Selbstverständlich haben die im Zuge der exekutiven Maßregelungspolitik ohne Not durchgeführten rigorosen Schulschließungen irreversible Schäden verursacht. Schuld daran sind jedoch allein die Profilierungsbedürfnisse der praxisfernen Funktionäre der Landesregierungen und ihrer Kultusbürokraten.
Nun laufen die Trost-Kampagnen: „Lernstandserhebungen“ etwa, die unnötig sind, weil sie ohnehin nach fragwürdigen Kriterien messen und das Desaster so umfassend ist, daß propagandistisch aufgezogene Einzelaktionen nichts bewirken. Die Bildung war schon vor Corona krank.
Statt auf redliche Arbeit und Substanz zu setzen, wird mit üblichen Phrasen aufgetrumpft: Ganztagsbetreuung, also Internierung der Kinder über den Stundenplan hinaus, Digitalisierung, als wenn teure elektronische Smart-Boards und Tablet-Klassen allein schon guten Unterricht sichern, mißverstandene Inklusion, bei deren Umsetzung die wirksamste Inklusionsinstitution, die Förderschule, in ihrem Grundbestand bewußt zerschlagen wurde, obwohl deutsche Sonderpädagogen in Ausbildung und Praxis weltweit als vorbildlich galten.
Die Defizite in der ‚Bildungsrepublik‘ (Angela Merkel) sind weniger „pandemieverursacht“ als bereits allzu langfristig systembedingt.
Aus fragwürdigen Gerechtigkeitsvorstellungen heraus wurden die Inhalte der Fächer – mit Ausnahme der politischen Bildung und der von ihr ausgehender Projekt-Inszenierungen – seit Jahrzehnten ausgedünnt, im Zuge dessen die Anforderungen gesenkt, die Maßstäbe aufgeweicht und die Bewertungen inflationiert. So gute Abi-Schnitte wie nie stehen also ganz logischerweise nicht für errungene Erfolge, sondern für den Schwund an Befähigungen. Etikettenschwindel, für den die Absolventen nicht verantwortlich sind, sondern die Ministerien.
Daß Bildungsabschlüsse gegenwärtig eher juristisch garantiert statt engagiert erarbeitet werden, führt zu der Grundannahme, sie stünden einfach jedem zu, der nur physisch anwesend ist. Damit geht Haltung verloren.
Allein schon die jahrzehntelange Verteufelung des Frontal- oder auch nur lehrerzentrierten Unterrichts hat die deutsche Schule insofern dysfunktional werden lassen, als das lebendige Darstellen, das Zeigen, das Vor- und Mitmachen sowie das Üben unter Anleitung entschieden zu kurz kommen, angefangen beim Erlernen einer leserlichen Schrift bis hin zum Erwerb qualifizierter Techniken des Lesens, Schreibens, Denkens und des differenzierten Argumentierens und Urteilens.
Sprachliche Legasthenie bedingt geistige Selbstentmündigung. Aber vertreten wird: Die Schüler erschließen sich Erkenntnisse selbst, der Lehrer sollten allenfalls handlungsorientiert coachen.
Gleichfalls über Jahrzehnte hinweg wurde die Priorität von den Inhalten und der in Übungen und Wiederholungen vollzogenen Entwicklung echten Könnens auf die Methode verschoben. Vielfach geht es nurmehr ums bloße Machen, das euphemistisch als „Kompetenzerwerb“ bezeichnet wird.
Hauptsache, es tut sich was, gern ohne sinnigen Bezug und jenseits einer den Wissensaufbau sichernden Systematik. Allerdings sind ohne das Wissen-über keine Kompetenzen zu erwerben, so wie man das Stricken eben nicht ohne Wolle erlernt. So sollen Abiturienten im Fach Geschichte anspruchsvolle Quellenkritik betreiben, ohne hinreichend zu wissen, was historisch überhaupt genau geschah. Sie formulieren also artig die vom Lehrer gehörten Deutungsmuster nach.
Das Ergebnis: Das Sprach- und Lesevermögen nahm beängstigend ab und entspricht dem Niveau eines Entwicklungslandes – mit auffallendem Rückstand gegenüber den einstigen Entwicklungsländern, u. a. in Ostasien und Osteuropa, die gerade straff auf Qualifizierung ihrer jungen Generation setzen.
