Wir, der Mensch, ich – ein Akademiebericht

Man sollte vermeiden, etwas, das gelang, als Meilenstein herauszustreichen. Zwar gehört Trommeln zum Geschäft, aber es ist nicht das Geschäft.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Seit zwei­und­zwan­zig Jah­ren gehört es zu den Auf­ga­ben des Insti­tuts für Staats­po­li­tik (IfS), Aka­de­mien für jun­ge Hörer zu ver­an­stal­ten, und zwar the­men­ge­bun­den, gekop­pelt an eines der Schwer­punkt­hef­te der haus­ei­ge­nen Zeit­schrift Sezes­si­on, auf aka­de­mi­schem Niveau.

Im Rah­men die­ser Aka­de­mien wer­den Leit­li­ni­en für ein medi­al und poli­tisch eben­so unwahr­schein­li­ches wie inter­es­san­tes, jeden­falls kaum faß­ba­res Denk­mi­lieu vor­ge­zeich­net. Unwahr­schein­lich ist es, weil es gegen die media­le Ver­teu­fe­lung rech­ten Den­kens, gegen den mas­si­ven kri­mi­na­li­sie­ren­den Druck der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den, gegen das Denun­zia­ti­ons- und Abwür­gungs­kli­ma in Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten, kurz­um: trotz eines viel ein­fa­cher zu beschrei­ten­den, mit­tig-lin­ken Weges durch die­se Repu­blik ent­stan­den ist.

Jeder Teil­neh­mer, jeder Schü­ler und Stu­dent müß­te erzäh­len, war­um er hier ist und nicht dort, wo alles unauf­fäl­lig, leicht, mit der Fließ­rich­tung läuft, oft kon­se­quenz­los, oft als blo­ße Gesin­nung, wäh­rend vor den Türen unse­rer Vor­trags­räu­me Anti­fa-Foto­gra­fen als Jour­na­lis­ten getarnt ihre Bil­der schie­ßen, um zu mar­kie­ren, zu archi­vie­ren, anonym zu ver­öf­fent­li­chen zu einem ein­zi­gen Zweck: die ande­re Mei­nung, das ande­re Wis­sen, die ande­re Auf­fas­sung von den Din­gen und ihren Zusam­men­hän­gen zu tilgen.

Die­se Umstän­de, die­se Keim­vor­gän­ge auf schlech­tem Boden machen unser Den­ken per se inter­es­sant. Wie ist so etwas mög­lich, woher kommt so etwas trotz alle­dem, was ist dar­an neu und anders und statt­haft? Das waren die (teils ehr­lich und sogar vor­be­halts­los for­mu­lier­ten) Fra­gen der ers­ten Jour­na­lis­ten, die sich für unse­re Arbeit inter­es­sier­ten. Unter dem Druck des Rudels und den Trai­nings­ein­hei­ten im Umgang mit der Sche­re im Kopf ver­än­der­ten sich die Fra­gen: War­um wird so etwas nicht unter­bun­den? Wie kann man das verhindern?

Die bes­ten Tex­te und Sen­dun­gen, die über uns erschie­nen, die also auch das Phä­no­men der Aka­de­mien zu fas­sen ver­such­ten, umschrie­ben das schwer Faß­ba­re einer Denk- und Hal­tungs­rich­tung, die das nüch­ter­ne Moh­ler- und Kal­ten­brun­ner-Wort, die schlich­te Fest­stel­lung Geh­lens zu wider­le­gen ver­such­te, aber nicht zu wider­le­gen ver­moch­te und nicht zu wider­le­gen ver­mag, zum Glück nicht zu wider­le­gen ver­mag: Die Rech­te, so sie sich ernst nimmt, kann kei­ne geschlos­se­ne Theo­rie haben, son­dern Annä­he­rungs­be­grif­fe, die durch Erfah­rung gedeckt sind.

So ist es. Die Rech­te hat kei­nen Zugang zu Über­stül­pun­gen. Sie sprengt viel­mehr selbst das Ein­engen­de einer sol­chen Theo­rie sofort dadurch, daß sie sich der All-Gemein­heit (Moh­ler) ver­wei­gert, sich den aus­ufernd leben­di­gen Phä­no­me­nen zu- und vom Pro­krus­tes­bett und sei­nen abge­hack­ten oder aus den Gelen­ken geris­se­nen Glied­ma­ßen mit Schau­dern abwen­det – im bes­ten Fal­le also eine Denk­an­stren­gung auf sich nimmt, die auf die Selbst­ge­wiß­heit des Theo­rie-Jar­gons und sei­ner zurecht­ge­stanz­ten Puz­zle­tei­le verzichtet.

