»Mit dem Ding woll’n Sie wohl ’nen Russen pieksen?« Der Satz riß den Legationsrat im Auswärtigen Amt, Roland von zur Mühlen, aus seinen Gedanken. Einige Stunden zuvor hatte er im Auswärtigen Amt die Kriegserklärung an die Sowjetunion direkt miterlebt. In seiner Gegenwart überreichte Außenminister Ribbentrop dem Sowjetbotschafter Dekanosow in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 die entsprechenden Papiere und gab eine kurze Begründung. Stunden später befand sich von zur Mühlen, immer noch in Diplomatenuniform, auf dem Heimweg durch das morgendliche Berlin und war an einer Plakatsäule stehengeblieben.
Sie verkündete den deutschen Angriffsentschluß, zusammen mit einer plakativen Landkarte. Und trotz aller Versuche, das Deutsche Reich und seinen aktuellen europäischen Machtbereich dabei graphisch auf eine Größenebene mit der UdSSR zu heben, kam ihm die Sache bei diesem Anblick erstmals äußerst bedenklich vor. Zur deutschen Diplomatenuniform eines Legationsrats gehörte aber auch 1941 noch eine Stichwaffe, die zusammen mit der Landkarte bei den Umstehenden den Berliner Humor auf den Plan gerufen hatte. Konnte man dieses Riesengebiet mit den deutschen Mitteln mehr als nur »pieksen«?
Am frühen Morgen hatte Dekanosow eher gelassen reagiert, als Ribbentrop ihm eine kurze Begründung für den Angriff gab und auf die »seit längerer Zeit zunehmende deutschfeindliche Haltung der Sowjetunion und die Bedrohung Deutschlands« verwies. Das sei klar und eindeutig, meinte Dekanosow lediglich und verabschiedete sich bald. Von der »deutschfeindlichen Haltung« der UdSSR wußte er selbst genug und hatte als Leiter der Berliner Botschaft schon seit einem Jahr den Auftrag, die Grundlagen für die kommende Sowjetisierung Deutschlands zu legen.
Wie sich später herausstellte, war diese Vorarbeit auch nicht umsonst gewesen, selbst wenn ihre Ergebnisse letztlich nur in der sowjetisch besetzten Zone angewandt wurden. Den ganz großen Entwurf eines Einzugs der Roten Armee nicht nur in Berlin, sondern auch über Köln hinweg in Paris, sollte der gerade begonnene deutsche Feldzug letztlich erfolgreich verhindern. Man werde es später noch einmal probieren, kündigte Sowjetdiktator Stalin im Frühjahr 1945 dann an.
Aber dies greift vor. Im Juni 1941 wußte noch niemand, was das Unternehmen Barbarossa bringen würde. Es wußte zugleich trotz aller Aufklärungsbemühungen ebenfalls noch niemand vollständig, was es im Detail mit dem Riesenreich auf sich hatte, das wie eine dunkle Drohung am östlichen Horizont lag und nun an Berliner Litfaßsäulen als Kriegsgegner bezeichnet wurde.
Anfang der 1920er Jahre hatten die Meldungen über die Millionen Toten als Folge der Oktoberrevolution und des russischen Bürgerkriegs die konterrevolutionäre Stimmung überall in Europa steigen lassen. Die Sowjetunion verkörperte damals das Ende von Rechtlichkeit und Bürgerlichkeit. Kommunistische Verbrechen trugen sehr dazu bei, fast überall in Europa militante Gegenbewegungen zu schaffen, die in autoritärer und uniformierter Struktur weitere Revolutionen verhinderten oder rückgängig machten. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus konnten als prominenteste Exponate dieser Richtung gelten.
Den unmittelbaren Revolutionsopfern folgten die Toten der ukrainischen Hungerkatastrophe und zahlreicher Verfolgungswellen aller Art und Motivation, vor dem Weltkrieg zuletzt in den Moskauer Schauprozessen 1936 und 1937, als beachtliche Teile der kommunistischen Parteifunktionäre angeklagt und hingerichtet wurden. Was »Kommunismus« sein konnte, hatte dazu zeitlich parallel der Spanische Bürgerkrieg gezeigt, mit seiner Vernichtungswut gegen Religion und Kultur auf der offiziell republikanischen Seite, die sich unter sowjetischem Einfluß schnell radikalisierte. In ihrer Gewohnheit, Politik mit Massenmord zu begleiten, stellte die Sowjetunion in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Phänomen dar, das man aus dem Blickwinkel Europas nur aus fernen historischen Zeiten kannte: die asiatische Tyrannei, wie sie einst im Mittelalter die berühmten Mongolenherrscher ausgeübt hatten. Im Vergleich dazu wirkte das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1939 wie ein gewöhnlicher Polizeistaat. Es bestand reichlich Anlaß, Angst vor der UdSSR zu haben.
