Novalis (1772–1801)
von Ivor Claire
Ein romantischer Dichter sei ein »Autor, der die englische Literatur gelesen hat, Opium verzehrt und sexuell von patriotischen Groupies betreut wird«, schrieb Peter Hacks, unser bedeutendster stalinistischer Dichter, in seiner Suada Zur Romantik. Der »Verrückteste von allen«, ein gewisser Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, dient ihm dafür als Kronzeuge:
keiner bekennt sich so oft und so nachdrücklich zum Opium wie jener für zart geltende Jüngling: ›ohne Ekstase – fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein – ist es mit der ganzen Philosophie nicht weit her‹, so renommiert er. Novalis habe nicht nur im Tagebuch »unter Geständniszwang« gelitten, sondern erst recht in seinem Werk – in den berühmten Hymnen an die Nacht etwa ließen sich Reverenzen an die Opiatalkaloide klar benennen:
›Köstlicher Balsam / Träuft aus deiner Hand, / Aus dem Bündel Mohn. / In süßer Trunkenheit / Entfaltest du die schweren Flügel des Gemüts. / Und schenkst uns Freuden / Dunkel und unaussprechlich.
Diese Freuden seien
so unaussprechlich nicht, daß die Plaudertasche Novalis sie nicht ausspräche. ›Heiliger‹ Schlaf erfreut sich folgender Anrede. ›Die Toren‹ – ›Sie fühlen dich nicht, / In der goldenen Flut der Trauben, / In des Mandelbaums Wunderöl / Und im braunen Saft des Mohns‹. Wir sind mit des Dichters Apotheke ganz vertraut. Novalis’ Nothelfer sind der Schnaps, die Bittermandel (Blausäure) und das Opium. Die Blausäure war ja wohl für den Kreislauf.
Peter Hacks mochte keine romantischen Dichter, und er war sich hier einig mit Carl Schmitt, der diesen in seinem polemischen Großessay Politische Romantik vorwirft, weder zu klarem Denken noch zur konkreten politischen Gestaltung fähig zu sein. Im Romantischen werde, so heißt es gleich in Schmitts Vorwort,
alles zum ›Anfang eines unendlichen Romans‹. Diese auf Novalis zurückgehende, den sprachlichen Sinn des Worts wieder zur Geltung bringende Formulierung bezeichnet am besten die spezifisch romantische Beziehung zur Welt.
Schmitts »rechte« Suada gegen diese Gruppierung, die sich um 1800 formiert hatte und in der Folge gern als die deutsche Bewegung schlechthin apostrophiert wurde, zielt – etwas ausgefeilter als die »linke« von Hacks – nicht nur auf deren vielberufene Innerlichkeit als eine apolitische Haltung, sondern ebenso auf das »Proteushafte« und nicht Festlegbare der Romantiker, und auch ihm ist Friedrich von Hardenberg ein Kronzeuge:
In einer allgemeinen Vertauschung und Vermengung der Begriffe, einer ungeheuerlichen Promiskuität der Worte, wird alles erklärlich und unerklärlich, identisch und gegensätzlich, und kann allem alles unterschoben werden. Auf Fragen und Diskussionen zur politischen Wirklichkeit wurde die Kunst angewandt, ›alles in Sofien zu verwandeln und umgekehrt‹. Dies allgemeine ›und umgekehrt‹ ist der Stein der Weisen in der großen Alchemie der Worte, die jeden Kot in Gold und jedes Gold in Kot verwandeln kann.
Hacks assistiert Schmitt, von Novalis auf den Preußen E.T.A. Hoffmann übergehend, hinsichtlich der formalen Offenheit der romantischen Texte auch mit einem poetologischen Verdikt: »Mehr Form gibt die verkiffte Bewußtseinslage nicht her.« Das vernichtende Urteil des Goethefreundes Hacks hat ihm den Haß auch manchen progressiven Verteidigers der Romantik in der späten BRD eingetragen.
Sein Urteil war freilich nicht nur ein ästhetisches, sondern auch und vor allem eben ein explizit politisches, und Carl Schmitt hätte das Fazit des Nationalpreisträgers der DDR sofort unterschrieben:
Das erste Auftauchen der Romantik in einem Lande ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen.