Das muß begrif­fen wer­den, gründ­lich, denn es steckt zugleich etwas Befrei­en­des und Bin­den­des dar­in, sich auf nicht fest­stell­ba­re Wei­se vom Leben an sich ver­wir­ren zu las­sen. Aus die­ser Ver­wir­rung, Ver­un­si­che­rung, Ver­zau­be­rung und Ver­geb­lich­keit her­aus gewin­nen Errun­gen­schaf­ten wie Ort, Stand­punkt, Absi­che­rung, Umge­bung und Sta­bi­li­tät erst ihre vol­le Bedeutung.

Das alles muß aus­ge­führt wer­den, dazu wer­den Bil­der die­nen, scharf gestellt, zu den Rän­dern hin ver­schwim­mend, also ent­spre­chend einer rech­ten Weltwahrnehmung.

Vor­erst (und im Bezug auf die noch nicht weit zurück­lie­gen­de Früh­jahrs­aka­de­mie) nur noch dies: Das “unwi­der­leg­ba­re Erfül­lungs­glück” (ein Geh­len-Wort) jeder theo­re­ti­schen Gesamt­ab­la­ge, jedes per­fek­tio­nier­ten Jar­gons rührt dar­aus, daß es durch Ein­übung und Scharf­sinn zu gewin­nen sei – am Ende also immer ein wenig zu güns­tig, letzt­lich sogar her­bei­ge­trickst und zu sehr in der Nähe ver­nutz­ba­rer poli­ti­scher Paro­len und mit der argen Ten­denz zur Bedien­bar­keit eines Legobaukastens.

– – –

Als im August 2000 die ers­te Som­mer­aka­de­mie des IfS statt­fand (The­ma: “Kri­sen”), waren die vier jüngs­ten Refe­ren­ten der dies­jäh­ri­gen Früh­jahrs­aka­de­mie (8.–10. April, The­ma: “Der Mensch”) sie­ben, zehn, elf und zwölf Jah­re alt – zwei­mal Grund­schu­le und zwei­mal gym­na­sia­le Unter­stu­fe also.

Erik Ahrens, Lorenz Bien, Jonas Schick und Mar­tin Sell­ner tru­gen vor zu den The­men Bio­po­li­tik, Depres­si­ve Hedo­nie, Mas­sen­ge­sell­schaft und Trans­hu­ma­nis­mus. Erik Leh­nert und ich hör­ten also einer ande­ren, der nächs­ten Gene­ra­ti­on zu, die zum Glück nach­ge­rückt ist und durch Ent­wurf und Umset­zung eige­ner Pro­jek­te zeigt, daß die Vor­be­rei­tung abge­schlos­sen ist. Beispiele:

Jonas Schick ist Autor der Sezes­si­on und hat vor zwei Jah­ren die öko­lo­gi­sche Zeit­schrift Die Keh­re ins Leben geru­fen – eine not­wen­di­ge Ergän­zung des in den ver­gan­ge­nen Jah­ren über­haupt stark auf­ge­fä­cher­ten Ange­bots von rechts. Erik Ahrens ist Mit­grün­der des online-Maga­zins “Kon­flikt” und der “Gegen­Uni”, die eben­falls online agiert und in Dozen­ten- und Hörer­schaft Über­schnei­dun­gen zu unse­ren Autoren und Lesern aufweist.

Mar­tin Sell­ner, über des­sen Wir­ken kein Wort not­wen­dig ist, been­det der­zeit ein Buch­ma­nu­skript für unse­ren Ver­lag, Erik Ahrens ist zur Hälf­te fer­tig, Lorenz Bien sitzt an sei­nem ers­ten Bänd­chen für unse­re Rei­he Kapla­ken. Sie alle zeich­net etwas aus, das im Zeit­al­ter des bar­rie­re­frei­en Publi­zie­rens im Inter­net viel zu oft nicht mehr akzep­tiert wird von jün­ge­ren Autoren: Gegen­lek­tü­re, Lek­to­rat, Kri­tik, ein Gespräch über den Text, das Ver­wer­fen von Pas­sa­gen. Es geht um die Ein­sicht, daß man umbau­en, umschrei­ben, umge­stal­ten müs­se, wenn die Erfah­rung das verlangt.

