
Es kommt die Zeit der Unheilserwartungen und Heilsverheißungen, der Untergangspropheten und Erlöser, denen die Aufgabe zugemessen ist, die ubiquitär empfundene Verunsicherung und Angst zu bewirtschaften, die bevorstehende endzeitliche Katastrophe an die Wand zu malen und der geistigen Obdachlosigkeit neue, sinnstiftende Inhalte anzubieten. Die verunsicherte, geistig abgezehrte Masse sucht nach affektiver Entlastung und wird empfänglich für jeden dramatischen Vorstellungsinhalt, jede apokalyptische Erzählung, an die ihre Angst sich anhängen kann.
Verunsicherte, angstgesteuerte Sozialkollektive begeben sich der Tendenz nach in eine Kindsposition, schalten in einen Modus der Infantilität. Handelnd und die Welt betrachtend wie ein Kind, sehnt man sich nach psycho-ökonomisch entlastender Gewißheit, nach Schutz und Sicherheit im Angesicht einer allseits heraufziehenden Gefahr. Der Umstand, daß eine Gesellschaft in den Kindern eine seherische Kraft verkörpert sieht und der Kindlichkeit ein revolutionär-sozialtherapeutisches Potential zubilligt, impliziert eine fundamentale Absage an die Vergangenheit, an das historisch Vorgefundene und Gewordene. Die Kinder sind diejenigen, die von Geschichte und Kultur noch verhältnismäßig unberührt, von der Sünde unbefleckt, von jenen kulturell erworbenen Formen und Ordnungen unverdorben sind, die nach dem Willen der Apokalyptiker überwunden, zerstört und durch neue, geschichtslos-utopische (Jenseits- oder Gegen-)Welten ersetzt werden sollen.
Die Kinder sind die geborenen Führer, welche die Menschheit aus den Fängen der alten, untergehenden Welt und ihres logisch-kohärenten, rational berechnenden Denkens erretten und in einen lichten, erlösten, von namenloser Angst entlasteten Kosmos führen sollen. Das Heil ist somit nur jenen verheißen, die sich von der Denk- und Lebensweise der alten Gesellschaft, von der herrschenden Ordnung der Welt möglichst vollständig abwenden und distanzieren. Der schuldig gewordene Mensch muß einen sofortigen, radikalen Kurswechsel einleiten, um die beispiellose Katastrophe noch in letzter Minute abwenden zu können. Er kann dem Untergang nur entkommen, indem er in einen neuen, postgeschichtlichen Kosmos eintritt, der mit der alten, in Schuld und Sünde verstrickten Welt nichts mehr gemein haben darf. Nur wer mit dem Bestand der geschichtlichen Überlieferung konsequent bricht und das neue Reich der Herrlichkeit betritt und annimmt wie ein Kind, kann der kommenden, allumfassenden Apokalypse entrinnen.
Eine (seit Platons Beschreibung des »schönen, jugendfrohen Anfangs der Tyrannis«) immer wieder validierte Gesetzmäßigkeit der politischen Entwicklungs- und Gestaltenlehre besagt, daß das Ende des freiheitlichen Gemeinwesens naht, wenn Kinder und Jugendliche beginnen, den politischen Raum zu okkupieren. Wenn alles geschichtlich Überkommene wertlos und nichtig wird, ist auch der von den Vätern und Vorvätern geschaffene, auf Dauer gestellte, institutionell gesicherte politische Körper nur noch Teil einer obsoleten, geschichtlich kontaminierten Welt.
