Konrad Schuller schildert in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” vom 22. Mai 2022 die Situation in den Katakomben des Mariupoler Stahlwerks Asowstal. Eine danteske Szenerie: Demnach ist es
“dort dunkel, feucht, heiß und muffig. Es stinkt. Die Luft ist wegen der Explosionen voll Staub und Rauch, viele sind davon lungenkrank. Die Toten liegen in einem Kühlraum. Schmerzmittel fehlen, sodass manchmal ohne Anästhesie operiert wird. Die Patienten beißen dann in Gürtel und schreien. Zu trinken gibt es nur das verschmutzte „technische Wasser“ aus der Fabrik. Fotos aus den Katakomben von Asowstal zeigen außerdem auffällig viele Soldaten mit amputierten Armen und Beinen. Die Berichte von Familienmitgliedern erklären, warum das so ist: Weil zu wenig Antibiotika da sind und Wundbrand droht, entschließen sich die Sanitäter zu Amputationen, auch wenn das Bein normalerweise gerettet werden könnte.”
Man denkt: 2022! Und die Brutalität mit Zerstörung, Folterung, Raub und Vergewaltigung bricht sich wie in früheren Jahrhunderten Bahn, genauso, wie wir sie aus dem Dreißigjährigen und den Weltkriegen kennen. War es anders zu erwarten? Zynismus verbietet sich, aber anthropologische Nachlese scheint um so mehr geboten.
„Wir machen keine neuen Erfahrungen“, so einst Rahel Varnhagen, „sondern es sind immer neue Menschen, die alte Erfahrungen machen.“
Die Hauptmoralisten und Leitlinienbestimmer der Republik jedoch wähnten den Menschen – als guten Demokraten, als weltoffen, als regenbogenbunt – längst auf ein höheres Niveau gehoben – geläutert, an der Geschichte hochgeschult, also humanistisch endgültig verfeinert.
Im Laufe der Zeiten ist das jedoch ganz offenbar so nicht geschehen. Also werden die liberalen, linken und grünen Interpreten der Weltgeschichte dazu übergehen, sich räumlich zu trösten, indem ihnen nichts übrig bleibt, als – Quasirassistisch? – zu meinen:
Leider ist der Mensch dort, also im wilden Osten, der Russe etwa, noch nicht so weit, aber zum Glück ja hier, bei uns. Jedenfalls als Parteigänger der Liberalen, der Linken, der Grünen, ebenso der Christ- und Sozialdemokraten, während sich die Schwererziehbaren und sonstwie politisch Verhaltensgestörten isoliert in der AfD versammeln, als solche, die es so an sich gar nicht geben dürfte.
Der deutsche Idealismus schrieb sich über Hegel genetisch dem Marxismus und schließlich dessen aktuellen Schrumpfformen ein, den linken Sozial‑, Kultur- und Lifestyle-Überzeugungen.
Danach läuft, salopp formuliert, die Geschichte in der Weise eines Erziehungs- und Läuterungsprozesses teleologisch auf eine umfassende Humanität zu, die weitgehend das vermeintlich Unmenschliche ausschließen wird. So, wie etwa die „dreckigen“ fossilen Energieträger gerade ausgemerzt werden, um von „grünem“ Wasserstoff und „nachwachsenden Rohstoffen“ endlich, endlich CO2-neutral und nachhaltig ersetzt zu sein.
Nie, suggeriert linkes Wunschdenken, war der Mensch so reif, nie sah er so klar und zog so ultimativ die richtigen Lehren aus seinem jahrtausendelangen Irrweg. Wer dieser Illusion nicht folgt und das Bekenntnis zum endlich nurmehr guten Menschen nicht nachspricht, der gehört nach Auffassung der offiziellen Meinungsführerschaft verboten. Mindestens in ihrem kulturellen und sozialen Überbau ist unsere Gesellschaft ihrem Selbstverständnis nach sozialistisch.
Nur ist das Unmenschliche eben nach wie vor – oder vor allem? – das Menschliche. Die Moral mußte man erfinden, die Unmoral nicht. Not etwa kennt immer noch kein Gebot. Sobald die apokalyptischen Reiter ihren Rossen die Sporen geben, erscheint der neue Mensch wieder so, wie er immer war. Und staatliche Macht zwingt ihn, entweder Täter oder Opfer zu sein, wenn ihm die Möglichkeit oder die Klugheit fehlen, sich Zwangsvereinnahmungen weitestgehend zu entziehen.
Der Mensch so unmenschlich, wie er immer war? Nicht alle, zum Glück, aber jene, die sich nicht dem Gebot der plötzlich aufscheinenden Gewalt unterwerfen, sind in Gefahr, die Opfer zu werden, während die Täter dreist offensiv die Geschicke aller anderen bestimmen, wenn sie sich das Recht dazu einfach nehmen, weil sie die Macht dazu haben.
Man darf das nicht gutheißen, man sollte darüber andererseits erst recht nicht verzweifeln, weder konkret an sich selbst noch allgemein am Menschen, man muß es aber wissen! Daß der Mensch so ist, wie er ist – und wie ihn die Mythen und Religionen immer kannten und problematisierten: Er ist – bei all seinen wunderbaren Möglichkeiten – unweigerlich von Schuld belastet und von Schuldigen geschlagen. Darin liegt das Drama seiner Freiheit.
Seine Mutter hätte Zwillinge auf die Welt gebracht, schrieb Thomes Hobbes rückblickend auf seine Geburt, „ihn und die Angst.“ Genau das geschieht weiter – mit jeder Geburt.