Dirsch und v. Wald­stein, Leh­nert und ande­re: Das waren die erfah­re­nen Refe­ren­ten, inhalt­lich jeder eine siche­re Bank. In sol­chen Vor­trä­gen steckt kein Risi­ko mehr, sich zu ver­he­ben oder etwas nach­zu­plau­dern, das klug daher­kommt, aber den küh­len Wind außer­halb geschlos­se­ner Räu­me nicht ver­kraf­tet. Wir hör­ten über Sche­ler und Pless­ner, über Speng­ler und Lorenz, Weber und Grae­ber, über die Tru­man-Show und Ador­no und immer wie­der über Gehlen.

Und dann sieht man, wie Ahrens auf jede Fra­ge Hin­wei­se geben kann und auch die eng­lisch­spra­chi­ge Lite­ra­tur parat hat, wie Sell­ner den reli­gi­ös auf­ge­la­de­nen Trans­hu­ma­nis­mus an Nietz­sches Denk­fi­gur des Über­men­schen abgleicht und Schick das noch nicht sehr alte, für jeden öko­lo­gi­schen Ansatz grund­le­gen­de Pro­blemdrei­eck aus Mas­se Mensch, tech­ni­scher Welt und bedarfs­ge­weck­tem Kon­sum beschreibt und über den Mach­bar­keits­an­satz problematisiert.

So hat man sich das vor­ge­stellt, so hat man das in Gesprä­chen und Rück­fra­gen vor­be­rei­tet, so wir­ken die Ernst­haf­tig­keit und die Ver­knüp­fung von Vor­trag, Bei­trag, insti­tu­tio­nel­ler Koope­ra­ti­on: Eine Aka­de­mie ist auch ein Sze­ne­tref­fen, ein geschütz­ter Raum, in dem auf­ge­at­met, aus­ge­brei­tet, geäu­ßert wer­den kann, auch; aber vor allem wird ernst­haft gedacht und gefragt und geantwortet.

(Zum Sze­ne­treff noch eines: Zwei Teil­neh­mer muß­ten die Aka­de­mie ver­las­sen, nach­dem sie am Frei­tag­abend ihren man­geln­den Respekt vor unse­rer Arbeit und unse­ren Maß­stä­ben in Sachen Anstand und Ver­ant­wor­tung zur Schau getra­gen hat­ten. Das ging Ratz­fatz und war so kom­pro­miß­los und deut­lich, daß die Tisch­nach­barn dar­über erschra­ken. Auch das ist ja ein Kenn­zei­chen der Gegen­wart: wenig Erfah­rung mit Kon­se­quenz, Füh­rung und Härte.)

– – –

Was unter­schied die­se Früh­jahrs­aka­de­mie von der im ver­gan­ge­nen Sep­tem­ber, die mich rat­los und unzu­frie­den gestimmt hat­te? Neben dem geglück­ten Gene­ra­tio­nen­mix unter den Refe­ren­ten zunächst dies: Die Hörer­schaft setz­te sich anders zusam­men – weni­ger vir­tu­el­le Hal­tungs­pro­fis dies­mal, weni­ger Lebens­ge­fühl-Cli­que, mehr Wis­sen, mehr Noti­zen, mehr the­ma­ti­sches Inter­es­se, das sich unter ande­rem an den vie­len Fra­gen und Neben­bei­trä­gen bemerk­bar mach­te, die wir im Anschluß an die Vor­trä­ge zuließen.

Zwei­tens: der stän­di­ge Begleit­ton einer Ver­hal­tens­op­ti­on für den Ein­zel­nen ange­sichts einer durch mäch­ti­ge Fein­der­zäh­lun­gen for­mier­ten und von ver­lo­ge­ner Sta­bi­li­tät umstell­ten Gesell­schaft. Auch ein durch Par­tei­en, Zivil­ge­sell­schaft und Super­un­ter­neh­men geka­per­ter Staat ist ja zunächst ein sta­bi­les Gehäu­se, und das, was man eigent­lich unter einem gedeih­lich aus­ge­rich­te­ten Staat ver­ste­hen soll­te, schim­mert als Lack und ver­blen­det auch auf unse­rer Sei­te jene, die klug, aber unsi­cher sind.

Der Ruf nach dem Staat, die­sem Staat, der uns etwas ver­spro­chen habe, es aber nicht ein­zu­lö­sen bereit sei, war im Ver­lauf der Früh­jahrs­aka­de­mie kaum zu hören. Das war inter­es­sant zu beob­ach­ten: wie es uns natür­lich eigent­lich zustün­de, aber wie die Ein­for­de­rung zugleich die Abhän­gig­keit ver­grö­ße­re, die Infan­ti­li­sie­rung durch abs­trak­te Für­sor­ge, durch einen Anspruch auf so etwas wie Taschen­geld in der Höhe von Monats­löh­nen, auf All­tags­or­ga­ni­sa­ti­on und die staat­lich orga­ni­sier­te Sta­bi­li­sie­rung der ein­mal getrof­fe­nen Berufs- und Lebensentscheidung.

