Autofahrt. Deutschlandradio überträgt das Konzert des Kiewer Sinfonieorchesters, das in Dresden gegeben wird. Es ist der Auftakt einer Deutschlandreise mit Stationen unter anderem in Leipzig, Berlin und Hamburg. Gespielt werden Stücke ukrainischer Komponisten.
Als das Orchester nach der Pause auf die Bühne des Kulturpalastes zurückkehrt, ruft eine Stimme die Worte »Slawa Ukrajini« in den Saal, der Rufer wünscht der Ukraine also Ruhm und Ehre. Und während von den Balustraden ukrainische Fahnen hängen (dies beschreibt euphorisch der Kommentator), will der Applaus nicht enden.
Enden will er an diesem Abend sowieso kaum je, vor allem vor und nach der zweiten Zugabe nicht mehr. Der Dirigent (ein Italiener) kündigt sie mit leiser Stimme an, nicht, weil er in ihr ein Wagnis, etwas Verwegenes annehmen muß, sondern so, wie man den Herzenswunsch vieler halb fragend, halb wissend ausspricht, mit einem Lächeln, selbstsicher, auch von sich selbst gerührt: Es ist die Nationalhymne, die ukrainische natürlich, und wie ein Mann erhebt sich der Saal.
Später beschreibt das eine Zeitung, die jede auf einer Pegida-Demonstration getragene Deutschlandfahne für eine nationalistische Aggression hielt, in etwa so: Viele hätten still mitgesummt, einige der anwesenden Ukrainern jedoch den Text geradezu in den Saal geschrien, zum Trotz gegen den Krieg.
Von anderen sei still geweint worden, während man sich umarmt und eine junge Mutter ihren schlafenden Jungen fest an sich gedrückt habe. Die Melodie, die zur Hymne der Freiheit für viele in Europa geworden sei, habe »ein letztes Mal« (was soll das heißen: ein letztes Mal?) im Dresdner Kulturpalast aufgebrandet.
Nationale Verzweiflung unter den Betroffenen, emphatischer Ersatznationalismus auf Seiten der Deutschen. Jedenfalls: Die Nation ist zurück, zwar die eigene nicht, aber immerhin eine andere, für deren Ruhm und Ehre man sich frei von jedem Schuldbedürfnis emotional in die Bresche werfen kann, mit aller Empathie, einen Konzertabend lang und noch etwas darüber hinaus – innerlich ein halber Ukrainer bereits, in vagen Bildern den nicht ganz abwegigen Gedanken spinnend, mit irgendeiner unlängst noch sehr unvertrauten Knarre in der Hand vom vierten Stock einer Platte am Stadtrand einer bis dato minder bekannten Stadt im Osten dem anrückenden Feind zu wehren – dies besonders jetzt noch lieber, wo doch auch dort, in Regionen mit Mordor-ähnlichen Namen wie »Kramatorsk« und „Charkow“, der Frühling in Blüte steht und die Bilder von aufgesprengten Häuserfronten und von Leichen in den Straßen nicht von diesem andauernden Schneematsch ihr hoffnungsloses Kolorit bekommen, sondern grüne Einbettung stattfindet.
Von der Autofahrt zurück am Schreibtisch. Weitere Belege für das ersatznationalistische Potential der deutschen Zivilgesellschaft sammeln sich an, Formierungsbereitschaft und moralische Kompetenz selbst auf abgelegenem Feld werden sichtbar:
Begriffe tauchen auf und werden geübt, Moderatoren entwickeln sich: „Schwere Waffen“ – man hört zunächst überraschte, dann entschlossene Anführungszeichen. Teigige Menschen empfehlen den Besuch von Panzermuseen, und sehr, sehr viele Wähler selbst alternativer Parteien glauben daran, daß Sondervermögen aus gewerkschaftlich abgesicherten, aber uniformierten Staatsbürgern Kämpfer zu machen vermögen.
Kinder einer sechsten Klasse revidieren ihre Entscheidung, ab dem kommenden Schuljahr Russischunterricht zu nehmen. Von der Sprache des Bösen wird zu Französisch gewechselt – nur drei Kinder bleiben bei ihrer Wahl.
