In Serbien (1)

Im Zentrum Belgrads, auf einem Hügel, von dem aus der Blick über die Save geht, hat der serbische Staat eine riesige neue Kirche bauen lassen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Sie ist dem Hei­li­gen Sava geweiht und war­tet mit einem monu­men­ta­len, in der ortho­do­xen Lit­ur­gie-Tra­di­ti­on bank- und stuhl­frei­en Innen­raum auf, des­sen strah­len­de, jubi­lie­ren­de, ver­herr­li­chen­de Aus­ma­lung fast abge­schlos­sen ist. Vor vier Jah­ren betra­ten wir über Holz­plan­ken und durch ein Neben­por­tal noch einen hal­ben Roh­bau, die Kup­pel war verhängt.

Nun ist alles geöff­net, die Ver­eh­rung der Iko­nen mög­lich, die für sol­che Bau­ten und in sol­chen Län­dern typi­sche Mischung aus Tou­ris­mus und all­täg­li­cher Glau­bens­pra­xis in vol­lem Gange:

Män­ner und Frau­en betre­ten auf dem Weg zur Arbeit kurz die Kir­che, schla­gen das Kreuz­zei­chen, küs­sen und berüh­ren die Iko­nen und ste­cken eine Ker­ze auf. Sie ver­las­sen den hei­li­gen Bau rück­wärts und berüh­ren die Säu­le am Por­tal, wäh­rend an ihnen vor­bei die Kin­der einer Schul­klas­se hin­ein­drän­gen – nicht bes­ser oder schlech­ter oder anders geklei­det als Schü­ler die­ses Alters in Deutsch­land, eben­so puber­tär unge­stalt und unsi­cher, balan­cie­rend auf dem Draht­seil zwi­schen Her­de und Signal.

Auf der ande­ren Sei­te der Innen­stadt, dicht über dem Ufer der Donau, ist die Kapel­le der Hei­li­gen Pet­ka dort an den Hang gedrückt, wo eine Quel­le ent­springt. In der für den Bal­kan typi­schen Unbe­küm­mert­heit brummt ein gro­ßer, wei­ßer Appa­rat unter den Mosai­ken, über Schläu­che wird das Was­ser in klei­ne Plas­tik­fla­schen gezapft: Ele­xier für jenes glau­bens­fä­hi­ge Wesen, das nicht nur aus Lehm vom Acker geformt wur­de, son­dern auch Odem ein­ge­haucht bekam.

Die­ses Wesen, der Mensch, fügt sich auch in Bel­grad der glo­ba­len Zivi­li­sa­ti­on, mal mehr, mal weni­ger begeis­tert, ver­mut­lich sogar ein­fach so, ohne groß dar­über nach­zu­den­ken. Die Haupt­ein­kauf­stra­ßen unter­schei­den sich kaum von denen gro­ßer Städ­te in Deutsch­land, Ungarn, Polen, Eng­land. Ange­bo­te aller bekann­ten Ket­ten, H&M, Deich­mann, Lidl, dazu Bou­ti­quen und jene to-go-Kaf­fee- und Piz­za-Ange­bo­te, die schon im Design das Ver­spre­chen geben: Egal, wo du bist – es schmeckt immer gleich.

Kaum sit­zen oder ste­hen die Men­schen, schau­en sie nach den neu­es­ten Nach­rich­ten, kom­mu­ni­zie­ren sie auf eine Wei­se, auf die man erst seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren über­haupt kom­mu­ni­zie­ren kann. Sel­ten, daß einer liest oder bloß schaut. Immer­hin – das fällt auf! – sich­ten wir vie­le Buch­hand­lun­gen. Bel­grad ist, so erzählt es ein Ver­le­ger, noch immer die Buch­haupt­stadt des ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en, der Ver­lags­mit­tel­punkt für Mil­lio­nen Leser.

(Bit­te: Ich weiß, daß jede Kul­tur­kri­tik ins Lee­re greift, daß sie melan­cho­lisch-nost­al­gisch geklei­det ist, egal, wie modern sie sich gibt. Ich äuße­re sie nicht naiv oder fle­hend, son­dern als Bestandsaufnahme.)