Aber könn­te es nicht sein, daß das, was an wider­stän­di­gem Poten­ti­al geweckt wer­den muß, nur dadurch geweckt wer­den kann, daß wir uns, bes­ser: daß ich mich von einem “wir” ver­ab­schie­de, das ent­we­der stän­dig falsch wählt oder sei­nen Lebens­voll­zug von sei­nem Lebens­ge­re­de (und das meint: sei­nem Welt­an­schau­ungs­schwall) geschickt entkoppelt?

Wir oder ich? Ich – nicht abs­trakt, nicht grund­sätz­lich, aber jetzt eben, im Rück­zug oder in der Abschot­tung, in der Auf­wie­ge­lung oder in der Sicher­heit des Schwei­gens, pathe­tisch oder sehr, sehr nüch­tern. – Das war das Sub­the­ma unter dem The­ma “Der Mensch”, das war die Fra­ge nach dem, was Geh­len gemeint haben könn­te, als er sei­ne Schrift über Die See­le im tech­ni­schen Zeit­al­ter mit dem berühm­ten Satz schloß: “Eine Per­sön­lich­keit: das ist eine Insti­tu­ti­on in einem Fall.”

Bleibt ein Drit­tes: Die Koope­ra­ti­on mit dem Kon­flikt-Maga­zin und der Gegen­Uni ließ sich gut an, wir wer­den sie fort­set­zen. Und nun noch ein biß­chen Getrom­mel: Fast alle Vor­trä­ge der Aka­de­mie kön­nen Sie nach und nach auf you­tube im Mit­schnitt sehen: Sie fin­den hier zum Kanal Schnellroda.

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (20)

Niekisch

20. April 2022 16:56

Der im Video erwähnte "Ganzheitsbiologe" und Lehrer Gehlens, Hans Driesch, verdient einen kleinen Hinweis auf sein Werk. Mich haben die Aussagen beeindruckt, Lebendiges müsse von Grund auf  "es selbst" sein. Die Setzung der Organanlagen sowie die Ausgestaltung der Organe selbst seien einseitig oder wechselseitig voneinander abhängig...Alle Gestaltungsglieder hingen innerhalb der typischen Ganzheit voneinander ab, und die Ganzheit scheine sich durch sich selber in harmonischem Gleichgewicht zu erhalten, ja dieses Gleichgewicht im Fortschritt der Entwicklung aus sich selber immer wieder herzustellen....Das organismisch Lebendige stehe vor uns als ein sich kraft seiner selbst aus sich selbst Herauserzeugendes ( s. Amtmann, Rolf, Die Ganzheit in der europäischen Philosophie, Grabert 1992, S. 330 f.)

Wie kann da der Mensch ein "Mängelwesen" i.S. Gehlens sein, wo doch Mangelhaftigkeit "Gebrauchsuntauglichkeit" für das Leben bedeutet? 

Vielleicht wurde die Frage zur Akademie diskutiert.

Mitleser2

20. April 2022 20:05

"wenn ich mich von einem “wir” verabschiede, das entweder ständig falsch wählt oder seinen Lebensvollzug von seinem Lebensgerede  geschickt entkoppelt?"

Ein Text, der wieder beeindruckend ist, wie schon Kain und Abel. Er lässt mich aber irgendwie ratlos zurück. Wohin verabschieden? Gibt es keinen Blick nach vorn mehr?

Nachtspeicher

20. April 2022 20:22

Die klassische These Gehlens zum „Mängelwesen“ hat Wolfgang Eßbach in seiner 21. Vorlesung in der Reihe „Ungeliebte Moderne“ eigentlich recht gut erläutert. Da lohnt es mal reinzuhören:

https://www.videoportal.uni-freiburg.de/album/audio/21-Vorlesung-Aktion-Charakter-und-vegetative-Ordo-Wilhelm-Reich-und-Arnold-Gehlen/f8e7a034754c57485139d50d7c462728/226

(18:09 bis 29:08 min).

