»Das macht mir irgendwie angst.« »Da krieg ich arge Bauchschmerzen.« Darf man sagen, daß dies heute populäre Geständnisse seien? Vor dreißig, vierzig Jahren wären solche Äußerung unüblich gewesen. Damals war das Zeitalter der öffentlichen Emotion noch nicht angebrochen. Daß sich Ängste und Sorgen gern körpermetaphorisch kleiden, ist konsequent. Beides hängt ja tatsächlich zusammen.
Offen geäußerte Angst eignet genau wie der sich somatisch artikulierenden, hypochondrischen Sorge etwas Ansteckendes. Wir kennen das aus dem Nahbereich: Eine Schülerin äußert, ihr sei »voll schlecht«. Eine weitere folgt, dann setzt der Dominoeffekt ein: Es folgen eine dritte, gar eine vierte, fast allen ist plötzlich speiübel, Gendergefälle inklusive, also eher den Mädchen – pardon, aber das ist evident, Eltern von Schulkindern werden wissen, was ich meine.
Inwiefern greift die Konjunktur eines im Klassenzimmer oder – das Szenario mal im größeren Maßstab angenommen – medial vervielfältigten Begriffs auf die (gefühlte) Realität über? Der Terminus beziehungsweise die Gefühlsäußerung »Angst« sowie mit ihr assoziierte Wortverwandte (Panik, Trauma, Trigger, Flashback) sind seit etlichen Jahren auf gewisse Art so modisch wie magnetisch geworden: Filmszenen, in denen einer Frau anzüglich hinterhergepfiffen wird, »triggern« empfindsame Gemüter, denen auch mal hinterhergepfiffen wurde. Einer, der in seiner Umgebung Augenzeuge eines anaphylaktischen Schocks wurde, leidet fortan schwer unter Bienenpanik. Jemand, der die Großmutter auf dem Sterbebett sah, ist »traumatisiert« und kann das Wort »Tod« nicht mehr ertragen. Offenkundig haben uns 71 Jahre ohne Krieg (übrigens ein Rekord) zu einem zitternden, bibbernden, angstsüchtigen Volkskörper gemacht.
Es gibt nun also eine »Angstspirale«, analog zur »Schweigespirale«, die die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann 1965 konstatierte (und 1972 aktualisierte). Opfer der sogenannten Schweigespirale hielten und halten den Mund, weil sie lieber nicht zu denen gehören wollten und wollen, die abseits der veröffentlichten Meinung stehen. Das ist seither ein psychologischer, häufig erklärter Effekt.
Ein erwähnenswertes Phänomen zwischen der Schweige- und der Angstspirale ist übrigens als »Bystander-Effekt« oder »Pluralistische Ignoranz« bekanntgeworden: Wer Unrecht geschehen sieht, wird mit nachlassender Wahrscheinlichkeit eingreifen, je mehr ebenfalls tatenlose »Bystander«, also Danebensteher, Zuschauer, Gaffer anwesend sind. Von der konkreten Lebenswelt ist das relativ problemlos auf die virtuelle Umgebung der sozialen Netzwerke übertragbar: All diese soziologisch greifbaren Phänomene betreffen die Gruppendynamik. Im Zeitalter der sozialen Medien ist nichts ohne solche Bewegungsrichtungen relevant. Schweigen, Ignorieren, Angst haben – das ist eine Trias.
Die Angstspirale greift noch mehr als die Schweigespirale oder der Zuschauereffekt vom rein seelisch-moralischen Raum über auf den Leib. Sie gemeindet den Körper ein in ihre beengenden Mechanismen. Angst pflegt nicht im diffus »Seelischen« steckenzubleiben. Angst spiegelt sich stets im Körper ab. Echte Angst löst zwingend körperliche Reaktionen aus: Herzrasen, Schweißausbruch, Zittern, Atemnot.
Daß es »nützliche« Ängste – nämlich bei konkret drohender Gefahr – und damit einhergehende Körperreaktionen gibt, ist bekannt. Ängste, die sich nicht in Flucht oder offensivem Widerstand artikulieren können, schlagen auf entlegenere Symptome um. Bekannt ist diese Interdependenz zwischen Körper und Seele seit Jahrhunderten. Niederschlag in der publikumsorientierten Kultur fand das Phänomen beispielhaft in Rainer Werner Fassbinders Gastarbeiter-Melodram Angst essen Seele auf von 1974. Hier erleidet der (offensiv als bemitleidenswert geframte) Marokkaner Ali ein sorgenbedingtes Magenschwür, »wie so viele Gastarbeiter, die unter schlechten Bedingungen leiden« (Wikipedia).