Die infantile Weigerung, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben und den eigenen Wunschvorstellungen Beschränkungen aufzuerlegen, verträgt sich nicht mit jener Politik des realpolitisch Mach- und Erreichbaren, die in den Einrichtungen und Gesetzen des freiheitlich verfaßten Staates verkörpert ist. Eine infantil regredierte Politik ist fest entschlossen, kompromißlos und gegen alle Widerstände (mit dem Teddybär im Arm oder dem Kantholz in der Hand) das allumfassend Gute durchzusetzen. Indessen ist, wie schon Hannah Arendt feststellte, »die Güte als eine in sich stimmige Lebensform innerhalb der Grenzen des öffentlichen Bereichs nicht nur unmöglich, sondern, wo immer sie versucht wird, ausgesprochen zerstörerisch. Niemand ist sich der ruinösen Qualitäten der tätigen Güte klarer bewußt gewesen als Machiavelli, der in einem so berühmten wie berüchtigten Absatz zu sagen wagte, er wolle die Menschen lehren, nicht gut zu sein.«
Die Maßlosigkeit des kindlichen Wunsch- und Anspruchsdenkens überschwemmt die von den Vorfahren errichteten und mühsam verteidigten Grenzen, um einem Reich der uneingeschränkt reinen Herzen, der Humanität ohne Wenn und Aber den Weg zu bereiten. Indem das überlieferte Bildungsideal und die geistig-künstlerische Tradition als vom Ungeist einer alten Zeit befallen und vergiftet gelten, wird jene kulturelle Substanz zerrieben, aus der sich das bürgerliche Selbstbewußtsein und die potentielle Widerständigkeit gegen eine macht- und zwangsstaatliche Vereinnahmung speisen können.
Für die auf diese Weise existentiell verängstigte, wehrlose Gesellschaft ist Entlastung von der namenlosen Verunsicherung erst dann erreicht, wenn ein neues Äquilibrium entstanden ist: eine neue Ordnungskonzeption, die, der kindlichen Gemütsverfassung entsprechend, maximal komplexitätsreduziert ist, indem sie sämtliche Spuren der alten Welt und ihrer Ordnungen getilgt hat und an ihre Stelle einen neuen, universalstaatlichen, störungsfrei autoritär regierten Kosmos setzt, dessen gütiger Aufsicht man sich schutz- und hilfesuchend unterstellt. Auf dem durch jugendfrohe Zeloten der Dekonstruktion planierten, vom vielschichtig komplexen Gestrüpp der Geschichte gereinigten Gelände schreiten die neuen Herren, die Regenten der Einen Welt um so leichtgängiger und ungehinderter voran.
Die Unterwerfung unter die Masterpläne philanthropisch erleuchteter Finanzmogule und Tech-Milliardäre und ihre hybriden bio-hygienischen Projekte, die unser aller Überleben sichern sollen, ist atemberaubend. In dem angstgetriebenen, infantil regredierten Sozialkollektiv ist der eigensinnige, auf der autonomen Gestaltung seines Lebens bestehende Charakter nicht mehr gefragt. Wenn die westlichen Gesellschaften sich entschließen, in der Kindsposition und im Modus der Angst zu verharren, begeben sie sich immer weiter in die Hände paternalistischer, planetarisch aufgestellter Mächte, denen die Aufgabe zugewiesen ist, uns allzeit zu beschützen, zu versorgen und zu betreuen.
Diese Herrscherfiguren des kommenden paternalistischen Weltverwaltungsregimes wirken, wie Norbert Bolz andeutet, wie wohlwollend-fürsorglich auftretende Figuren, die uns väterlich an die Hand nehmen, nur unser Bestes wollen und uns in die richtige Richtung lenken; deren überlegene Kalküle uns davor bewahren sollen, durch allzu eigensinniges Denken oder unbedachtes Handeln Schaden an Körper und Seele zu nehmen. Doch hat die universale väterliche Aufsicht, in deren Arme sich die infantilisiert verängstigte Gesellschaft flüchtet, noch eine andere, düstere Seite: Sie spiegelt sich in jener Titulatur des pater patriae wider, welche die einstigen Herrschergestalten des römisch-spätantiken Weltimperiums sich zuerkennen ließen, um mit ihrer Hilfe die ehemals privaten, weitreichenden Autoritätsbefugnisse des pater familias in den politisch-staatsrechtlichen Raum zu erweitern: Vermittels der Rechtsfigur des pater patriae wird die altrömische Verfügungsgewalt des Vaters über Leben und Tod seiner Kinder (die vitae necisque potestas) auf die gesamte Untertanenschaft ausgedehnt, also auf jene politisch entmündigte Gesamtbevölkerung ausgeweitet, in die das weltumspannende Universalstaatswesen die vormals autonomen, handlungsmächtigen Völker eingeschmolzen hat.