Um die Gedankenwelt derjenigen zu verstehen, die 1941 in Deutschland die Entscheidungen trafen, muß man von dort jedoch etwa drei Jahrzehnte zurückgehen. Es handelte sich nämlich nicht um eine sowjetrussische Spezialität, auf Deutschland als Bedrohung zu wirken. Dies hatte bereits das zaristische Rußland vor 1914 immer stärker und scheinbar unabwendbar getan. Politische Entspannungsversuche von deutscher Seite griffen nicht, militärische Gegenmaßnahmen schienen unmöglich. Die drohende »russische Dampfwalze« wurde jedes Jahr etwas gewichtiger ausgebaut.
Im Sommer 1914 befand sich der deutsche Kanzler deshalb im Zustand ratloser Verzweiflung. Rußlands militärische Macht wachse schnell, und würde auch noch der damals zu Rußland gehörende Teil Polens strategisch ausgebaut sein, sei die Lage für Deutschland unhaltbar, meinte Bethmann-Hollweg Anfang Juli 1914. Dies gab eine damals verbreitete Ansicht wieder, die sich ja auch im deutschen militärischen Operationsplan für den Kriegsfall niederschlug, der eine Offensive Richtung Osten überhaupt nicht in Betracht zog. Immerhin galt damals mehrheitlich noch die Überzeugung, Rußland würde tatsächlich warten, und als möglichen Zeitpunkt eines russischen Angriffs vermutete man eher 1916 als 1914. Aber der Befund von Kanzler Bethmann-Hollweg lautete: »Die Zukunft gehört Rußland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alb auf uns legt.« Und ein paar Tage später: »Rußlands wachsende Ansprüche und ungeheure Sprengkraft [sind] in wenigen Jahren nicht mehr abzuwehren, zumal wenn die jetzige europäische Konstellation bleibt. […] Nur wenn Rußland in der serbischen Sache von den Westmächten nicht bis zum letzten unterstützt wird, sieht es ein, daß es sich mit uns verständigen muß. Aber auch dann wird Rußland sehr teuer sein. Es ist zu mächtig geworden und muß schon aus innenpolitischen Gründen und als Gegengewicht gegen die revolutionären Strömungen in Panslawismus machen.«
Wir wollen nicht abschweifen, aber es sei ergänzend erwähnt: Während dies am 20. Juli 1914 gesagt wurde, traf gerade die französische Staatsführung in St. Petersburg ein, um Rußland nicht nur ihre restlose Unterstützung in der »serbischen Sache« zuzusichern, sondern um im Gegenteil noch vorhandene russische Bedenken gegen den Krieg auszuräumen. Zeitgenössische Karikaturen griffen das auf und zeigten den französischen Staatspräsidenten, wie er dem russischen Zaren aufs Kriegsroß half. Ab dem 25. Juli begannen dann jene russischen geheimen Mobilmachungen, deren Existenz man dem deutschen Kaiser gegenüber in den folgenden Tagen auch auf Nachfrage geflissentlich bestritt und die unter dem Stichwort »Mobilmachung ist Krieg« lange vorbereitet worden waren. Die Berliner Ängste wurden wahr.
Manche Elemente dieser Situation kehrten 1941 wieder. Da war zum einen der erneut stetige und strategische Ausbau von russisch-sowjetischem Militärpotential. Das geschah unter marxistischen Vorzeichen, aber es versetzte die inzwischen in Moskau statt an der Ostsee residierenden Machthaber nun einmal wie ihre Vorgänger in die Lage, eine zumindest zahlenmäßig überwältigend starke Streitmacht zu mobilisieren. Das taten sie 1941 dann unübersehbar. Wenn auch der bis nach Asien reichende Gesamtumfang der Marschkolonnen der Roten Armee verborgen werden konnte, beurteilte der jetzige Kanzler des Deutschen Reichs den sowjetischen Aufmarsch im Juni 1941 intern als den »größten der Geschichte«, also auch natürlich als größer als den eigenen.
Da gab es zum anderen die steigenden und anscheinend grenzenlosen sowjetrussischen Ansprüche. Nun lag die Grenzenlosigkeit natürlich im marxistischen Grundsatzprogramm, und das sowjetische Staatswappen zeigte folgerichtig ganz programmatisch die Kontinente der gesamten Welt in Rot. Dennoch ging man in Berlin vor 1941 wie vor 1914 lange Zeit davon aus, auf staatlicher Ebene über gewisse Verhandlungsspielräume und die Möglichkeit zum Abschluß von Verträgen wenigstens auf Zeit zu verfügen. Es erwies sich aber erneut, daß es diese Möglichkeiten nicht gab, weil weder das zaristische noch das sowjetische Rußland bereit waren, in der Verfolgung ihrer staatlichen Interessen auf deutsche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.