Gelddrucker

20. April 2022 20:54

"Aber könnte es nicht sein, daß das, was an widerständigem Potential geweckt werden muß, nur dadurch geweckt werden kann, daß wir uns, also: wenn ich mich von einem “wir” verabschiede, das entweder ständig falsch wählt oder seinen Lebensvollzug von seinem Lebensgerede (und das meint: seinem Weltanschauungsschwall) geschickt entkoppelt?

Wir oder ich? Ich – nicht abstrakt, nicht grundsätzlich, aber jetzt eben, im Rückzug oder in der Abschottung, in der Aufwiegelung oder in der Sicherheit des Schweigens, pathetisch oder sehr, sehr nüchtern."

Wenn ich das richtig verstehe, soll sich "der Rechte" abkapseln statt sich unterzumischen. Vielleicht verstehe ich es auch falsch?

Meiner Meinung nach ist exakt das Gegenteil richtig. Viele im patriotischen Lager haben sich viel zu weit entfernt vom Mainstream und blocken total ab, sobald sie gewisse Verhaltens- und Redemuster hören.

Man sollte sich unter sie mischen, sich geben und kleiden wie sie, sie mit ihnen anfreunden. Erst der Typ, dann die Ansichten. Wer was verkaufen will, verkauft auch zunächst sich selbst, dann das Produkt.

Kriemhild

20. April 2022 22:05

Das Gespräch über Gehlen war fachlich-inhaltlich wieder exzellent. Einziges Manko: der erkennbare Wille, jederzeit ein akademisches Niveau zu erreichen, wirkte bisweilen etwas angestrengt. Dabei ragt das übliche Format in heimeliger Atmosphäre, in der die beiden Herren flapsige Bemerkungen einstreuen, sich in kleinen Witzeleien ergehen und sich die obligatorischen alkoholischen Substanzen zuführen, doch über das rein akademische Format heraus. Eines Tages werden Akademiker über diese Sendungen Bachelor- und Masterarbeiten verfassen.  

Lausitzer

20. April 2022 22:42

Das klingt nach dem Bauern, der seinen Acker bestellt hat und nun seine Ernte aufgehen sieht. Ich habe großen Respekt vor Ihrem Lebenswerk. Entweder, Ihre Arbeit ist ein Teil der Rettung zukünftiger Generationen oder zumindest haben Sie alles, was Sie konnten dafür gegeben. Ich hoffe und bete für ersteres.

Vultus Animi

21. April 2022 01:02

Jonas Schicks Vortrag sehr beeindruckend, ich bin auf die Druckfassung gespannt. 

Im Hinblick auf die „Machbarkeit“ („nicht den Tiger reiten - Inseln bilden“ [Schick]) aber: soll „Lebensvollzug nicht von Lebensgerede entkoppeln“ [Kubitschek] heißen, dass wir, nein: ich wieder zum Jäger und Sammler werde, zum Höhlenkind, zum zwar nicht entfremdeten und nicht infantilisierten aber dafür mittel- und machtlosen Menschen (vgl. Krachts August Engelhardt) ? Und wenn nein: wie weit ist eine Technologisierung und damit Entfremdung „artgerecht“ und wo endet sie aber?
 

Diese Grautöne wären im Fortgang spannend erkundet zu sehen/hören.  
 

Gracchus

21. April 2022 01:31

Das Gespräch über Gehlen habe ich mit großem Interesse verfolgt. Die Grundthese vom Mängelwesen ist mir vermittels Blumenberg vertraut und leuchtet unmittelbar ein. Die konservative Lehre, die er daraus zieht, weit weniger. Zu kurz kommt, dass dieser Mangel die Instinktarmut Weltoffenheit und damit auch ein Reichtum an Möglichkeiten bedeutet, und dann halte ich die Annahme verfehlt, es käme darauf an, diese Weltoffenheit in institutionalisierte Routinen zu überführen. Überspitzt gesagt: Davon, was den Menschen ausmacht, soll der Mensch entlastet werden. Er wird zum sozialen Tier. 

Aus einer Diskussion zwischen Gehlen und Beuys (muss man sich anhören und ansehen): 

Gehlen: In der Kölner Kunstmesse im vergangenen Jahr war von Ihnen zu sehen ein Volkswagenbus, und aus dem kamen heraus eine große Anzahl, ich weiß nicht, waren es zwanzig, verbessern Sie mich, kleine -

Beuys: Vierzig!

Gehlen: – vierzig kleine Schlitten, die alle gleichen Modells waren und alle eine bestimmte Verpackung hatten. Ich habe lange davor gestanden und war belustigt. Das wollte ich Ihnen eigentlich nicht versetzen. Aber... 

Beuys: Na, ist doch gut!