Offiziell so bezeichnet und kassenärztlich finanziert wird der seelisch-körperliche Zusammenhang, also die »Psychosomatik«, trotz einer langen Forschungsvorgeschichte aber erst seit 2003. Zuvor liefen Psychotherapie (für die milderen Fälle, volkstümlich: Neurosen) und Psychiatrie (für die heftigeren Kandidaten, die Psychotiker) parallel, das heißt: getrennt zur körpersymptomorientierten Schulmedizin. In der insofern recht neuen psychosomatischen Rubrik spielt das Thema »Angst« eine überaus gewichtige Rolle. Es gibt eine Fülle psychosomatisch orientierter Literatur zu Themen wie Eß- und Zwangsstörungen oder Alkoholsucht. Bücher zu Ängsten und Depressionen (die ohnehin oft Hand in Hand gehen) tauchen in Bestsellerlisten auf. Angststörungen und Panikattacken für immer loswerden und Angst kocht auch nur mit Wasser und Die Angst, der Buddha und ich: aktuelle Spitzentitel, die den Ratgeberbedarf bedienen.
»Freie Plätze« bei ambulanten Psychotherapeuten (man vergißt das so leicht, wo ständig von vorgeblich fehlenden »Intensivbettkapazitäten« die Rede ist) gibt es derzeit kaum oder gar nicht mehr. Man staunt und kann es kaum glauben, wenn man die Zahlen psychiatrischer Fachverbände liest, wonach zwölf Millionen Deutsche von Angststörungen betroffen sind. Destatis, das offizielle statistische Portal des Bundes, stützt diese kühne Behauptung jedoch: 25 Prozent der Deutschen sind und waren in ihrem Leben »angstgestört«. Diverse »Ängste vor Dingen oder Tieren« oder der Faktor »extreme Schüchternheit« (ein vielsagendes Phänomen, das man auffächern könnte) machen dort den Hauptteil aus.
Sämtliche offiziellen Angstmessungen fanden »vor Corona« statt. Die Angst in Corona-Zeiten hat noch keine Ziffern – oder nur andeutende. Daß die Hälfte der Bevölkerung heute findet, die »Corona-Maßnahmen« seien noch nicht streng genug, gibt aber einen Hinweis. Pflegekräfte berichten, daß die Angstsymptomatik jener Personen, die symptomfrei, aber »coronapositiv« eingeliefert werden, den Arbeitsalltag bestimmen – und daß diese eigentlich unbegründete Angst den eigentlichen Streß auf »Corona-Stationen« verursache (auf dem YouTube-Kanal Ken Jebsens findet man hierzu vielsagende Originaltöne einer Intensivschwester).
Es gibt zeitgebundene Ängste. Die Frau, die (in vergangenen Jahrhunderten vielfach illustriert) panisch auf den Tisch steigt, weil am Fußboden ein Mäuslein wuselt – das ist nicht zeitgemäß. Was heute – kurzer Blick auf Dr. Google – zuvörderst »angst macht«: Mutterschaft, Lockdown, Corona-Schutzimpfung, Quarantäne. Die Psychologie unterscheidet zwischen »Trait«- und »State«-Ängsten. State-Ängste sind aktuelle, sehr konkrete Ängste. Trait-Ängste umfassen einen grundlegenden Wesenszug, knapp gesagt: eine wesentliche Ängstlichkeit. Frauen sind (seit über dreißig Jahren gelten die Umfragen des Versicherers R+V als maßgeblich) dabei übrigens durchweg das ängstlichere Geschlecht. In Zeiten von Corona dürften beide Angstformen eine ungute Konjunktion eingehen.
Jedoch: Was sagen uns solche »repräsentativen« Umfragen? Wenig. Echte Ängste sind wesentlich Privatsache. Echte Ängste übersteigen das simple Besorgtsein, das sich durch bekannte (vor allem mediale) Mechanismen zu einem teils tönernen (also geschwätzigen), teils ernsthaft lähmenden Angsttrend verstetigen kann. Sie äußern sich auch nicht in einem Ja oder Nein zu konkreten Fragen eines Interviewers. Wir dürfen gespannt sein, wann sich Ängste »rund um Corona« in validen Umfragen niederschlagen – und ob es sich dabei um kurzfristige Konjunkturängste oder um einen echten, tiefgehenden »Triggerpoint« handelt.