Ganz anders als Schmitt und Hacks hat sich dagegen Ernst Jünger in seinem Abenteuerlichen Herzen, einem selbst recht romantischen Buch, nachdrücklich zu Novalis bekannt: Er preist dort »den Rausch, den Schlaf und den Tod« und rühmt neben den Kriegern die »heiteren und düsteren Aristokraten des Traumes«, weil sie es seien, »aus deren Träumen jede Ordnung sich bildet und denen jede Ordnung wieder zum Opfer fällt.« Und eine Ordnung werde unnütz,
sobald sich in ihr der große Traum nicht mehr verwirklichen läßt. Einer der tiefsten Träumer, Novalis, ein Deutscher: Wenn man in Märchen und Gedichten / Erkennt die wahren Weltgeschichten, / Dann fliegt vor einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort.
Der damals 34jährige Jünger erklärte sich jedenfalls bereit, gleich den ganzen Stendhal »für eine einzige ›Hymne an die Nacht‹« dranzugeben.
Aus seinem »linken« Mißverständnis heraus befand Peter Hacks später, erst diese Hymnen an die Nacht hätten modisch-melancholische Nachtgedanken wie die des Engländers Edward Young, dessen Blankverse Vorbild ganzer Dichtergenerationen im 18. Jahrhundert waren, »zu einem Anschlag gegen die gesamte Aufklärung geschärft, worin der Nacht ein eigener vernunftloser Zugang zu einer eigenen vernunftlosen Wahrheit zugeschrieben« werde – was wiederum Jünger von »rechts« her goutierte. Offensichtlich also hat das Werk jenes Novalis etwas an sich, das interessante Geister aller Couleur über 200 Jahre hinweg ansprechen oder gar provozieren konnte, im guten wie im schlechten und über vermeintlich klar umrissene Lager hinweg.
Friedrich von Hardenberg war und wurde zweifellos »der Archetype der Romantik« (Egon Friedell), sein Leben und sein Werk waren schon früh Gegenstand kultischer Verehrung und scharfer Kritik: Man sah in ihm einen in den Tod versunkenen Träumer, einen Seher, magischen Poeten und Christuskünder, einen Sänger der Natur, idealistischen Staatsverklärer und Royalisten, erkannte aber auch schon im 19. Jahrhundert neben utopischem Potential die philosophische Potenz in seinen Schriften.
Auf der anderen Seite waren spätestens seit Hegels ästhetischen und geschichtsphilosophischen Vorlesungen, vollends dann mit Heinrich Heines Angriff auf die Romantische Schule, die einschlägigen negativen Urteile im Schwange, wie sie schließlich bei Schmitt und Hacks am Anfang und am Ende des 20. Jahrhunderts nahezu idealtypisch erneut auftauchen sollten. Vor allem aber ist eine Faszinationsgeschichte zu konstatieren, die immer wieder neu aufflammte, und dies keineswegs bloß in der Literatur – so ist die sprichwörtliche »blaue Blume«, das Traumbild des Heinrich von Ofterdingen in Novalis’ fragmentarisch gebliebenem Roman, nicht nur für die Romantik seit dem frühen 19. Jahrhundert zum Kennsymbol geworden, sondern auch für den Wandervogel, die Jugendbewegung im Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Aus einem ähnlichen und doch anderen Geist heraus nannte sich noch in den 1970er Jahren eine erfolgreiche Deutschrock-Band Novalis – eine andere Formation dieser Jahre trug übrigens den Namen Hoelderlin.
Wie kam es zu einer solchen posthumen Karriere? Als Friedrich von Hardenberg mit knapp 29 Jahren am 25. März 1801 in Weißenfels starb, war er zwar eine aufstrebende und bekannte Größe im Literaturbetrieb, hatte aber nicht viel publizieren können: außer einem frühen Gedicht in Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur im Jahr 1791 waren dies 1798 die Blüthenstaub-Fragmente im ersten Heft des Athenäum, der programmatischen Zeitschrift seiner Freunde, der Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, dann die Blumen sowie Glauben und Liebe, eine Sammlung von politischen Aphorismen, die dem preußischen Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise gewidmet waren; sie erschienen im selben Jahr in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie. Und schließlich wurden 1800 noch die Hymnen an die Nacht im sechsten und letzten Heft des Athenäums gedruckt.