Hierzulande sind mittlerweile zwanzig Prozent aller Fünfzehnjährigen funktionale Analphabeten, so viele wie nie in der deutschen Bildungsgeschichte seit Einführung der Schulpflicht. Fatal dabei: Sie sind es eher wegen als trotz des Unterrichts, aber darüber gibt es nirgendwo einen Diskurs. Man verspricht mit Erkennen der “Bedarfe” einfach wieder Nachhilfe und Ausgleich.
Die Mathematikkenntnisse erscheinen schon in der Grundschule so mangelhaft, daß Ergebnisse von Klausuren und Abschlußprüfungen im nachhinein mehrfach geschönt wurden. Als Grund werden „unangebrachte Härten“ genannt. Enttäuschungen und die wichtige Erfahrung eigenen Scheiterns sollen vermieden werden. Härten darf es nicht geben, und schlechte Noten werden als Diskriminierung empfunden.
Wo es als cool gilt, für Mathematik zu blöd zu sein, leidet der gesamt MINT-Bereich der Ausbildung. In Ergebnis dessen können allzu viele Lehrlinge nicht messen und kalkulieren, und Abiturienten haben Schwierigkeiten in Natur- und Ingenieurwissenschaften. So fehlt Deutschland genau das Fachpersonal, dem das rohstoffarme Land seine einstige Innovationskraft verdankte – befähigte Facharbeiter und kluge Techniker.
In den geisteswissenschaftlichen Fächern und in Restbeständen des Literaturunterrichts gilt wieder mal das korrekte Bekenntnis gemäß vorgegebener „Überzeugungen“ mehr als die Herausbildung differenzierender Urteilskraft. So wird das bloße Meinen wie in der Talkshow-Kultur mit dem Argumentieren verwechselt.
Aufschlußreich, daß sich Abituranforderungen im Fach Deutsch vorzugsweise auf die sogenannte Textanalyse, also auf das Rezipieren beschränken; problem- oder textbezogene Erörterungen sind ebenso Vergangenheit wie der alte deutsche Schulaufsatz, also das frei begründende und somit schöpferische Schreiben zu einer Thematik. Literarische Erörterungen folgen sehr engen Vorgaben, gewissermaßen einer Art Regelpoetik, die vorher eingeübt wird. So kann eben nicht frei interpretiert werden.
In nichtgymnasialen Schulen erfolgen selbst Deutschprüfungen weitgehend im Multiple-Choice-Verfahren. Fehlerquoten gibt es nicht mehr; jeder schreibt, wie er kann und mag.
Lehrer der jüngeren Generation ringen zudem mit dem Dilemma, daß ihnen die Schule, die sie durchliefen, regelkonformes Schreiben nicht mehr vermitteln konnte bzw. wollte. Sie selbst können darin nicht sicher sein, haben dafür aber „methodisch allerlei drauf.“
Es fehlt aber nicht nur an Wissen und Können, sondern wegen mangelnder Erziehung zu Anstrengungskraft und Selbstüberwindung allzu oft am Vermögen, eine tragfähige Idee vom eigenen Selbst zu entwickeln.
Adipositas, Bewegungsmangel und Mediensucht offenbaren äußerlich, woran es innerlich mangelt: Orientierung auf echte Sinngebung, Entwicklung nicht nur der eigenen Motivation, sondern überhaupt der sensuellen Wachheit, der Leidenschaft und des Empfindens von echter Freude. Die Erregungsamplituden verlaufen allzu flach, das Sensorium verödet trotz oder eher wegen der Reizüberflutung. Statt draußen im Leben die Abenteuer und Herausforderungen zu suchen, verschwinden zu viele Heranwachsende in ihren Screens.
Daher die Ersatzhandlungen im Vollzug eines orales Notprogramms – im engeren Sinne die Überfressenheit mit Zucker, Salz und Fett, im weiteren das passive Konsumieren digitalen Drecks. Das alles lähmt und macht unglücklich. Diät und Umstellung fallen schwerer, gerade wenn stoffliche und nichtstoffliche Süchte hinzukommen.
Kurze, aber starke Reize und schnelle Wechsel sind über Medien wie „Tik Tok“ anerzogen. Beschränkte Aufmerksamkeitsökonomie, der sich Unterricht anzudienen versucht, um irgendwie modern und jugendlich zu wirken. Flotte Methodenwechsel, möglichst viel digital, kunterbunt animiert und hyperkinetisch bewegt. Das mag unterhalten, bietet aber kaum Möglichkeiten für Vertiefung und Orientierung. Eher verstärkt es ADHS.
