Ökologische Betrachtungen (9): Gefallene Natur

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

Sieht man von dem ein oder ande­ren tech­nik- und fort­schritts­gläu­bi­gen Zir­kel ab, so hat sich in den Indus­trie- und Kon­sum­ge­sell­schaf­ten west­li­cher Pro­ve­ni­enz zwei­fels­oh­ne die Erkennt­nis durch­ge­setzt, daß die Natur in der Kri­se steckt.

Die einst­mals omni­prä­sen­te Vor­stel­lung, die natür­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen mensch­li­cher Gesell­schaf­ten regu­lier­ten sich selbst zu einem har­mo­ni­schen Gesamt­ge­fü­ge, ist obso­let. Der Mensch soll Abhil­fe schaf­fen, nach gän­gi­ger Auf­fas­sung mit noch mehr und bes­se­rer Tech­nik. Daß die Din­ge womög­lich etwas kom­pli­zier­ter sind, zei­gen die Arbei­ten des Umwelt­his­to­ri­kers und Uni­ver­sal­ge­lehr­ten Rolf Peter Sie­fer­le, die sich im wesent­li­chen um die »kom­ple­xe Wech­sel­wir­kung zwi­schen mensch­li­chen Kul­tu­ren und deren natür­li­cher Umwelt« dre­hen und damit auch den Wan­del ihrer unter­schied­li­chen geis­tes­ge­schicht­li­chen Kon­zep­tio­nen von »Natur« vor dem Hin­ter­grund der spe­zi­fi­schen Nut­zung natür­li­cher Res­sour­cen in den Fokus neh­men. Das umfaßt wie­der­um die Fra­gen, wann Umwelt­kri­sen in der Geschich­te wahr­ge­nom­men wur­den und wie »mit sol­chen Vor­stel­lun­gen einer Umwelt­kri­se umge­gan­gen wurde«.

Im Landt­ver­lag sind vor kur­zem zwei sehr lesens­wer­te neue Bän­de der Sie­fer­le-Werk­aus­ga­be erschie­nen, die im Fall von Die Kri­se der mensch­li­chen Natur – Zur Geschich­te eines Kon­zepts /Bevölkerungswachstum und Natur­haus­halt – Stu­di­en zur Natur­theo­rie der klas­si­schen Öko­no­mie (Band 7) die­se Vor­stel­lun­gen einer Umwelt­kri­se expli­zi­ter und im Fall von Der unter­ir­di­sche Wald – Ener­gie­kri­se und Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on (Band 8) impli­zi­ter zum The­ma haben.

Der unter­ir­di­sche Wald (1982 erst­mals erschie­nen) stellt eine der wich­tigs­ten aka­de­mi­schen Publi­ka­tio­nen Sie­fer­les dar. Die »Pio­nier­stu­die«, wie sie der Sino­lo­ge und Weg­ge­fähr­te Sie­fer­les, Rai­mund Th. Kolb, in sei­nem Nach­wort tref­fend bezeich­net, betrat inso­fern Neu­land, als sie den inno­va­ti­ven Ansatz des US-ame­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gen Fred Cott­rell – der davon aus­geht, daß ein gewis­ser Ener­gie­fluß not­wen­dig ist, um bestimm­te sozia­le Sys­tem auf­recht­zu­er­hal­ten, und dar­über hin­aus sozia­len Wan­del erklä­ren kann – auf­greift und anhand des fos­si­len Brenn­stoffs Koh­le die­sen sozi­al­me­ta­bo­li­schen Zusam­men­hang am Pro­zeß der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on demons­triert. Sie­fer­le leg­te mit die­ser pro­fun­den Stu­die einen der wesent­li­chen Grund­stei­ne dafür, daß sich die Umwelt­ge­schich­te in Deutsch­land als aka­de­mi­sche Sub­dis­zi­plin zumin­dest in der Nische eta­blie­ren konnte.

Im Unter­ir­di­schen Wald kommt er aus der ener­ge­ti­schen Per­spek­ti­ve bereits zu dem Schluß, der auch für sei­ne spä­te­ren Arbei­ten von über­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung ist: »Mit der Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus und des Indus­trie­sys­tems ent­steht dem­ge­gen­über eine Gesell­schafts­form, die auf per­ma­nen­tem öko­no­mi­schen Wachs­tum beruht und des­halb not­wen­di­ger­wei­se auf per­ma­nen­ten beschleu­nig­ten sozia­len, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Wan­del ori­en­tiert ist.