Mit Novalis’ Tod setzte indes sogleich die Arbeit seiner Freunde ein, die zu einem regelrechten »Novalismus« führen sollte: 1802 gaben Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel Hardenbergs Schriften in zwei Bänden heraus, denen »allerdings eine ganz einseitige und tendenziöse Auswahl und Bearbeitung der Werke« aus dem umfangreichen Nachlaß zugrunde lag – sie ließen Novalis allein als Mystiker und Schwärmer erscheinen.
Ludwig Tiecks biographische Vorrede zur dritten Auflage dieser Schriften schrieb 1815 das Bild fort und kanonisierte Hardenberg als schmerzensreichen, todessehnsüchtigen romantischen Dichter, dessen Werk von der Mittelaltersehnsucht des hinterlassenen Romantorsos Heinrich von Ofterdingen geprägt ist, die Chiffrenschrift der Natur nachzuvollziehen sucht sowie katholisierende Gedichte und vor allem Fragmente umfaßt. Das alles war nicht ganz falsch, aber es verzeichnete den jungen Dichterphilosophen doch erheblich.
Der tragische und entsprechend romantisierte Gehalt seines kurzen Lebens war die Liebe zu Sophie von Kühn gewesen, einem zwölfjährigen Mädchen: Er lernte sie 1794 kennen und verlobte sich ein Jahr später inoffiziell mit ihr – sie starb jedoch schon am 19. März 1797 nach längerer Krankheit, gerade 15jährig. Hardenbergs Hymnen an die Nacht können so auch als Bewältigung dieses Verlusts gelesen werden – wenig später starb auch noch sein nächstgeborener Bruder Erasmus.
Dennoch versank Novalis nicht in Melancholie, und er zog sich auch nicht von der Welt zurück. Anders, als es das nicht selten in Kitsch kippende trivialromantische Bild es will, war Friedrich von Hardenberg ein sehr disziplinierter und lebenszugewandter Mann: »Ruh ist Göttern nur gegeben / Ihnen ziemt der Überfluß / Doch für uns ist Handeln Leben / Macht zu üben nur Genuß.«
Dichter war er von Anbeginn aus Berufung, aber keineswegs von Beruf. Als er am 2. Mai 1772 auf dem Familiengut Oberwiederstedt im Mansfeldischen als zweites von elf Kindern zur Welt kam, wuchs Hardenberg in eine ganz vom Geist des Herrnhuter Pietismus geprägte Familie hinein, die ihn zu einem pflichtbewußten, frommen und arbeitsamen Leben bestimmte. Hardenbergs Vater war ein studierter Jurist, zudem im Silber- und Kupferbergbauwesen ausgebildet, der schließlich als Direktor mehrerer Salinen in der kursächsischen Salzgewinnung tätig wurde – in diesem Zusammenhang zog die Familie von Hardenberg 1785 schließlich nach Weißenfels an der Saale.
Friedrich von Hardenberg sollte am Ende in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters treten und eine vielversprechende Laufbahn vor sich haben. Doch zunächst studierte er, nach schulischer Bildung durch Hauslehrer und Abschluß am Luther-Gymnasium in Eisleben, 1790 Jura in Jena, wobei er auch beim Philosophen und Kantianer Karl Leonhard Reinhold und bei Friedrich Schiller hörte, die ihn beide freundschaftlich förderten und prägten; 1791 wechselte er nach Leipzig, wo er neben Jura Mathematik und Philosophie belegte.
Das juristische Examen bestand Hardenberg schließlich 1793 in Wittenberg. Sein Studentenleben hatte er dabei als umgänglicher und geselliger Mensch einschließlich einiger Amouren frei gelebt, doch nun sollte der Absolvent durch Vermittlung seines Onkels, des Ministers und späteren Reformers Karl August Fürst von Hardenberg, in preußische Staatsdienste treten. Auf Empfehlung des Vaters trat Friedrich von Hardenberg 1794 dann jedoch bei Coelestin August Just, einem kursächsischen Kreisamtmann und baldigen Freund, in Tennstedt eine praktische Verwaltungsausbildung an; dabei hatte er im Rahmen einer Dienstreise im nahen Grüningen seine Sophie von Kühn kennengelernt.