Die Heilige Messe beginnt mit dem Schuldbekenntnis. Aber damit ist sie mittlerweile der einzige Ort, an dem sich Menschen gleich eingangs im Bewußtsein solcher Last versammeln. – Ansonsten herrscht fatalerweise die Grundvereinbarung, der Mensch wäre gut, mindestens dann, wenn ihm die Bedingungen so eingerichtet würden, daß er es offenbaren könnte. Weil die Linke unbelehrbar davon überzeugt ist, führte noch jedes ihrer Gesellschaftsexperimente ins Verhängnis.
Und genau dieser Glaube, der Mensch würde immer besser, ist gefährlicher als die Wirklichkeit, weil er eben die Wirklichkeit nicht sehen will. Zudem neurotisiert der Bekenner des Gutmenschentums persönlich, denn so, wie er sein möchte, kann er nicht sein. Er muß sich gegenüber sich selbst verstellen, um ein Bild zu erzeugen, das seinem Wesen nicht entspricht.
Indem er seine eigene Nachtseite nicht sehen will, verkennt er sich unweigerlich, denn er vermag so nicht zur Selbsterkenntnis zu gelangen, verlangt dem anderen in einer Art politischem Rollenspiel aber um so mehr eine Moralität ab, die ihm selbst nicht eignet und die es so ph-neutral nicht gibt. Letztlich liegt in der Selbstgewißheit hoher Moralität entweder selbstzufriedene Überheblichkeit oder es besteht darin eine noch schlimmeres Ungemach heraufbeschwörende Überforderung.
Bricht der Mensch aus, so wie Kriege und Elend ausbrechen, zerbrechen die hehren Träume der Linksmoralisten total, dann erscheint ihnen der Mensch, ansonsten in einem fragwürdigen Als-ob grundsätzlich gut und vernünftig, sogleich als völlig verworfen und fehlerhaft, ja gewissermaßen als krank, jedoch:
Stets nur der andere, also gegenwärtig dort, im Krieg, „der Russe“, hier, tief im Frieden, der „AfDler“ oder die Rechten, letztere auch dann, wenn ihr Handeln es gar nicht zeigt oder tadellos ist, denn der Rechte wäre ja endogen unmoralisch, unmenschlich, daher unrettbar verloren, so das manichäische Urteil.
Friedrich Nietzsche schrieb im neunten Hauptstück von „Jenseits von Gut und Böse“:
Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist?
Dies ändert sich nicht einfach mit umbenannten Straßen, nicht mit antirassistischen und antiimperialistischen Kampagnen, nicht mit Antidiskriminierungsgesetzen, insofern jene, die dergleichen inspirieren, doch gegenwärtig andere am allermeisten nicht nur diskriminieren, sondern sogar total disqualifizieren und diskreditieren, gerade weil sie die Macht und Deutungshoheit erlangten. Linke Kultur ist immer Cancel Culture, vom innerlinken Dauerzwist über die Schauprozesse des Stalinismus und die Gesinnungsschnüffeleien im Poststalinismus bis zur heutigen Herrschaft über die geltende Meinung.
Was in der Ukraine geschieht, ist vielfach der Horror. Es ist der menschliche Horror, mit dem man sich nicht abfinden darf, den man aber kennen muß – ob nun aus aufmerksamem Erleben, ob aus Kunst, Literatur oder gar Film. Jedes Schulkind lernt im Nächsten oft genug jenen kennen, von dem es gekränkt und gequält wird. Und probiert sich selbst subtil oder grob im Kränken und Quälen aus. Ja, auch heute, da sich die Schule als Paradiesgärtlein der Gesellschaft verstehen möchte.
Von Sophokles her gilt nach wie vor: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ Und was er an Grausamkeiten der eigenen Gattung antat, das mutete er noch verheerender seiner Lebensumwelt und den Mitgeschöpfen zu, gerade in Zeiten der großen Moralisierungen noch gesteigert in der Weise der “Great Acceleration”.
Die Moralisten sehen die Menschen mit umfassenden Möglichkeiten gesegnet. Sie gehen nicht eben davon aus, daß diese Möglichkeiten nur hier und da und nur in umfassenden Grenzen vorhanden sein mögen. Wenn überhaupt je. Aber für diese Grenzen eben haben wir Sorge zu tragen, anstatt zu meinen, der Mensch wäre per se „edel, hilfreich und gut.“ Goethe schrieb in „Das Göttliche“ nicht, daß er so ist, sondern daß er – im Konjunktiv – so sei.
Ein Fremder aus Elea
Die klarste Darstellung der Rolle der Sündenbekennung findet sich in den beiden Johannesbriefen: Was nicht eingestanden wird, kann nicht überwunden werden.
Aber wenn das der Gedanke ist, ist es sinnlos, von grundsätzlicher Sündigkeit zu sprechen, stets auf konkrete Verfehlungen sollte das Eingeständnis gehen.
Ich habe den Verdacht, die katholische Kirche verfolgt den folgenden Gedanken: Jeder tut sowieso stets, was er will, und ist davon überzeugt, daß er gut ist. Aber wenn sich jemand mal schlecht fühlt, und er sich an die Lehre der Sündigkeit des Menschen erinnert, kommt er vielleicht auf den Gedanken, daß es ihm besser gehen könnte, wenn er eine gute Tat vollbringt. Und wenn das so ist, werden immerhin einige gute Taten vollbracht, wenn das Dogma besteht.
Ansonsten, wer nicht völlig blöd ist, weiß, was Krieg heißt. Am Spruch "Stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin." ist schon was dran, in dem Sinne, daß soziales, und nicht asoziales Verhalten Kriege ermöglicht. Das ist der Knackpunkt: Artigkeit verhindert keine Kriege, sondern ermöglicht sie.