In den Neben­stra­ßen: Restau­rant­po­des­te aus Holz, über­quel­lend, viel jun­ges Volk. Das Vier­tel mit dem Park des Kämp­fers Voj­vo­da Vuk könn­te in Wien sein. Mit­ten­drin liegt die Par­zel­le mit der über­wu­cher­ten Rui­ne der Natio­nal­bi­blio­thek, die im April 1941 beim deut­schen Angriff auf Bel­grad den Bom­ben zum Opfer fiel.

Über­haupt: Mah­nen­de Rui­nen sind ein erin­ne­rungs­po­li­ti­sches Kon­zept in Bel­grad – das 1999 durch das Nato-Bom­bar­de­ment zer­stör­te Gebäu­de des Fern­seh­sen­ders (16 Todes­op­fer) hin­ter der Mar­kus-Kir­che bleibt als Wun­de eben­so offen ste­hen wie das des Radiosenders.

Mit Wahr­neh­mun­gen ver­hält es sich so: Sie kön­nen für den­je­ni­gen, der sie macht, ein Gewicht bekom­men, das ande­re nicht eben­so spü­ren. Es ist nicht so, daß um die Kriegs­rui­nen her­um das Leben lang­sa­mer oder sto­ckend ablie­fe, daß von ihnen eine Schwer­kraft aus­gin­ge, der sich nie­mand ent­zie­hen kann. Sie wir­ken in unfer­ti­gen Städ­ten sowie­so wie etwas, das bald an die Rei­he kommt.

So wirkt das gera­de­zu win­zi­ge rus­sisch-ortho­do­xe Kirch­lein “Hei­li­ge Drei­fal­tig­keit” am Tas­maj­dan-Park natür­lich nicht: Sie beher­bergt das Grab Gene­ral Wran­gels, der im rus­si­schen Bür­ger­krieg auf Sei­ten der Wei­ßen gegen die Bol­sche­wis­ten kämpf­te und unter­lag, sich nach Brüs­sel ret­te­te, dort von Agen­ten ermor­det wur­de, tes­ta­men­ta­risch aber ver­fügt hat­te, man möge ihn in Bel­grad bestat­ten. Neben sei­nem Epi­taph ste­hen gro­ße, schwar­ze Tafeln mit den Namen Frei­wil­li­ger aus Ruß­land und aus ande­ren Natio­nen, die auf der Sei­te Ser­bi­ens in Kroa­ti­en, Bos­ni­en und spä­ter im Koso­vo kämpf­ten und fielen.

Noch ein­mal: Wel­chen Erin­ne­rungs­druck üben sol­che Orte aus? Legen sie jedem, der in ihrer Nähe ist, ein Gewicht auf die Brust? Nein: Sol­che Orte sind eine Mög­lich­keit. Sie sind da und war­ten ab, bis jemand kommt, der sich belas­ten las­sen möch­te. Des­halb sind sie hilf­los, so hilf­los eben wie jeder Bild­stock, den pas­sie­rend nie­man­des Gang mehr stockt.

Es gibt ein scho­ckie­ren­des Bild, das die­se Hilf­lo­sig­keit und das bru­ta­le Recht des Lebens gegen­über dem Tod (und dem Opfer) zeigt – es muß in einem Nach­kriegs­bild­band zu fin­den sein, in wel­chem bloß? Man sieht jun­ge deut­sche Frau­en in Bade­an­zü­gen an einem See, weni­ge Meter von Bir­ken­kreu­zen ent­fernt lagernd, die ein paar Wochen zuvor Gefal­le­nen gesetzt wor­den waren. Sol­da­ten fie­len also wäh­rend der Ver­tei­di­gung eines Stück­chens Erde, von dem aus gleich wie­der in den See gestie­gen wer­den kann, als sei nichts gewesen.

Selt­sam – aber sol­ches kann einem durch den Kopf gehen, wäh­rend man durch Bel­grad geht. Stim­mun­gen her­auf­däm­mern sehen, in Atmo­sphä­ren und Bil­dern zu fischen begin­nen – das ist einer jener klä­ren­den Vor­gän­ge, den kei­ne Künst­li­che Intel­li­genz je wird nach­ah­men kön­nen. Der Gedan­ke ist dieser:

