Überbordend ist der Untertitel, ausholend das fast 50seitige Vorwort Rainer Mausfelds (vgl. Sezession 88 und 102), umfassend das eigentliche Manuskript des Politikwissenschaftlers Sheldon S. Wolins (1922 – 2015). Er lehrte unter anderem in Berkeley und legte sein Hauptwerk bereits 2008 vor: Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism liegt nun also erstmals auf deutsch vor.
Lohnt sich das, 14 Jahre nach dem Ersterscheinen? Diese Frage drängt sich förmlich auf, weil das Themenfeld »Totalitarismus« in dieser Zeitspanne naturgemäß durch die Ereignisse (fortschreitende digitale Überwachung, Corona-Krise, Gesetzesverschärfungen, woke Raserei etc.) generalüberholt wurde.
Man kann diese Frage zweigeteilt beantworten. Die Übersetzung durch Julien Karim Akerma hat sich – erstens – durchaus gelohnt, weil einige größere Stränge der Wolinschen Arbeit von aktuellen Prozessen unberührt bleiben. Die Darlegung der globalistischen Entgrenzung US-amerikanischer Macht ist von bleibendem Wert, die Beschreibung der Rolle von Konzernen als »totalisierenden Mächten« neben dem Staatengefüge einleuchtend, die Skizze der »gelenkten Demokratie« überzeugend, die Aktualisierung der – auf den in den 1960er und frühen 1970er Jahren stark rezipierten Politdenker Johannes Agnoli (1925 – 2003) zurückgehende – »Involutions«-These westlicher Strukturen (von freiheitlich-demokratisch konstituierten Entitäten hin zu dirigistischen Apparaten) schlagend.
Die späte Übersetzung des vorliegenden Werkes bringt indes auch Probleme mit sich. Teile der Kernthese Wolins sind tatsächlich durch historische Prozesse überholt worden. Wenn Wolin die im Neoliberalismus wesenhaft angelegte »Entpolitisierung« der Bürger beschreibt und darin ein Kernziel des global reüssierenden Politik‑, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells erblickt, spürt man deutlich, daß dieses Buch einige Jahre auf dem Buckel hat. Denn im zeitgenössischen Stadium des woken und autoritären Liberalismus verhält es sich gerade umgekehrt: Der einzelne westliche Bürger erfährt eine Rundumpolitisierung frei Haus – ob er das goutiert oder nicht. Entpolitisierender Neoliberalismus scheint somit von gestern, Kritik an diesem Konstrukt wohlfeil, aber sie trifft, bleibt man auf dem Argumentationsstand von 2008, einen Dahingegangenen.
Zeitlos derweil, und dies allein sichert diesem Buch seine eingeschränkte Leseempfehlung, bleibt die zentrale Wolin-These vom »umgekehrten Totalitarismus« an sich. Denn daß wir es mit einem »System« zu tun haben, »das vorgibt, das Gegenteil dessen zu sein, was es in Wahrheit ist«, indem es seine »wahre Identität« verleugne und darauf vertraue, daß »seine abweichenden Tendenzen als ›Veränderungen‹ normalisiert werden«, kann 2008 wie 2022 gut begründet werden.
Das explizit Neue an dieser Form des Totalitarismus läßt sich nach Wolin somit in jener Konstellation dingfest machen, wonach hier der Bruch mit einem inaugurierten Verfassungssystem nicht mehr als Macht- und Kraftakt gefeiert (wie unter Hitler oder Stalin), sondern wortreich, unter Zuhilfenahme einer »loyalen Intelligenzija« in Wissenschaft, Journalismus und Unternehmen, verschleiert wird.
Schade nur, daß Sheldon S. Wolin auch in seiner letzten Lebensphase restlinke Mythen nicht überwinden konnte. Sie werden für den Leser dann greifbar, wenn Wolin darauf verweist, daß heutige Tendenzen zum Totalitarismus »nicht nur [!] von der ›Rechten‹« kommen (kommen von dort überhaupt welche?), oder wenn er bekrittelt, daß Gemeinschaftlichkeit sukzessive aufgelöst wird und der moderne Demos als formaler Souverän nur noch »flüchtigen Charakters« ist – ohne aber die naheliegende Frage zu stellen, welchen ganz praktischen Anteil an der Auflösung aller Dinge multikulturalistische und linksliberale Ideologiebausteine haben dürften.
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Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld, Frankfurt a. M.: Westend 2022. 462 S., 36 €.
Umlautkombinat
Ich habe seit einiger Zeit das Original hier liegen (noch nicht durchgelesen), sehe aber in dem Punkt zur Entpolitisierung keinen Widerspruch. Die heutige Form der Politisierung bedarf eines vorher entpolitisierten Buergers. Waere er politisch gebildet und mit wirklichem Eigeninteresse und Langzeitgedaechtnis versehen, wuerde das nicht funktionieren. Wolin selbst war natuerlich klar, dass dieser kindliche Status Zielen dient, das ist ja der eigentliche Inhalt des Buches.
An vielen Stellen werden auch Beispiele, Anlaesse und Zwaenge fuer das Zeigen des klassischen totalitaeren Gesichts besprochen, wenn die verschleiernde Maske des dem Buch seinen Namen gebenden Systems nicht mehr genuegt. Und Werkzeuge und Charakteristika von Ersterem waren Wolin natuerlich nicht unbekannt. Propaganda und Gleichschaltung heutiger Form als notwendiger naechster Schritt nach der Entleerung des Kopfes (da muss immer wieder etwas rein, die Natur hasst Systeme fernab vom Gleichgewicht!) duerften ihn kaum ueberrascht haben. Er starb, bevor das richtig los ging, aber das zeigt eigentlich keinen Bruch.