Morphologisch analog hierzu sprechen sich auch die fürsorglich auftretenden Universal-Magnaten unserer Tage die Berechtigung zu, im Bunde mit Ärzten, Medizinern, Biowissenschaftlern und Gesundheitsexperten in unsere unmittelbare, physische Lebendigkeit zu intervenieren. Die paternalistisch-technokratischen Weltenlenker fühlen sich berufen und ermächtigt, die als unzulänglich empfundene menschliche Leiblichkeit genetisch zu manipulieren, transhumanistisch zu optimieren und thanato-politisch zu eliminieren. Erst in einer von cäsarischen Gestalten regierten, grenzenlos ermächtigten, eine politisch entrechtete Masse ingenieurmäßig verwaltenden Universalstaatlichkeit (und nicht, wie Giorgio Agamben in seiner rechtsphilosophischen Untersuchung über den homo sacer meinte, im neuzeitlichen Staat überhaupt) erhält das »hagiographische Epitheton« des pater patriae, der omnipotenten väterlichen Staatsgewalt, »seine ursprüngliche, finstere Bedeutung« zurück.
Der Zusammenklang von apokalyptisch aufgeladenen Narrativen, infantiler Komplexitätsreduktion und zwangsstaatlichem Verfügungsanspruch verweist zugleich auf jenes Phänomen der Realtranszendenz, das den prometheischen politischen Großprojekten der Moderne zugrunde liegt. Demnach wird die ursprüngliche, kosmisch-jenseitige Verheißung in die Immanenz des Diesseits verlagert und profanisiert. Das aus allen Bindungen entlassene, menschheitsunmittelbar gestellte Individuum wendet sich dabei Sinnangeboten zu, die die umfassende Verlusterfahrung kompensieren.
Haben wir es insofern mit einer neuen Form jener totalitären Demokratie zu tun, die schon Jacob Talmon auf die Emanzipation des Menschen aus allen Traditionen, Abhängigkeiten und überkommenen Institutionen zurückführte? Wenn alle mittelbaren Machtzentren – Klassen, regionale Gemeinschaften, Korporationen – zerfallen, finden sich die Individuen von einem einzigen Allgemeinwillen geleitet wieder, dessen Durchsetzung eine übermächtige Staatsgewalt übernimmt.
Bedeutet dies, daß auch die sich abzeichnende Priesterherrschaft der Sozialhygieniker und der Klimatologen jenem ehernen Gesetz der modernen messianischen Bewegungen unterliegt: nämlich wieder zu verschwinden, nachdem sie die materiellen, sozialen und geistigen Ressourcen des von ihnen okkupierten Gesellschaftskörpers in einem Maße aufgezehrt haben, das dieser nicht länger verkraften kann? Oder sehen wir uns möglicherweise genötigt, noch einen Schritt weiterzudenken? Stehen wir eventuell vor einer epochalen Transformation des Politischen, die den herkömmlichen Begriff der Geschichte überhaupt in Frage stellt? Signalisiert die progressive Inbesitznahme des (welt-)politischen Raumes durch die »kolossalen Individualitäten« (Hegel) von Gates bis Trump und von Soros bis Schwab, daß der abendländische Zivilisationsraum sich anschickt, in eine Ära der Cäsarenherrschaft einzutreten, wie Oswald Spengler sie vorausgesehen hat?
Demnach sind die Cäsaren jene »Tatsachenmenschen von ungeheurem Verstande«, die ein neues, den Kampf um Ideen, Rechte und Prinzipien obsolet machendes (Geschichte im klassischen Sinne stillegendes) Zeitalter begründen. Die paternalistischen Universal-Magnaten »ergreifen das Weltregiment, und das Reich der Bücher und Probleme erstarrt oder versinkt in Vergessenheit.« Die von ihnen bestimmte Epoche kennt nur noch die persönliche Geschichte und den persönlichen Machtehrgeiz jener, die sich in den »Privatbesitz der Welt« zu setzen versuchen und um diesen konkurrieren.
Deuten das herrische Auftreten der Welt-Oligarchen, die überall feststellbare Unterwerfungslust und der beschleunigte Abbau rechts- und verfassungsstaatlicher Formen darauf hin, daß wir tendenziell auf eine abendländische Cäsarenzeit zusteuern, in der es »keine politischen Probleme mehr gibt«? Ströme von Blut, so Spengler, hatten »zur Zeit der kämpfenden Staaten das Pflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen.«