Die alles aus dem Feld schla­gen­de, nicht in Leit­sät­zen for­mu­lier­te Ver­bind­lich­keit und Ver­ein­heit­li­chungs­kraft der glo­ba­len Zivi­li­sa­ti­on läßt uns wenigs­tens noch eine Ent­schei­dung. Diet­rich Schwa­nitz hat sie vor fast zwei Jahr­zehn­ten in sei­nem Buch Bil­dung etwa so skiz­ziert: Man kön­ne sich in allen Fra­gen und Berei­chen stets für die Teil­nah­me an der Hoch­kul­tur ent­schei­den – oder dage­gen. Es nicht zu tun, bedeu­te nicht, sich gegen sie zu stel­len, es bedeu­te nur, auf Räu­me zu ver­zich­ten, die zu bewoh­nen Höhe und Tie­fe leh­re, und die Viel­ge­stal­tig­keit des Lebens. Aber natür­lich kom­me man auch ohne aus.

Es ist also in Bel­grad nicht anders als hier­zu­lan­de: Man kann noch immer alles vor­fin­den – Bücher, Kon­zer­te, Aus­stel­lun­gen, his­to­ri­sche Stät­ten, Bau­sub­stanz, Sonn­tags­got­tes­diens­te, berü­cken­des Kön­nen, Schön­heit in Par­ken und Köst­li­ches in Wirts­häu­sern. Bloß: Es ist nicht mehr ver­bind­lich, schon lan­ge nicht mehr, Ver­bind­lich­keit ist auch nicht mehr wie­der­her­stell­bar, und so ent­schei­det sich der je Ein­zel­ne dafür oder dage­gen, sucht den Anspruch auf oder nicht, läßt sich belas­ten oder geht unbe­schwer­ter durchs Leben.

Ein­mal vom Hügel des Hei­li­gen Sava über die Stadt geblickt, Rich­tung Save, Rich­tung Donau, dann weiß man es: Lei­der holt Bel­grad auf. Was man dage­gen tun kann? Das frag­te ich mich auf dem Weg zum “Klub 451”, in dem ein Vor­trag zu hal­ten war. Man will ja nicht hin­ter Erkennt­nis­se zurück­fal­len, zumal dann nicht, wenn man um Rat gefragt wird. Des­halb war ich nicht ganz pünktlich.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (6)

Maiordomus

7. Juni 2022 18:18

Eine schöngeschriebene, im besten Sinn feuilletonistische Studie, bei der mich zumal die Erinnerung an den General der Weissen Armee zu bewegen vermochte, aber auch das Bekenntnis zur slavischen Buchmetropole. Ein Kollege von mir, den sie bei den Schweizer Schriftstellern nicht wollten, ist Mitglied des serbischen Schriftstellerverbandes. Weniger zitierbar scheint mir der auch Fake News als Allgemeinbildung ausgebende Schwanitz, selbst wenn die zitierte Aussage in der Tat nicht die dümmste ist. "Die Serben sind kein Pack!", erklärte im Dezember 1914 der nachmalige Schweizer Nobelpreisträger Carl Spitteler, notabene der erste, der sich in Luzern dann kremieren liess und nach dem die Prachtsstrasse Carl-Spitteler-Quai benannt ist, notabene der in in Deutschland fast am wenigsten verbreitete Nobelpreisträger, weil er damals als deutschen- und zumal preussenkritisch galt.

GK schreibt eine fürwahr gepflegte Prosa, geschult bei einigen der besten deutschen Autoren aus der vorigen ersten Jahrhunderthälfte. 

Allnichts

7. Juni 2022 19:43

Ein sehr gelungener, auch ein sehr schöner Text, trotz der Tatsache, dass darin einige eigentlich traurige Zustände und Entwicklungen angesprochen werden. Atmosphärisch, als befände man sich dort.

Auch wenn von interessierten Kreisen eifrig daran gearbeitet wird, so ist vieles noch längst nicht verloren oder gar zerstört, es ist vor allem verdeckt und an den Rand gedrängt und in die Dunkelheit verschoben, verunglimpft und zum Makel erklärt. Wer will, kann sich weiterhin damit in Verbindung setzen, es bewahren und leben, teilen, eingeschränkt vielleicht und oft nur mit Schwierigkeiten oder gar etwas einsam, aber grundsätzlich ist es möglich. Es mag nicht mehr verbindlich sein, diese Verbindlichkeit mag auch nicht absichtlich wiederherstellbar sein, aber es könnte sich zumindest wieder eine neue Verbindlichkeit entwickeln, in Zeiten, in denen das derzeit Herrschende nicht nur mal wackelt, sondern schon zu bröckeln begonnen hat.