Sofern sie gleich­ge­wich­tig ist, beruht die­ses Gleich­ge­wicht auf einem dyna­mi­schen Pro­zeß: dem Durch­fluß gro­ßer und in der Regel wach­sen­der Men­gen an Ener­gie und Roh­stof­fen.« (Band 8, S. 71) Das hat weit­rei­chen­de öko­lo­gi­sche Fol­gen: »Im Indus­trie­sys­tem […] wer­den Hand­lun­gen mit sehr gro­ßer Reich­wei­te vor­ge­nom­men, ohne daß man auch nur ansatz­wei­se wüß­te, zu wel­chen Effek­ten sich ihre Fol­ge­wir­kun­gen sum­mie­ren und agg­re­gie­ren kön­nen.« (Ebd., S. 71) Öko­no­mie, Sozia­les und Öko­lo­gie ver­schmel­zen so zu einem inein­an­der ver­wo­be­nen Gebil­de, wäh­rend der Treib­stoff für ihre Unrast zuerst über das fes­te »Schwar­ze Gold« der Koh­le und spä­ter über das flüs­si­ge »Schwar­ze Gold« des Öls bereit­ge­stellt wird: »Ohne Koh­le wären die euro­päi­schen Gesell­schaf­ten des 18. Jahr­hun­derts Agrar­ge­sell­schaf­ten geblie­ben […].« (Ebd., S. 74)

Sie­fer­le schafft über sei­ne dich­te Beschrei­bung, mit der Koh­le als Dreh- und Angel­punkt der Ana­ly­se, einen ein­zig­ar­ti­gen Erklä­rungs­an­satz für den gesell­schaft­li­chen Son­der­weg Euro­pas ab dem 18. Jahr­hun­dert, den er unter ande­rem auf den Druck durch (ener­ge­ti­sche) Holz­knapp­heit, Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und die spe­zi­el­len geo­gra­phi­schen Vor­aus­set­zun­gen Eng­lands zurück­führt. Doch der­weil mit der flä­chen­de­cken­den Nut­zung von Koh­le das libe­ra­le »Maxi­mie­rungs­prin­zip« sei­ne Durch­set­zung erfährt und dau­er­haf­ter »Fort­schritt« zur gesell­schaft­li­chen Selbst­ver­ständ­lich­keit avan­ciert, wer­den zugleich die Bedro­hung der natür­li­chen Grund­la­gen mensch­li­chen Lebens und die End­lich­keit der fos­si­len Res­sour­cen, die den neu­ge­won­ne­nen Wohl­stand sowie die geo­po­li­ti­sche Domi­nanz Euro­pas näh­ren, greifbar.

Der eng­li­sche Öko­nom Wil­liam Stan­ley Jevons sah bereits Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, daß sich nicht nur das Ein­pen­deln auf einem sta­tio­nä­ren Zustand, son­dern eine Kon­trak­ti­on, also ein gra­vie­ren­der Rück­gang, abzeich­ne­te. Die zum dama­li­gen Zeit­punkt domi­nan­te Vor­stel­lung einer har­mo­nisch ein­ge­rich­te­ten und uner­schöpf­li­chen Natur wur­de mit der expo­nen­ti­el­len Stei­ge­rung des Koh­le­ver­brauchs immer unplau­si­bler: »Die har­mo­ni­sche Ord­nung der selbst­re­gu­lier­ten Gleich­ge­wich­te von Wert und Preis hat­te in der Ener­gie­fra­ge einen emp­find­li­chen Stoß erlit­ten, wodurch das libe­ra­le Prin­zip selbst […] in Fra­ge gestellt war.« (Band 8, S. 344 f.)

Die­ser Wahr­neh­mungs­ver­schie­bung von einem har­mo­ni­schen Gleich­ge­wicht zu einer Kri­se der Natur, die gleich­zei­tig auch eine Kri­se des Libe­ra­lis­mus dar­stellt, sowie ihren gesell­schaft­li­chen Fol­gen wid­me­te sich Sie­fer­le sodann in sei­nen bei­den Stu­di­en Die Kri­se der mensch­li­chen Natur (1989) und Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Natur­haus­halt (1990), die der Landt­ver­lag strin­gen­ter­wei­se in einem Band ver­eint hat. Wäh­rend sich ers­te­re auf die Dar­stel­lung der »Dis­kus­si­on um zivi­li­sa­ti­ons­be­ding­te Beein­träch­ti­gun­gen der mensch­li­chen Natur um die Wen­de« zum 20. Jahr­hun­dert kon­zen­triert und so detail­liert dama­li­ge »sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche« und ras­se­zen­trier­te Posi­tio­nen her­aus­ar­bei­tet, setzt letz­te­re den Fokus auf die »Dis­kus­si­on um die dro­hen­de Über­be­völ­ke­rung zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts« – Tho­mas Robert Mal­thus und die von ihm pos­tu­lier­te Subsistenz­grenze ste­hen hier im Mit­tel­punkt. Spe­zi­ell aus einer öko­lo­gi­schen Per­spek­ti­ve ist Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Natur­haus­halt eine loh­nen­de Lektüre.

