Friedrich Nietzsche war der erste wichtige Kulturkritiker, der sich im Kontext seiner Angriffe auf das Christentum mit den Folgen der Lehre von der Erbsünde auseinandergesetzt hat. Er sollte etliche Rezipienten finden. So haben Max Scheler und Arnold Gehlen die Linien weitergezogen. Ihnen folgten in den letzten 20 Jahren Autoren wie Paul Gottfried (Multikulturalismus und die Politik der Schuld) und Hermann Lübbe (Ich entschuldige mich) mit der aktualisierten Beschreibung der oft keineswegs nur symbolpolitisch aufgeladenen Zivilbußrituale. Deren Folgen traten zu keiner Zeit so hervor wie Mitte der 2010er Jahre: Humanitarismus und Hypermoral werden in Form von Welt- und Europarettung von den Deutungseliten bis zur massiven Selbstschädigung zur Schau gestellt und politisch exekutiert. Man darf sich nach der für notwendig gehaltenen Zerknirschung gut fühlen und schlägt sich an die Brust: abermals ein Stück Wiedergutmachung für das von den Vorfahren begangene Unrecht!
Die Verachtung des Eigenen mag zwar in Deutschland besonders ausgeprägt sein; in anderen europäischen Ländern gibt es jedoch vergleichbare Tendenzen. Pascal Bruckner hat vorrangig Frankreich im Blick. Der laizistisch gesinnte Schriftsteller thematisiert schon seit Jahrzehnten den »Schuldkomplex«, wie einer seiner erfolgreichen Buchtitel lautet. Die Schatten, die durch frühere politische Weichenstellungen, insbesondere des Kolonialismus, auf die Gegenwart fallen, sind nicht nur für Bruckner der Nährboden für heutige Fehlentscheidungen. Zu ihnen zählen nicht zuletzt die Verharmlosung der Islamisierung. Deren direkte wie indirekte (oft angetrieben durch die angebliche Last der Vergangenheit!) Befürworter haben sich im Rahmen ihrer Agitation längst einen eigenen Überbau geschaffen, zu dem auch der Vorwurf der Islamophobie gehört. Er dient in erster Linie dazu, Gegner von fremdkulturellen Parallelgesellschaften zu stigmatisieren.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Anti-Rassismus-Kampagnen zu bewerten, die im Zuge der marxistisch angehauchten Black-Lives-Matter-Bewegung weltweiten Aufwind bekommen haben. Bruckner ironisiert die medial omnipräsente Rassismus-Keule mit dem Hinweis, daß diejenigen, die überall weißen Rassismus und Rassisten wittern, die Existenz von Rassen überhaupt leugnen. Bereits vor Jahren wurde der Rasse-Begriff aus der französischen Verfassung komplett gestrichen.
Der Autor schildert nun ausführlich die Vorgehensweisen derer, die sich Islamophilie aufs Panier geschrieben haben – und das sind beileibe nicht nur Repräsentanten der Moslems, die die Gewalttaten der letzten Jahre als Teil einer Eroberungsstrategie bejubeln. Gerne suggerieren einige Muslime und ihre Sekundanten, ihre Rolle sei heute mit der der Juden während des Zweiten Weltkrieges vergleichbar. Doch auch ein Teil der Linken will Honig aus der Lage der vermeintlich Marginalisierten saugen. Daher kristallisierte sich schon vor einiger Zeit das merkwürdige Phänomen der Islam-Linken heraus. Der Zweck heiligt auch hier die Mittel. Gleichwohl mutet es merkwürdig an, wenn überzeugte Säkularisten bisweilen Arm in Arm mit bärtigen Fundamentalisten marschieren, um für ein anderes Frankreich einzutreten.
Alles in allem legt Bruckner die Finger in viele offensichtliche Wunden. Anders als sein Landsmann Renaud Camus will er aber gewisse Grenzen nicht überschreiten. Auf die Gefahren weiterer Masseneinwanderung und den fortgesetzten Bevölkerungsaustausch geht er nicht ein. Die so inflationär zitierten, äußert schwammigen Werte der Aufklärung sollen es richten. Nationale wie kulturell-religiöse Prägungen der eigenen Tradition spielen demgegenüber eine nur untergeordnete Rolle. Das Manifest gegen die geistige Kapitulation ist doch nicht so mutig, wie der Autor wohl meint. Es bleibt auf halbem Weg stehen.
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Pascal Bruckner: Der eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld, Berlin: Edition
Tiamat 2020. 237 S., 24 €
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