Auf Twitter verändern Hunderte, Tausende Nutzer ihr Profilbild. Waren es vor ein paar Jahren die Doppelklammern, die einen ((Echoraum)) gegen Antisemitismus anzeigen sollten, später die schwarze Faust der Black-Lives-Matter-Bewegung oder drei Punkte für »geboostert«, sind es heute die Farben Blau und Gelb, oft überschrieben mit international verständlichen Bekenntnissen, gemeindebildend: »I stand with« oder auch »At your side«.
Lektüre des mittlerweile 91-jährigen Schriftstellers Helmut H. Schulz, der in der DDR Grandioses publizierte, ohne Parteigänger zu sein. Armin Mohler entdeckte ihn für uns, wir legten ihn in der Reihe Mäander wieder auf. Im Roman Dame in Weiß (1982) finden sich Beschreibungen psychischer Einnordungsvorgänge von 1939, Blaupausen für heute:
Wir wurden im ersten Kriegsjahr einer emotionellen Erziehung unterworfen, der wir uns nirgends entziehen konnten. Auf Schritt und Tritt standen wir Feinden gegenüber. Mit vereinfachenden Orientierungen sollten wir uns zurechtfinden. Sollten wir uns zurechtfinden? Politische oder ideologische Erziehung im Kindesalter ist immer gleich mit dem Erwecken von Emotionen, mit Haßgefühlen oder mit Zuneigungen: gegen oder für etwas, das sich kindlicher Beurteilung entzieht, ein gelegtes Muster, dem man nicht mehr entrinnt.
Deutschland 2022. Die Förderung eindeutiger Gefühle ist Regierungshandeln, an die Front muß keiner, eingefahren wird moralische Ernte. Sie ist eines der Bindemittel der politischen Ordnung in unserem Land – neben dem Auffächerungstrick in substantiell ganz gleiche Parteien, der periodisch neu ausgerichteten Markierung des Bösen, dem auf jedem einzelnen lastenden Anpassungsdruck an die veröffentlichte Meinung und einer zwar auch materiellen, vor allem aber seelischen Abhängigkeit von einem Staat, der zunächst zuschlägt, zerschlägt, und aufbürdet, um danach zu füttern, zu gönnen und abzulenken:
Weltordnungserzählungen, die Weltordnungslügen sind, treffen auf das reduzierte Ich, das Bedrohung ahnt, wo es gern Fragen stellen würde, und sich sofort zurückzieht, denn es will nicht mehr abweichen, es erträgt die Abweichung nicht mehr. Noch einmal der Schriftsteller Helmut H. Schulz:
Dieser Manipulationsvorgang ist uralt, es bedurfte keiner Wissenschaft, um die Praxis voranzutreiben: Der Feind ist immer böse. Seine Ziele sind verwerflich. Nicht nur, wer auf der Seite des Feindes steht, ist mit rabiaten Mitteln vom kämpfenden Volk auszuschließen, sondern auch der, welcher nach Wahrheit sucht, wo es keine Wahrheit mehr gibt.
So war es, so ist es wieder. Sollten je (aufgrund von echten Engpässen und Absättigungslücken) Entladungsszenarien in den Bereich des Möglichen geraten, wird man Sündenböcke finden und interessiert feststellen, daß man mittels Propaganda gerade woke Leute in einen Mob verwandeln kann.
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Kubitschek veröffentlichte zuletzt den Sammelband Hin und wieder zurück – hier einsehen und bestellen.
MARCEL
Schöne Beschreibung der gegenwärtigen Verblendung mit all ihrer Ersatz-Triebabfuhr. (fast wie eine Farce aus dem Spanischen Bürgerkrieg "no pasarán!"). Gratis-Militanz für Ungediente.
Persönlich warte ich auf eine militärische Aktion der Türken auf Zypern oder anderen Inseln im östlichen Mittelmeer, zzgl zu der von Erdogan angekündigten Syrien-Kampagne (eine maritime Ukraine also). Der Hype um die Bayraktar-Drohnen mag denen sogar noch zu Kopf steigen.
Was dann?
Werden die "Grünhemden" (sowie diese FDP-Stahlfrisur) dann ebenso martialisch an der Südost-Front aufmarschieren? Oder siegt die Angst vor den hier lebenden Türken, die sich anders verhalten werden, als die leidensfähigen Russen?