Um in ihrer Nähe bleiben zu können, wechselte er ins wirtschaftlich wichtige Salzgewinnungsfach, durchlief dazu eine Salzwerkausbildung und trat dann in der Weißenfelser Saline unter seinem Vater den Dienst als Salinenbeamter an. Nach dem Tod seiner Verlobten bezog Hardenberg die Bergakademie in Freiberg, wo er beim Geologen Abraham Gottlob Werner ebenso studierte wie beim Chemiker Wilhelm August Lampadius und anderen, aber auch praktisch in der Grube gearbeitet hat. In Freiberg lernte er seine neue Braut Julie von Charpentier, die Tochter eines Bergrats, kennen, mit der er sich 1798 verlobte. Aufgrund seiner Leistungen, seiner Disziplin und seiner Kenntnisse wurde er zum Salinenassessor ernannt und stand schon zum Amtshauptmann an, doch dann beendeten Krankheit und Tod sein so aktives und erfolgreiches Berufsleben.
Dies also war der reale Friedrich von Hardenberg, der sich hinter seinem dichterischen Pseudonym Novalis verbarg und posthum von seinen Romantikerfreunden, gewiß mit besten Absichten, einigermaßen sentimental mythisiert wurde. Sein vormaliger Vorgesetzter und Freund Just hatte 1805 einen nüchternen Nekrolog veröffentlicht, der dieser rational-klaren Dimension des in seinen Schriften so dunklen Dichters gerecht wurde. Aufschlußreich war die Reaktion des schwäbischen Arztes und Romantikers Justinus Kerner auf die Lebensdarstellung Justs: 1810 schrieb Kerner seinem Freund Ludwig Uhland, die Lektüre dieses Nekrologs habe eine sonderbare Wirkung, es störe doch, »wenn man sich Novalis als Amtshauptmann oder als Salzbeisitzer denkt. Das ist entsetzlich!! Ich hätte mir sein Leben doch viel anders vorgestellt.«
Bedenkt man nun, daß Novalis’ Bedeutung im dichterischen und philosophischen Werk begründet liegt, das sich aus seinem Nachlaß heraus als so umfangreich wie vielseitig erweist, frappieren Lebensführung und ‑leistung dieses so jung gestorbenen Mannes um so mehr. Heutige Literaten können sich in Deutschland auf ein System der Kulturförderung stützen, das seinesgleichen sucht – nach einer Literatur aus staatlich geförderter Feder, die qualitativ dem standhielte, was Friedrich von Hardenberg ganz ohne Literaturfonds neben einem fordernden Bildungs- und Berufsleben hervorgebracht hat, suchen wir indes meist vergebens.
Die germanistische Forschung hat Novalis’ solides lebenspraktisches Fundament und die damit verknüpfte mathematische, natur‑, technik- und verwaltungswissenschaftliche Bildung des romantischen »Archetypen« mit großer Akribie weitgehend aufgearbeitet, gründliche Editionen bereitgestellt, die auch seine philosophischen Studien zu Fichte, Kant und Hemsterhuis, seine Kommentare zu Friedrich Schlegel und seine Lektüre Schellings zuverlässig dokumentieren und erschließen. Die Deutungsversuche zu seinem Werk sind Legion.
Friedrich von Hardenberg gehört damit zweifelsfrei zum Kulturerbe eines allerdings dahinschwindenden Deutschland, in dem sich immer weniger Leser und Verständige finden. Wer kann und will denn noch mit den teuren germanistischen Apparaten und Forschungsergebnissen zu solchen höchst anspruchsvollen und voraussetzungsreichen Texten überhaupt arbeiten? Damit ist dieses Kulturerbe längst selbst prekär: Nolens volens stellt sich die Frage, warum man überhaupt Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, diesen unvollendeten Versuch eines »Bildungsromans für eine ganze Nation«, lesen sollte – oder die kryptischen Lehrlinge von Saïs, die Hymnen oder die Geistlichen Lieder, all die Aphorismen und Fragmente. Es sind Texte für alle und für keinen … und wer Augen hat, der lese! Denn
sobald wir uns, wie man sagt, angesprochen fühlen von ihrer Lektüre, scheint etwas Unüberwundenes sich anzumelden, von dem uns zugleich bewußt wird, daß es in den Zusammenhängen unserer geschichtlichen Verwurzelung gründet und seither nicht aufgehört hat, uns in Frage zu stellen.