Gehlen: Nein! Dann...

Beuys: Ja, prima, wieso denn nicht!

Gehlen: … dann... dann sind Sie ja ein Spieleveranstalter!

Beuys: Ja wieso denn nicht!

Gehlen: Warum haben Sie keine Kinderwagen genommen?

Beuys: Warum? – Ich würde sagen, weil ich doch das Thema bestimmt habe, ich habe doch die Sache bestimmt, ob Schlitten. Die Kinderwagen sollen Sie nehmen! Und versuchen (Gelächter) – und versuchen, ob Sie da was mit hinkriegen, was die Menschen interessiert!“

Ein Fremder aus Elea

21. April 2022 07:21

“Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution [nur] in einem Fall”, nämlich wenn eine Persönlichkeit eine Institution ist (zum Beispiel Lilo Wanders vor ihrer Verdrängung durch die jetzige überpersönliche Institution).

Ich glaube, die Art und Weise, wie der Staat in den letzten zwei Jahren mit den Bürgern umgegangen ist, hat so etwas wie Staatsferne erzeugt. Ich vermute, daß Schwab & Co. sich der inhärent unfreiheitlichen Tendenzen der modernen Gesellschaft bewußt sind, und ganz grundsätzlich ist die politische Entscheidung zwischen Gestaltungsfreiheit und Effizienz zu treffen, wobei letztere Otto Normalverbraucher mit sinnlichen Annehmlichkeiten umgarnt. Jetzt also hat Otto seinen Sinn für Grundsätzliches wiedergefunden, und das macht mir sein ethisches Urteil sympathischer. [Auf weitere Feinheiten verzichte ich an dieser Stelle.]

Ich sehe den wesentlichen Gegensatz nicht zwischen Theorie und Essay, sondern zwischen kindlichem, einfachem Spiel und erwachsenem, kompliziertem Ernst bei der Modellbildung. Was einfach ist, wirkt. Das ist nicht nur in der Physik so, sondern auch in der Soziologie.

“Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.”

Ein Fremder aus Elea

21. April 2022 08:19

Zum Mängelwesen, etc.

Weltoffenheit bedeutet doch, auf jeden Anreiz zu reagieren, stellt also eine extreme Form der äußeren Bestimmtheit dar, der Unterschied zwischen stets aufgeschrecktem Reh und aufmerksamem, stets auf die Verwendbarkeit des ihn Umgebenden achtenden Menschen besteht doch bloß in der intellektuellen Verknüpfung der vorgefundenen Gegenstände, welche beim Reh flach abgleichend, und beim Menschen tief kausal einpassend ist, was den Willen des Menschen um Zwecke erweitert, welche das Reh nicht kennt.

Und mehr wird ein gottloses Menschenbild auch nicht zu Stande bringen können, als daß der Wille des Menschen im Gegensatz zum Tier auf die Zukunft bezogene Zwecke kennt, welche sich selbstverständlich stets ändern. Und rein gefühlsmäßig: Nein, der Mensch leidet in freier Wildbahn nicht, sondern lacht die Tiere aus. Speere reichen um Bären, Löwen und Tiger zur Strecke zu bringen, und Bären, Löwen und Tiger werden vom Menschen in freier Wildbahn zur Strecke gebracht.

Maiordomus

21. April 2022 09:43

Gehlens These vom "Mängelwesen" kam mir zu meiner Gymnasialzeit in den Sechzigerjahren in einem Benediktiniergymnasium noch sehr entgegen, weil es mir half, mit dem sonst für mich ganz irrationalen Dogma der Erbsünde etwas anzufangen. Die Mängelwesen-These ist indes schon platonisch, im Zusammenhang mit unserer sexuellen Konsitution, wobei Platon im "Gastmahl"  bekanntlich schon zwischen drei und sechs Geschlechtern unterschied, diese Vielfalt sogar politisch und militärisch zu nutzen vorschlug. Wie auch immer, Gehlen muss man natürlich kennen, wenn man im Ernst eine Ahnung von guter neuerer deutscher Philosophie haben will. Eher an Bedeutung abgenommen hat indes Bruno Bauch, wie Heidegger dem NS-System nahe gestanden, über dessen jedoch noch interessanten Leitbegriff der Konkreszenz mein Philosophielehrer, übrigens ein überragender Logiker, mit einer sehr kritischen Arbeit an der Universität Freiburg/Schweiz doktorierte mit dem Nachweis, dass Philosophieren bei den meisten Modernen im Grunde Scheitern bedeuten würde. 