Die tiefgreifende Angst liegt nicht äußerungsfertig auf der Zunge. Sie kriecht subkutan in die Körper. Von dort aus äußert sie sich nicht verbal, sondern nimmt erst mal ohne Namensschild Platz. Diese Angst, die vielleicht später als »somatoforme Störung« oder, spezieller, als »generalisierte Angststörung« im medizinischen Kriterienkatalog angekreuzt wird (falls der behandelnde Arzt sensibel genug oder der Patient entsprechend wachsam ist), nistet sich zunächst ein und macht es sich gemütlich. Ihr Zepter, das Zepter der Angst, regiert verborgen.
Ängste werden selten als seelische Nöte wahrgenommen. Sie finden körperliche Stellvertreter. Zunächst wird dem Angstinhaber die Möglichkeit der Abwehr durch Kontrolle suggeriert. Diverse Fitneßtracker regeln das, wenigstens halten sie uns informiert. Sie teilen uns mit: Im Grunde könnten wir alle heute besser atmen, besser essen, besser laufen und durchhalten und ja, auch besser Abstand halten. Wir haben es eigentlich in der Hand, wenn nur die richtige Disziplin und der eiserne Wille zuhanden wären.
Gegen die Angst, diese fiese Königin, hilft das leider nicht. Jeder mühselige Versuch, ihr Einhalt zu gebieten, liefert ihr um so mehr Futter. »You can run, but you can’t hide« ist eine vielvertonte Weisheit: »Renn ruhig davon, es erwischt dich eh.« Angst wurzelt wie die meisten psychischen Probleme im mangelnden Selbstvertrauen. Es ist nicht zuviel gesagt, daß uns genau dies – die Souveränität im eigenen Beritt – seit Jahrzehnten gezielt abtrainiert wurde.
In Corona-Zeiten kann man leicht zum Täter werden oder ein Täterbewußtsein entwickeln. Man kann so vieles falsch machen. Man muß eigentlich mit Argusaugen nicht nur sich selbst, sondern das gesamte Umfeld beobachten. Der potentielle Sündenkatalog ist gigantisch: Infektionsangst, Ausgehangst, Todesangst, Impfnebenwirkungsangst, Regelübertretungsangst, Impfverpassungsangst, Enkelangst, Coronadiskussionsangst.
Die Angstmaschine lief schon vor der Corona-Zäsur 2020 gut geölt. Es gibt angeblich so viel zu befürchten: Rassismus, Spaltung, Klima, Mobbing, Diskriminierung, Haßsprache und so weiter. Offiziös gilt das Unken vom »Untergang des Abendlandes« als reaktionärer Kulturpessimismus – allein, die sogenannten Progressiven inszenieren dieses Drama längst zu ihrem eigenen Nutzen. Das ist die Angst-Wende der Jetztzeit. Im angstbesetzten Körper wohnt heute eine linksindoktrinierte Gesinnung.
In Corona-Zeiten regieren Sicherheitslogiken, wie wir sie früher nur aus Science-fiction-Romanen kannten. Fast jeder hätte noch vor zwei Jahren ein Szenarium mit rundum mundnasenschutzmaskenbewehrten Bürgern für eine alberne, groteske Dystopie gehalten. Völlig überzogen, total übertrieben! Die semantische Verschiebung zwischen »krank« und »gesund« unterliegt einer bislang ungekannten Paranoia: Gesund gefühlt kann hochinfektiös bedeuten! Jeder kann Überträger sein! Überall droht uns Unheil. Die Kriterien für sogenannte krankhafte Ängste (Unangemessenheit der Angstreaktion gegenüber den Bedrohungsquellen; hohe Angstintensität und Persistieren der Angst) geraten gerade ins Wanken – und werden nebenher zum Massenphänomen.
Die sogenannte Coronapandemie verschafft uns durch induzierte Angst also eine Unmenge psychosomatisch Erkrankter. Innerhalb der ICD-10-Nomenklatur, also der international gebräuchlichen Klassifikation sämtlicher medizinischer Diagnosen, sind die Chiffren F40 bis F48 den »neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen« vorbehalten. Besonders interessant, weil nun überrepräsentiert, sind die Krankheitsbilder F40 »Phobische Störungen«, F41 »Panikstörungen« sowie F 41.8 »Angsthysterie«. Wie oben ausgeführt, haben Psychotherapeuten, Psychologen und Psychiater seit etlichen Monaten bundesweit keine freien Termine mehr, weil der Andrang so groß ist. Zum Psychofachmann überwiesen wird dabei keinesfalls jeder, der mit andauernden Oberbauchschmerzen, Herzrasen, Schlaflosigkeit (also typischen Anzeichen für eine generalisierte Angststörung oder Depression) in die Hausarztpraxis kommt.