Wie alle klaren Geister jener Jahrzehnte um 1800 sah sich auch Novalis in einer Umbruchszeit angesichts der notorischen Französischen Revolution, aber auch mit Blick auf die Philosophie Kants, die Debatten in den Wissenschaften, der sich entwickelnden Geologie, die nicht nur unterschiedliche Modelle zur Entstehung der Landmassen ins Feld führte, sondern über die Fossilienfunde auch die Frage nach Entstehung und Vergehen der Arten auf die Tagesordnung setzte.
Die althergebrachten Gewißheiten, die auf die Bibel gestützte christliche Glaubenssicherheit, das Ruhen in Gottes Heilsgeschichte, all das war bei Intellektuellen, die wie Schiller, Hölderlin, Schelling, Hegel oder Novalis aus strenggläubigen Häusern kamen, längst erodiert, und man suchte nach Möglichkeiten, im Wissenshorizont der neuen Zeit heimatlich alte Bestände zu retten.
Wie sich angesichts einer immer ungewisseren Zukunft orientieren? Worauf setzen und wie sich verhalten, wenn ein Gott zwar nah, aber schwer zu fassen scheint? Diese Fragen sind heute brennender als je zuvor, und wer unsere eigene Lage durchdringen will, muß tief bohren und sich auf Hölderlin, Hardenberg und Hegel ebenso einlassen wie auf Karl Marx und Max Weber. Das philosophische Fragen des Novalis ragt insofern besonders heraus, weil es bei allen mathematischen Anleihen poetisch statthat und also unabgeschlossen bleibt, ins Offene läuft, anders als bei den typischen Systemdenkern.
Wenn wir seinen zu Lebzeiten wohl vorgetragenen, auf Goethes Rat aber nicht gedruckten Essay Die Christenheit oder Europa lesen, spricht dieser nicht direkt zu uns? »Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor?« Immer wieder rolle die Kugel hinunter, kaum sei das Gleichgewicht auf der Spitze erreicht:
Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle eure Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält, aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels, gebt ihm eine Beziehung auf das Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm, und werdet eure Bemühungen reichlich gelohnt sehn. An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang, nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.
Diesen »Zauberstab der Analogie« müssen wir Heutigen freilich auch auf jenes pietistische Erbe anwenden, das sich nicht zuletzt in Novalis transformiert hat – in einer Verschmelzung der bis zum Wahn gehenden frommen Energie mit politischen Ideen in der besonderen Lage der in sich und mit sich zerfallenen Deutschen im Zentrum Europas:
Du wirst das letzte Reich verkünden, / Was tausend Jahre soll bestehn; / Wirst überschwenglich Wesen finden / Und Jakob Böhmen wiedersehn.
In solchem religiösen Patriotismus mögen auch die vergessenen Wurzeln der pfäffischen Exzesse heutiger Deutscher liegen, wenn sie versuchen, sich in der Sphäre des Politischen zu artikulieren, und dabei das Politische immer sogleich zu ihrem eigenen Schaden exorzieren …
Freunde, der Boden ist arm, wir müßen reichlichen Samen / Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Erndten gedeihn.
t.gygax
Sehr empfehlenswert: die Biographie "Novalis.Leben und Werk" der Rostocker Literaturwissenschaftlerin Marianne Beese.
Und immer anhörenswert: "Wunderschätze " von der deutschen Rockband novalis, eine Vertonung eines geistlichen und sehr tiefgründigen Gedichtes von Hardenberg live aus dem Jahre 1977.
https://www.youtube.com/watch?v=JsA2qGaVvq4