Laurenz

7. Juni 2022 23:48

@Maiordomus (1)

Selbst ein Literatur-Banause, wie ich bemerkt, daß GK schön & verdichtet schreiben kann. Am liebsten wäre es mir gewesen, Er hätte auch diesen Text selbst auf Video vorgelesen. Es ist kein Wort zuviel & kein Wort zuwenig, was eine enorme Kraft erzeugt.

Gerade, weil sich GK auf die Historie, das Bisherige bezieht.... auch auf eine architektonische, kann man sich sehr wohl über den Inhalt streiten. Habe selbst orthodoxe Gläubige erlebt, nicht in Belgrad, aber dafür in Kiew, auf der Krim & in Rumänien. Für eine beschriebene Morgenandacht, die ähnlich dem asiatischen Tai-Chi, die Seele für den Tag rüstet, kann ich Verständnis aufbringen. Aber das ist nicht die Realität. Das Ritual, welches alleine Gott gebührte, bezieht sich auch auf Gottes menschliche Hausmeier, was abzulehnen ist. Als ob Gott Makler bräuchte. Im Guten, wie im Schlechten, sind Orthodoxe intensiver als Angehörige der westlichen Kirchen. Das kann man so auch auf alle Völker Europas fast direkt übernehmen.

Laurenz

8. Juni 2022 00:05

@Maiordomus (2)

Was macht denn die Serben aus? In erster Linie haben sie mehr als 500 Jahre Türkenherrschaft überlebt, was sich, wie in Osteuropa individuell üblich, in diesem Fall auf eine Geschichtsschreibung Serbia first begründet. Da werden große Verlierer, wie König Lazar, quasi zu Siegern stilisiert. Diese arg manipulierte Geschichtsschreibung hatte zwar das kulturelle Überleben gesichert, aber andererseits nach gewonnener Freiheit zu eklatanten Fehlentscheidungen geführt, weil die Basis des Handelns schlicht, wie quasi alttestamentarisch erlogen ist. Es ist quasi fast unmöglich Debatten mit Osteuropäern über ihre eigene Geschichte zu führen, völlig egal, ob das Serben, Kroaten, Polen, Ungarn oder Russen sind. Die nationalen Befindlichkeiten sind mit Blut in Stein gemeißelt, was schon immer zu sogenannten Balkanreibereien führte. Ich habe nichts dagegen, wenn sich das endlich von selbst beseitigen würde. Soweit sind wir aber noch nicht. Deswegen ist die aktuelle ahistorische deutsche Sicht auf den osteuropäischen Großraum so selten dämlich. Es glauben doch nur Trottel, daß die Orthodoxen Restrumelien der Türkei lassen werden.

Laurenz

8. Juni 2022 00:14

@Maiordomus (3)

Mich erinnerte der Artikel bezüglich der Opferbereitschaft irgendwie an Castanedas Vergleich zwischen der Lebensart des Kriegers & des Kaufmanns. Im persönlichen Bereich ist die Lebensart des Kriegers immer der des Kaufmanns überlegen. Der Krieger vermeidet den Kampf, wenn es geht. Wenn der Kampf sich aber nicht vermeiden läßt, zieht ein Krieger immer in seine letzte Schlacht. Ein Kaufmann würde das nie tun. Eine 50%ige Chance das eigene Leben zu verlieren, bleibt aus seiner Sicht, immer ein Scheißgeschäft. Rein kaufmännisch geführte (historische) Staats-Konstrukte scheiterten am mangelnden Vernichtungswillen, wie an mangelnder territorialer Masse.

Maiordomus

8. Juni 2022 08:56

Das Wesentliche, was oben von @L noch angesprochen wird, sind gegen 500 Jahre Türkenherrschaft. Dies bewirkt ein ganz anderes Verhältnis zum Islam als es zum Beispiel deutsche Bundespräsidenten propagieren, aber doch wohl auch ein anderes Staatsverständnis, nämlich im Zweifelsfalle misstrauisch. Was indes serbischen Patriotismus bis hin zum Nationalismus nicht ausschliesst, ausserdem panslavistische kommunizierende Röhren.