Der Auftritt des sowjetischen Außenministers Molotow in Berlin im November 1940 beseitigte hieran jeden Zweifel, verlangte er doch von dem damals auf der Höhe seiner Machtentfaltung stehenden Deutschen Reich ebenso existentielle wie unmögliche Zugeständnisse und erklärte das erst vor kaum einem Jahr geschlossene Abkommen über die gegenseitigen Interessensphären für erledigt. Mit anderen Worten, er stellte Bedingungen, die eigentlich schon von einer sicheren deutschen Niederlage ausgingen und die Stellungen für einen kommenden Konflikt mit den Westmächten sichern sollten.
Um nun andererseits den gewissen Optimismus zu verstehen, mit dem die Wehrmacht 1941 in den Krieg gegen die UdSSR zog, muß man ebenfalls zweieinhalb Jahrzehnte zurückgehen. Wir haben gesehen, daß die Führung des kaiserlichen Deutschland den östlichen Nachbarn vor 1914 als mehr oder weniger unüberwindlich abgebucht hatte. Für den Kriegsfall war daher vorgesehen, in einem schnellen Feldzug jede militärische Drohung im Westen zu beseitigen und gegen Rußland einen hinhaltenden Krieg zu führen, der dann irgendwann in einen Kompromißfrieden münden sollte.
Es kam jedoch alles ganz anders, und es stellte sich heraus, daß am Ende nicht Frankreich, sondern Rußland in einer Kette von Offensiven nicht nur weit zurückgedrängt, im Jahr 1917 letztlich besiegt und zum staatlichen Zusammenbruch gebracht werden konnte. Für einen geschichtlichen Wimpernschlag lag danach in den Jahren 1917 / 18 tatsächlich eine deutsche Weltmachtstellung in greifbarer Nähe, mit einer ökonomisch, militärisch und politisch dominierenden Stellung in Osteuropa. Über die Gründe, warum diese Option innerhalb eines Jahres verspielt wurde, kann an dieser Stelle nur wenig gesagt werden. Innenpolitisch jedenfalls versank das kaiserlich-preußische System im Streit darüber, welche Dynastie nun welchen Thron im Osten bekommen sollte, während die Reichstagsopposition ernsthaft dem Glauben anhing, die Hauptfrage des Weltkriegs sei die Parlamentarisierung Deutschlands.
Aber es ist anzumerken, daß dieses Erfolgserlebnis der russischen Niederlage für die nächsten dreißig Jahre nachwirkte. Die Sowjetunion gab sich phasenweise als Partner der Schwarzen Reichswehr, nach 1933 zunehmend als Gegner, aber sie galt bis 1941 in deutschen Militärkreisen nicht mehr als unüberwindliche Macht. Auch diejenigen, die vom früher oder später bevorstehenden Angriff der Roten Armee überzeugt waren, gingen von einer guten Siegchance aus, sollte Deutschland dagegen zu einem selbstgewählten Zeitpunkt im Sommer präventiv vorgehen. Es dauerte allerdings nur Wochen, bis diese Ansicht durch die Erkenntnis über das ganze Ausmaß der sowjetischen Rüstung erschüttert wurde.