Nemo Obligatur

21. April 2022 10:45

@Vultus Animi

"Jonas Schicks Vortrag sehr beeindruckend, ich bin auf die Druckfassung gespannt."

Kann Ihnen nur zustimmen. Schick ist ein Gewinn für die Sezession. Mehr noch seine Zeitschrift "Die Kehre". Ich glaube, das ist richtige Weg für die intellektuelle Rechte. Da war jahrzehntelang wenig bis nichts, umso erfreulicher, dass dieser Weg nun auch begangen wird. "Die Kehre" liegt in meinem mittelgroßen Ort sogar am Kiosk aus. Könnte mir vorstellen, dass da der eine oder andere unvoreingenommene Leser (Gegner erreicht man sowieso nie) mit Interesse an Natur, Umwelt und Stadtentwicklung aufmerksam wird.

Gotlandfahrer

21. April 2022 11:02

Die Arbeit, das Was und noch mehr das Wie des Instituts, kann nicht genug wertgeschätzt werden.  Es existiert nichts annähernd Vergleichbares und wenn es Sie alle dort nicht gäbe, nein, das ergibt keinen Sinn. Auch wenn nur ein Anonymus schreibt, der nie persönlich dabei war:  Bitte lassen Sie sich gesagt sein, dass von Ihnen dort seit Jahren eine heilsame Wirkung, innere Wiederaufrichtung und Mutspende selbst auf geistig einsamste Stadtgänger ausgeht.  Sie geben mit einzigartiger Unbeirrtheit, Klarheit und Konsequenz nicht nur der nachrückenden Generation ein stärkendes Fundament, sondern sanieren dies sogar bei alternden Säcken wie mir. 

Was mich als Organisationspraktiker noch interessieren würde: Wenn sich die Zusammensetzung der Hörerschaft positiv von der letzten unterschied – ergab sich dies zufällig, als Folge eines veränderten Verfahrens oder allein schon aufgrund des anderen „Begleittons“, der nun endlich auch wieder bei den Unsicheren die eigentliche Frage zuließ: Ist das Staat oder kann das weg? 

Niekisch

21. April 2022 13:18

Neben der Frage v. 20.4. 16:56 drängt sich mir die weitere Frage auf, warum eigentlich Arnold Gehlen im Sezession-Umfeld mit seiner Affinität zum Christentum quasi als Leitphilosoph gilt. Und warum nicht Othmar Spann, der ebenso wie Gehlen Empirist mit naturwissenschaftlicher Grundlage war. Aus dem göttlichen "Unum totum, ganzheitlicher Einheit, entspringt für Spann als Zündfunke für die die menschliche innere und äußere Konstitution eine gegliederte Ganzheit. Bietet Spann nicht eine metaphysische Überhöhung zur Ganzheit? Ein dem Menschen mögliches Gottgemäßes Vorandrängen, nicht bloß resümierendes Verharren wie bei Gehlen? 

Für mich persönlich können weder Gehlen noch Spann Vorbild sein, weil sich sich das menschliche Suchen nach Sicherheit in der stetigen Unsicherheit spätestens seit der Kulturbildung in Seßhaftigkeit -"neolithische Revolution" evolutiv ergeben hat und der Mensch seitdem begleitet durch seine Gehirnentwicklung stabilisiernde innere und äußere Faktoren finden, entwickeln und einsetzen kann. 

Weserlotse

21. April 2022 14:12

Ich wünschte, ich hätte damals als junger Mensch vor 30, 40 Jahren Veranstaltungen wie diese als Anregung, Orientierung und geistiges Spalier gehabt. Manch Irrweg wäre mir erspart geblieben.

Ein Fremder aus Elea

21. April 2022 17:17

Tja, Herr Kubitschek,

da hab' ich mir solche Mühe gegeben: Eine Institution besitzt nur dann eine Persönlichkeit, wenn sie von einer Person gebildet wird, wie bspw. jene des Monarchen, oder die des Sprechers der "Anderen", so lange der Sprecher eine Person wie Lilo Wanders ist, also quasi eine Königin irgendeiner Art, aber jetzt wurden die "Anderen" ja republikanisch und werden von einem Twitter-Ministerium vertreten, und dann meint Gehlen nur, daß die eigene Haltung eine Einrichtung ist. Was für eine Enttäuschung!