Vielleicht – hier die Sicht eines medizinischen Laien – ist das rezente Angstgeschehen vergleichbar mit krankhaften, körperlichen Autoimmunreaktionen. In besonders hygienischen, sterilen, städtischen Umständen aufgewachsene Kinder entwickeln bekanntlich häufiger als Landkinder, die an Schmutz, Staub, Tiere und Geschwister gewöhnt sind, Allergien und andere »moderne«, somatische Krankheitsbilder.
Analog reagiert heute vor allem derjenige mit krankhaften Ängsten, der zuvor jeder mutfordernden Herausforderung und jeder Begegnung mit dem »echten« Leben (jenseits der Mainstreambekenntnisse) entwöhnt war. Angstkrank wird, das wäre meine These, eher der Normorientierte. Der, der den Stabilitätsanker braucht, den das Treiben im und mit Hauptstrom bietet. Wie lauten und lauteten die Devisen und erzieherischen Mahnungen an die »Artigen« der vergangenen deutschen Jahrzehnte? Hüte dich vor diesen Keimen! Fall nicht aus der Rolle! »Das macht man nicht!« Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!
Wer sich stark in den je gängigen Diskurs, in das aktuell Sagbare integriert, gerät leichter ins Wanken, sobald Unsicherheiten auftreten. Der Normorientierte (und eigentlich ist er ja der »gute Bürger«) ist verunsicherbar. In seinem Jahrhundertwerk The Lonely Crowd (1950; in deutscher Übersetzung 1956: Die einsame Masse) hat David Riesman den vermutlich bis heute gültigen Unterschied zwischen »inner-directed« und »other-directed«, also zwischen außen- und innengeleiteten Persönlichkeiten herausgearbeitet.
Demnach dominiert heute der außengelenkte, stark an medial vermittelten Normen orientierte Typus. Abweichungen vom derart vermittelten »Normalen« (wir schrieben damals die »harmlosen« fünfziger Jahre – und selbst noch in den Sechzigern durften Kontrahenten wie Adorno und Gehlen gepflegt im TV disputieren!) erzeugten dabei ein Gefühl der Schuld. Heute, da der Mensch viele Stunden täglich »an der Strippe« hängt, gilt das in weit stärkerem Ausmaß als damals. Öffentliche Akzeptanz ist heute längst zum bestimmenden Wertmaß geworden.
Der Unterschied zu früheren Zeiten – Abweichlerei und Nonkonformität standen fraglos selten hoch im Kurs! – ist ein dreifacher: Erstens ist »Haltung« anders als in freieren Zeiten heute ein monolithischer Block: Zu unüberschaubar vielen Themen und Fragen ist nur mehr eine Haltung (sanktionsfrei) akzeptabel. Zweitens: Die richtige Haltung wird von der Wiege bis zur Bahre staatspädagogisch betreut. Rebellische Jugend gibt es kaum, es gibt nur Wächter des Konsenses und solche, die Angst haben, ihn zu übertreten. Drittens: Das Gebot der Norm hat die Körper in stärkerem Maße erfaßt, als das selbst zu körperverherrlichenden Zeiten wie der NS-Ägide der Fall war.
Nonkonformisten (sie müssen mittlerweile, siehe »Querdenker«, nicht mal mehr annähernd »rechts« zu verorten sein; dies wird ihnen qua Dissidenz schlicht zugeschrieben, zumal es ein Totschlagargument ist) haben ihren Zoll zu zahlen. Wer heute jäh, also unversehens, Ungemach verspürt im Wahrnehmen der Realität bei gleichzeitigem Abgleich mit der veröffentlichten »Wahrheit«, kann ins Straucheln geraten! Diese Dissonanz, die das Aus-der-Reihe-Tanzen verursacht, ist oft geistig nicht aufzufangen. Sie findet aber ihre Wege – und wenn es Wege ins Verderben, zumindest in eine körperliche Symptomatik sind. Wem x‑fach mitgeteilt wird, er sei mit seiner Meinung, seinem Befinden und seiner Gefühlsäußerung hier und heute »fehl am Platze«, der mag wohl öffentlich auf eben seiner Position, seiner Überzeugung verharren. Der Streß, den diese Beharrlichkeit im Körper verursacht, wird sich selbst bei Menschen mit stabiler Gesundheit früher oder später körperlich niederschlagen.
Während für die beiden Corona-Jahre noch keine offiziellen Suizidzahlen abrufbar sind, warnt Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, daß Selbsttötungen seit je zu 90 Prozent in Verbindung mit einer negativ verzerrten Weltsicht stehen – womit wir heute ja geradezu phantastische Voraussetzungen hätten. Fest steht immerhin: Wir werden Krüppel haben, viele. Aber ganz anderer Art als damals. Schön anzuschauen wird das aber auch nicht sein.