Was bei­de Stu­di­en wie­der zusam­men­führt, ist Sie­fer­les Fazit eines fun­da­men­ta­len Zer­falls des sinn­stif­ten­den Zen­trums der »west­li­chen« Gesell­schaf­ten: »Nach dem Zusam­men­bruch der natür­li­chen Teleo­lo­gie, der sich seit dem 19. Jahr­hun­dert abzeich­ne­te und im 20. Jahr­hun­dert schließ­lich voll­zo­gen hat, ist der Mensch­heit ein wei­te­res Stück meta­phy­si­scher Sicher­heit abhan­den gekom­men. Nach­dem der Gedan­ke einer gött­li­chen Pro­vi­denz eben­so ridi­küli­siert wur­de wie die Fort­schritts­my­then des 19. Jahr­hun­derts und […] die sozia­lis­ti­sche Plan­wirt­schaft, blieb die markt­wirt­schaft­li­che Öko­no­mie schein­bar die letz­te Bas­ti­on des Glau­bens an eine natür­li­che, har­mo­ni­sche und gleich­ge­wich­ti­ge Ord­nung. Die Umwelt­kri­se hat auch die­sem Glau­ben hef­ti­ge Schlä­ge ver­setzt, die ihn stark ins Wan­ken brach­ten. Es gibt kein har­mo­ni­sches Gleich­ge­wicht von ›Natur‹ und ›Öko­no­mie‹ mehr […].« (Band 7, S. 646) Indes wird sowohl am Unter­ir­di­schen Wald als auch an den bei­den Stu­di­en von 1989 und 1990 deut­lich, daß Sie­fer­le kein in der Wol­le gefärb­ter Rech­ter war bzw. sein publi­zis­ti­sches Werk erst mit dem Epo­chen­wech­sel 1994 einen poli­ti­schen, anti-uni­ver­sa­lis­ti­schen Zun­gen­schlag erhielt. Gleich­wohl sind alle ana­ly­ti­schen Strän­ge vor­han­den, die sei­ne Wen­dung in den 1990ern nur fol­ge­rich­tig erschei­nen lassen.

Der Sie­fer­le des Epo­chen­wech­sels ist nicht vom Him­mel gefal­len, son­dern das Ergeb­nis strin­gen­ter Schlüs­se aus sei­nen vor­an­ge­gan­ge­nen Ana­ly­sen. Man muß Sie­fer­le daher lesen, wie es der fran­zö­si­sche Vor­den­ker der »Nou­vel­le Droi­te«, Alain de Benoist, fort­wäh­rend pro­pa­giert: aus rech­ter Sicht und mit dem Wil­len, Aspek­te sei­ner Ana­ly­sen für die rech­te Welt­an­schau­ung frucht­bar zu machen. Das gilt in beson­de­rem Maße für sei­ne frü­hen Arbei­ten. Dies­be­züg­li­che Hin­wei­se sucht man in den Nach­wor­ten der bei­den Bän­de lei­der vergebens.

Zwar weiß bei­spiels­wei­se Karl­heinz Weiß­mann in sei­nem Nach­wort Sie­fer­les Stu­di­en in gewohn­ter Wei­se kennt­nis­reich ent­lang des von Sie­fer­le auf­ge­spann­ten, ideen­ge­schicht­li­chen Bogens zu reflek­tie­ren, doch die spe­zi­ell in Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Natur­haus­halt ent­hal­te­nen Impli­ka­tio­nen für eine kon­ser­va­ti­ve Öko­lo­gie sowie die zahl­rei­chen Ansatz­punk­te für eine Libe­ra­lis­mus­kri­tik, die sich auch in den bei­den ande­ren Stu­di­en fin­den las­sen, blei­ben unge­nutzt. Die not­wen­di­ge Auf­ga­be, Sie­fer­le von rechts zu lesen, ist also noch zu erle­di­gen. Gera­de des­we­gen sei die Lek­tü­re der bei­den Bän­de jedem ans Herz gelegt, dem es um die Grund­la­gen rech­ten Den­kens geht.

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