Lust- und Leidenschaftslosigkeit, Antriebsschwäche, Lethargie und eine um sich greifende Jugend-Depression sind die Folge. Die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken haben für Schüler kaum noch Kapazitäten frei.
Die an den Schulen suggerierten Gerechtigkeitsvorstellungen und das Fehlen echter Vorbilder machen nicht nur bequem, sie lassen letztlich die Heranwachsenden im Stich.
Die Vielzahl der Abbrecher scheitert nicht an den anforderungsreduzierten Prüfungen, sondern eher am Unvermögen, morgens überhaupt hochzukommen und Alltagsanstrengungen durchzustehen. Es geben nicht nur Schüler und Azubis, sondern ebenso Studenten auf. Latente Erschöpftheit: An der Universität Greifswald etwa warfen 2021 83 Prozent aller Lehramtsstudenten hin. 83 Prozent!
Daß Schule, früher durchaus wissenschaftlich und „polytechnisch“ vororientierend und daher für wache Heranwachsende echt interessant, im Zuge der Ideologisierung der Berliner Republik zu einem politischen Lehr- und Experimentierfeld umgestaltet wurde, in dem die Phrase noch rigoroser regiert als in der Gesellschaft, entfremdete sie nahezu völlig ihrer früheren Aufgabe, als Institution ruhigen Lebensernstes auf die Herausforderungen des erwachsenen Lebens vorzubereiten. Ergebnis ist die signifikante Infantilisierung.
Heute wird an den Schulen mehr Demokratie gelebt, als daß es dort um die Pflege von Sprache, die Ausbildung im Mathematischen und um tiefe Einblicke in die Natur- und Geisteswissenschaften ginge. Wer sich dort dennoch entwickeln will, muß geradezu existentialistisch auf Eigenverantwortung setzen. Das gilt für ausbildende Lehrer ebenso wie für auszubildende Schüler.
Auf das System selbst ist nicht mehr zu hoffen. Ein kulturell verlorenes Gelände, in dem ein paar Idealisten durchhalten, die nach eigenen Maßstäben anständig arbeiten wollen. Gerade Talentierte bleiben sich selbst überlassen, da der Schwerpunkt auf der Förderung der zu inkludierenden Schwachmaten liegt. Lehrer schreiben Förderpläne, gewähren Nachteilsausgleiche und widmen sich all den neu definierten Förderschwerpunkten. Damit sind sie nicht nur aus‑, sondern überlastet. Wer mehr will, muß sich selbst helfen.
Erfolgreich wird sein, wer sich eigene Ziele setzt und ein kritisches Selbstverständnis entwickelt. Schließt sich die Tür zum Unterrichtsraum, können Erfolge immer noch selbst, gewissermaßen also antizyklisch generiert werden, da die „Schulaufsichtsbehörde“ glücklicherweise draußen bleibt und sich ihren politischen Fiktionen und selbsterfüllenden Prophezeiungen überläßt.
Wer Initiative entwickelt, wird nicht gebremst. Das System ist zwar insgesamt nicht mehr reformierbar, aber immer noch können Lehrerpersönlichkeit sinnvoll und inspirierend wirken, solange sie die Ideologisierung der Bildung hinnehmen und sich auf ihre Fachbereiche konzentrieren.
RMH
In dem Artikel steckt sehr viel Wahres drin und man merkt, dass H.B. ein Lehrer aus Leidenschaft ist (evtl. auch ein Grund, warum er nicht mehr an Schulen gelassen wird - Perfektionisten, die auch Kritik abseits des Gewollten sachlich üben können, sind wohl eher störend). Aber: Es gibt an den Schulen in Deutschland nach wie vor nicht "die Bildung". In Bayern, Sachsen und Thüringen dürfte nach wie vor einiges anders laufen, als bspw. in NRW oder Bremen. Ich habe noch 2 Kinder in der Schule in Bayern auf dem, was man früher Oberrealschule oder Realgymnasium genannt hat. Wenn ich in die Unterlagen schaue, ist bspw. der Fremdsprachenunterricht deutlich anspruchsvoller, als zu meinen Zeiten. Auch die Lehrer verfügen so gut wie alle über im Ausland erworbene Sprachkenntnisse. Ich nehme auch keine großen Rücksichtnahmen wahr (gibt ja Fachkräftemangel außerhalb des akademischen Bereichs - das beruhigt das Gewissen beim rausprüfen. Das schreibe ich, auch wenn meine Kinder nicht betroffen sind).