Mit Erschütterung reagierten die deutschen Augenzeugen auch auf die Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der Brutalität des sowjetischen Systems. Das galt für die Kampfweise der Roten Armee, die keine Gefangenen machte, soweit sie 1941 die Gelegenheit dazu bekam. Das galt noch viel mehr für die Leichenberge, die man beim Vorrücken auf den Straßen und in den Kellern der eroberten Städte fand. Wer dort einsaß, und das waren Zehntausende, wurde kurz vor der Ankunft deutscher Truppen noch erschossen oder auf andere Weise ums Leben gebracht. Fassungslose Wehrmachtssoldaten standen vor mannshohen Haufen von Toten. Es sind Filmaufnahmen darüber erhalten geblieben. Dieses Material könne man aber nicht einmal für die Propaganda verwenden, notierte in Berlin der zuständige Minister für dieses Ressort. Am 15. Juli 1941 wurden Joseph Goebbels Aufnahmen sowjetischer Massaker gezeigt, und er befand, daß sie »so ungefähr das Grauenerregendste« darstellten, was er jemals gesehen habe. Es sei »unmöglich, diese Bilder für die Öffentlichkeit freizugeben; es würde eine Panik in den Kinotheatern geben.«
Auch in diesem Fall bestätigten sich Befürchtungen, die Goebbels schon lange vorher geäußert hatte, etwa im August 1940 unter dem Eindruck der sowjetischen Okkupation Litauens. »Die Russen hausen schauderhaft in Kowno. Alles, was etwas über den Durchschnitt herausragt, wird einen Kopf kleiner gemacht. Das ist der Bolschewismus, wovor wir unser Volk bewahren müssen.«
In Zusammenhang mit diesen Ängsten und dem möglichen »kausalen Nexus« einer Radikalisierung und Brutalisierung nationalsozialistischer Regierungspraxis unter dem Eindruck sowjetischer Untaten hat der deutsche Historiker Ernst Nolte auf das Stichwort »Rattenkäfig« hingewiesen. In diesem Fall geht es um eine Episode, die nach Noltes Meinung den deutschen Staats- und Parteichef persönlich umtrieb. Für Folterzwecke soll der sowjetische Inlandsgeheimdienst demnach hungrige Ratten in Käfige gesperrt haben, deren einziger Ausweg darin bestand, sich durch die Menschen zu fressen, denen man die Käfige aufgebunden hatte. Diese unmenschliche Idee ging später in die Weltliteratur ein, in George Orwells Totalitarismusdystopie 1984 etwa wird der Protagonist letztlich mit dieser Foltermethode gebrochen. Nolte fand es bemerkenswert, daß Hitler nach der Niederlage von Stalingrad geäußert hatte, der gefangengenommene Generalfeldmarschall Paulus werde sicher auch bald in den Rattenkäfig gesteckt und danach alles Gewünschte sagen. Ob Rattenkäfig oder nicht, Friedrich Paulus wechselte tatsächlich bald als eine Art Kronzeuge ins sowjetische Lager und präsentierte vor dem Nürnberger Nachkriegstribunal auftragsgemäß die Legende vom unprovozierten deutschen »Überfall« auf die UdSSR. Dies allerdings, während er gleichzeitig in abgehörten Gesprächen mit anderen Gefangenen wahrheitsgemäß berichtete, 1941 an einem Präventivkrieg mitgewirkt zu haben.
Daß Hitler sich jedenfalls noch 1943 an die Geschichte vom Rattenkäfig erinnerte, die aus den 1920er Jahren stammte, zeigte für Ernst Nolte anschaulich seine Kontinuität in der Furcht vor dem Bolschewismus und dessen brutalisierenden Einfluß auf ihn und den Nationalsozialismus insgesamt. Der kommende Krieg gegen das Sowjetregime sei wegen dessen drohender Angriffsbereitschaft und erwiesener Grausamkeiten ebenso unvermeidlich, wie er kein gewöhnlicher sein werde, führte Hitler vor der deutschen Generalität in einer berüchtigten Rede im Frühjahr 1941 aus. Er überzeugte nicht jeden, insbesondere nicht davon, daß als Konsequenz schon vor Kriegsbeginn Teile des geltenden Kriegsrechts außer Kraft zu setzen seien. Das lehnten viele Offiziere ab und griffen zu originellen Methoden, um die Anordnungen teilweise zu umgehen. Generalquartiermeister Eduard Wagner legte in Verhandlungen mit der SS-Führung beispielsweise Wert darauf, daß die Ausführung des Befehls zur Erschießung aller gefangengenommenen Politkommissare der Roten Armee der Wehrmacht überlassen bleibe. Das sei der einzige Weg, den Befehl in der Praxis zu umgehen.
Am Ende stand im Sommer 1941 eine nationalsozialistisch-deutsche und sowjetrussische Gewaltexplosion. Bei einem in der Forschung wenig beachteten Frontbesuch machte Hitler sich Anfang August auch von den dunklen Seiten dieses Feldzugs ein persönliches Bild. »Judenerschießungen. Miese Stimmung«, notierte sein Verbindungsmann zum Auswärtigen Amt, Walter Hewel, für den 7. August 1941. Was der »Führer« dazu angemerkt hatte, vermerkte er in einem deutsch-indonesischen Kauderwelsch, das er sich bei einem jahrzehntelangen Aufenthalt in Südostasien angeeignet hatte. Es ist nicht eindeutig übersetzbar.
»Welch ein großes Volk«, sagte Charles de Gaulle bewundernd, als man ihm in der Nachkriegs-UdSSR die Stelle des östlichsten deutschen Vordringens zeigte – und meinte damit die Deutschen. In der Tat wurde die Sowjetunion durch die Wehrmacht schwer angeschlagen. An den Rand der Niederlage kam sie jedoch nicht, anders als das Zarenreich. Für einige Jahrzehnte wurden zwischen 1945 und 1989 die deutschen Ängste von 1914 und 1941 wahr, und die Bedenken, die Roland von zur Mühlen zu Kriegsbeginn gehabt hatte, bestätigten sich.