Übrigens, die Sache mit der Individualität und so, und daß es besser wäre, wenn es unumstrittene Einrichtungen gäbe, damit jeder wüßte, was er von ihnen hat: Ich glaube, so viel Widerstand gäbe es gar nicht, wenn NDR2 gesetzlich dazu verpflichtet würde, zwischen 22:00 und 24:00 nur Supertramp zu spielen. Dann könnte man tolle Sachen machen, wie jedes Radio im Mietshaus Freitagabend voll aufdrehen etc.

Maiordomus,

nicht nur die moderne Philosophie ist Scheitern, sondern seit Hans Pfitzner auch die moderne Musik, genauer gesagt alles nach "Die Rose vom Liebesgarten" (also Pfitzner, Richard Strauss hat schon noch was danach zusammenbekommen, aber viel ist im 20. Jahrhundert nicht mehr gekommen).

Kurativ

22. April 2022 06:05

Das typische am Westen ist, dass man sich auf der Agora treffen kann und dem Gegenüber fragen kann "Was denkst du dazu?"

Das wollen die Feinde unserer Kultur verhindern.

Der Phaidon (Φαίδων) gibt einen schemenhaften und gewerteten Eindruck von dem.

Laurenz

22. April 2022 07:39

@Gelddrucker

Die Rechte unterscheidet sich weder äußerlich noch medial von der Linken. Während die Linke in den vergangenen Jahrzehnten geistig abgebaut hat, die Linke leidet unter ihrem Formalismus, Denkverbote, ähnlich im Islam oder anderen orientalischen Religionen. Das verhindert jeglichen Fortschritt. Die Rechte, hingegen, mutierte in relativ kurzer Zeit von vom VS finanzierten Säufern & Glatzen zu einer neuen Denkwelt. Rechts ist es erlaubt, Marx zu lesen, sogar zu vertreten. Links kann man räubern im anderen Lager komplett vergessen.

@Kriemhild

Fand den Vortrag gar nicht so akademisch. Natürlich ist es ein Unterschied, vor Publikum zu sprechen, als nur vor der Kamera. Das Format, zu 2t gemeinsam ein Thema, einen Autoren anzugehen, erachte ich als unvergleichlich gut. Sich gegenseitig Bälle zuzuwerfen, auf die Zeit zu achten, sich bei Formulierungen zu unterstützen, Lebendigkeit durch das Gespräch einzuhauchen, sind eher von der Anstrengung gekennzeichnet, einen komplexen Inhalt für viele interessant & nachvollziehbar zu erklären.

@Niekisch

Auch wenn sich mir persönlich die Frage nach einem philosophischen Leitbild überhaupt nicht stellt, verfolge ich interessante Vorträge, wie diesen, sehr aufmerksam. Muß Ihnen da Recht geben, allerdings ohne, daß ich irgendeinen Ersatz anbieten könnte. Zumindest im Vortrag weißt die Logik Gehlens erhebliche Lücken oder wirft ungeklärte Fragen auf.

Laurenz

22. April 2022 08:43

@EL & GK (2)

Auch Ameisen, die der Biomasse des Menschen auf der Erde in etwa gleichkommen, leben in Staaten & führen Kriege. Im Westen also nichts Neues. Auch Delphine, die einen Schwamm zur Jagd benutzen, geben diese Art der Jagd weiter an Nachkommen.

Was in meinen Augen am besten das Fehlurteil Gehlens erklärt, der, wie Religionen auch, den Menschen überbewertet, beschreibt die ARTE-Doku "Ein überschätzte Spezies" https://youtu.be/N3xjGxqKpwM

Hatte noch einen weiteren Punkt, aber dazu muß ich den Vortrag nochmals hören. Ansonsten ist Ihr Vortrag spannend, wie ein Krimi, man weiß nicht, was kommt.

 

RMH

22. April 2022 09:12

Danke für das Online-Stellen des Vortrags. Bei den nur gestreamten Literaturgesprächen ohne großes Publikum wirkt das Duo Kubitschek Lehnert doch etwas lockerer - kann aber auch am großen Thema Gehlen gelegen haben, was sicher nicht so leicht in knapp 1 Stunde 20 Minuten abzuhandeln ist. Kleine Manöverkritik: Der Tisch, an dem die beiden saßen, hätte ruhig etwas größer bzw. breiter sein dürfen. Mir brachte der Vortrag neue Erkenntnisse, u.a., dass das mit Gehlen irgendwie verwachsen zu scheinende Schlagwort vom "Mängelwesen" dann doch deutlich zu kurz greift.

Gerne mehr aus der Zeit, als die Soziologie noch nicht links war. Wie wäre es einmal mit einem Vortrag über Max Weber oder Ferdinand Tönnies?

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