Es ist ein Manifest des Sehens, der Schönheit, der Kunst. Es ist das (umfang)reichste, durchkomponierteste und auf einer faszinierenden Bildungshöhe aufbauende Manifest freier Kunst(geschichte). Der sperrige Titel täuscht; keine weitere Studie zu Picasso, sondern ein Meisterwerk der Kunstbetrachtung, eine Offenbarung des genauen Sehens, ein von den Fingerspitzen Dürerscher Gemälde bis zu den großen Fragen der Kunst reichendes Lehrbuch, das aus dem »Ermüdungszustand« gegenwärtiger Kunstwissenschaften ausbricht, indem es zu jenem unerschöpflichen Reichtum unserer europäischen Kultur hin- und in die Höhen deutschen Nachdenkens über Schönheit und Wahrheit in der Kunst, wie dies seit Winckelmann unserem Land eigen war, hinaufführt.
Reinhard Liess (*1937 in Schlesien) – Schüler Hans Sedlmayrs, Regieassistent bei Wolfgang Wagner in Bayreuth, 1990 bis 2002 Professor in Osnabrück – hat fast zwei Jahrzehnte an diesem Werk gearbeitet. Es ist keine chronologische Kunstgeschichte, sondern Schritt für Schritt bildet Liess anhand zahlreicher Kunstwerke unser Hinsehen und damit unser Verständnis für antike Statuen, Raffaels Madonnen oder die so ferngerückt erscheinende Welt Michelangelos, Rubens’, Tizians, Goyas und vieler mehr. Werke der Vergangenheit verbindet Liess mit den Fragen der Moderne; Picasso begleitet uns durch alle drei Bände. Vor allem erschließt Liess den heute in seinem Fach so verachteten Begriff der Schönheit und ihrer Mannigfaltigkeit.
Liess kennt die ideologischen Phrasen verengter Kunstdiskussionen. Beißend sind seine Kritiken an der »Scientific correctness«. Aber Liess geht es um mehr, um erhöhende und vertiefte Bildung. Daher ist von einem blätternden Lesen durch Herauspicken etwa aktuell klingender Kapitel zu Ausstellungen, zum Holocaust-Mahnmal, zur Globalisierung der Kunst abzuraten, denn damit wird nicht faßbar, was in den bis ins kleinste aufeinander aufbauenden, sich durchdringenden und Themen immer wieder neu durchdenkenden Kapiteln anhand etwa einer Niobide, der Erschaffung Evas, der Bürger von Calais, der Madonna des Hauses Pesaro und und und erarbeitet worden ist.
Liess’ Arbeit ist Arbeit für den Leser! Man lasse sich also viel Zeit, Zeile für Zeile, kein Kapitel überspringend, denn gerade dann, wenn man glaubt, vor einer Wiederholung zu stehen, setzt Liess neu an, folgt eine Überraschung, die Klärung eines Begriffes, ein weiterer Höhepunkt.
Die Wochen des sorgfältigen Lesens bedeuten gerade für Jüngere, für Kunsthistoriker aber auch Künstler, einen unglaublichen Bildungssprung über Jahre hinweg. Bereichernd wird uns dieses ideen- und gedankenreiche Werk durchs weitere Leben begleiten, werden sich unsere Museumsbesuche ändern, denn hier schreibt jemand, der uns nicht nur teilhaben läßt an seinen tief in die Bilder eindringenden Betrachtungen, sondern aus der Fülle eines wahren Gelehrtenlebens weitere Tore aufstößt, etwa wenn er Gemälde mit vergessener Literatur des 19. Jahrhunderts oder Musikwerken verbindet.
Bei alledem verliert sich Liess nicht, er wiederholt sich nicht, er hält durchgehend seine sprachlich und gedanklich klare Höhe aufrecht; Floskeln und modische Faseleien gibt es nicht.
Wer nach 1674 großformatigen Seiten beim letzten Kapitel, dem heiter-melancholischen »Paul Heyse: Der letzte Zentaur«, angelangt ist, den entläßt Liess nach einer langen Bildungsreise humorvoll und auf eine künftige Künstlergeneration hoffend zum eigenen Weiterdenken in die Freiheit und Höhe unserer Kunst.
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Reinhard Liess: Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner 2021. 3 Bde., 1695 S., 99 € – hier bestellen.
Maiordomus
Sedlmayr war für mich als Jung-Konservativer mit "Verlust der Mitte", auf welches reaktionäre Buch ich u.a. durch "Jenseits von Angebot und Nachfrage" von Wilhelm Röpke 1966 aufmerksam wurde, eine Orientierungsgrösse, desgleichen das antimoderne Standardwerk "Mord an Apollo" von Alexander von Senger (gegen le Corbusier, ediert im Verlag von James Schwarzenbach), wobei beide Werke bei aller Polemik intellektuellen Ansprüchen genügten. Doch sah ich mir dann den Film von Clouzot an "Picasso an der Arbeit", womit jenseits von Ideologie ein Jahrhundertgenie evident gemacht wurde, so wie lohnenden Besuchen der Ronchamp-Kapelle oder auch nur des Erstlingswerks von le Corbusier in La Chaux de Fonds die Proportionen eines Meisters ein für allemal sichtbar machten. Dabei habe ich rein ideologische Rechtfertigungen des Modernen bis hin zu Beuys stets abgelehnt und andererseits vergleichweise traditionalistische Kunst, wenn sie schlicht gekonnt war, publizistisch zu verteidigen gewusst. Wurde schon mal beschimpft, weil ich Breker als "hochbegabt" anerkannte, von dem Dali, Picasso und sogar der altmodische Adenauer eine hohe Meinung hatten, auch Breker war, auf "fragwürdige" Weise, "modern".