Wann je erlebten wir zuletzt ein Jahr, in dem wir von dessen Mitte aus kaum sicher abzusehen vermochten, wie es endet. Gut, das weiß man nie, aber diesmal dräut apokalyptisches Grollen in der Luft.
Böse Ahnungen … – Immer noch besser als träger trügerischer Frieden. Der Sommer 1914 etwa war überaus angenehm, wie wir unter anderem von Stefan Zweig wissen. Selten hätte er „einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muß ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken …“
Aber wer von den sportlichen Kerlen an der Donau oder am Wannsee oder sonstwo in der Sommerfrische 1914 wird geahnt haben, wo ihn der Herbst des Jahres liegen sehen wird?
So dramatisch sollte es nicht kommen; unausgesprochen entscheidet sich jedoch gegenwärtig viel an der Frage, wie man zu folgendem einfachen Aussagesatz steht: Die Ukraine war und ist Rußland. –
Nicht im direkten, aber im erweiterten Zusammenhang damit ringt die Berliner Republik nun mit ihren jahrzehntelang gewachsenen Illusionen:
Wie sollte man mit sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffen und linker Fundamentalkritik an fossilen wie radioaktiven Energieträgern kurzfristig umsteuern in Richtung Einschränkung und Mangel vor der beginnenden Winterreise? Wer lange nichts begriff, weil Wünsche mehr galten als Tatsachen, wird Entscheidendes mit Blick auf Gas- und Stromrechnungen sofort erkennen. Die apriorische Sprache der Mathematik ist nicht nur in Krisenzeiten die klarste.
Winterkälte, das erinnert beinahe anheimelnd an Pieter Brueghels „Rückkehr der Jäger im Schnee“ und „Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle“. Droht neuerlich eine kleine Eiszeit, weil der deutsche Wohlstand auf billigem russischen Gas und Öl basierte, deren weiterer Zustrom in Frage steht? Während auf dem Grund der Ostsee eine Röhre liegt, die genutzt werden könnte. Mag sein, sie wird noch genutzt – in der Weise, wie Anton Tschechow 1904 notierte:
Wenn Sie im ersten Akt eine Pistole an die Wand gehängt haben, sollte sie im folgenden abgefeuert werden. Andernfalls legen Sie sie nicht dort ab.
Aber so, wie es schon lange keine richtigen Winter mehr gab, gibt es auch keine „richtigen“ Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen mehr, finden sie alle sich doch in einer Partei neuen Typs, einer Art Einheitsfront für die moralische Umerziehung einer nach Regierungsmaßgabe rückabzuwickelnden Nation versammelt.
Nur ein Beispiel: Forderte heute einer öffentlich den Abriß der Berliner Siegessäule, errichtet im Zuge der Kriege zur deutschen Reichseinigung, weil er darin jetzt ein unzumutbares Symbol des deutschen Imperialismus und preußischen Militarismus erkennen möchte, würde er doch morgen alle Einheitsparteiler hinter sich versammelt wissen – mit dem Effekt, daß die Säule noch dieses Jahr umgelegt würde.
Es würde geschehen, weil derzeit alles umgelegt oder umbenannt wird, was sich – vom Sarotti-Mohr bis bis zu historischen, aber plötzlich unliebsamen Straßennamen – irgendwie in einen Zusammenhang mit Imperialismus, Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus usw. usf. konstruieren läßt.
Mich wundert, daß von den Linken, Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen der Einheitsfront für Gerechtigkeit, Geschichtsbewältigung und Cancel-Culture noch niemand darauf kam. Jetzt, da doch so gut wie alles ausgeräumt wird, was in irgendeiner Verbindung mit „Schuld“ zu bringen ist, also mit jener Geschichte, die neben aller Schmach nicht zuletzt Stärke und Reichtum des Landes ebenso begründete wie das, was mal für Hochkultur gehalten wurde.
Genau daraus sind die gegenwärtig angeblich wichtigen Themen gemacht: Geschichtsrevision, Kulturrevolution mit Bildersturm und Umbenennungen, überhaupt Umdeklarieren des vor Jahren noch Natürlichsten, des natürlichen Geschlechts beispielsweise.
Teilweise läuft es unfreiwillig komisch: Ohne ihren von den üblichen Betroffenheitsreflexen begleiteten Antisemitismus-Skandal, ausgelöst von einem Bild, das vorher niemanden interessierte, hätte der „Documenta Fifteen“ in Kassel über das Feuilleton hinaus gar keine Aufmerksamkeit erregt.
Die Fehlleistung einer Neurose, auch einer gesellschaftlichen, besteht wesentlich darin, daß man das eigentlich Notwendige nicht zu erledigen vermag, weil man die Erfordernisse dazu selbst verdrängt, dafür aber Verschiebungen in Richtung bizarrer Zwangshandlungen vornimmt. Eigentlich müßte die Nation geschützt und gerettet, mindestens stabilisiert werden, aber während dies Vordringliche angstbesetzt vermieden wird, arbeitet man mit um so gesteigerterem Engagement und in nervöser Verzettelung an irrsinnigen Themen. Die Phrase ersetzt dabei die klare Rede, das Als-ob die Wirklichkeit, der Tick und die Marotte das notwendige und sinnvolle Handeln.
Vielleicht wäre es also hilfreich, würde es tatsächlich mal wieder richtig Winter, und sei’s in Ermangelung des neuerdings so bösen russischen Erdgases. Vielleicht lehrte uns das, worum es eigentlich geht. Würdelos, wie unsere Regierung Rußland einerseits den „brutalen Angriffskrieg“ vorwirft und sich täppisch als Kriegsgegner aufbaut, anderseits aber ängstlich in die Röhre horcht, ob Moskau hoffentlich, hoffentlich das Gas wieder aufdreht. Schwierig, den Nachbarn zwei Häuser weiter zu beschimpfen, gleichzeitig aber darauf zu drängen, von ihm weiter versorgt zu werden.
Zunächst dringt schon mal entgegen aller BRD-Selbstgerechtigkeit und BRD-Selbstgefälligkeit schmerzlich die simple Erkenntnis durch, daß nicht Deutschland Rußland – neuerdings stets personifiziert mit Putin – die Grenzen des Komforts aufzeigen kann, sondern Putin diese Grenzen das adipöse und verzärtelte Deutschland erkennen läßt.
O weh, nur noch 19 Grad Celsius in den bislang sozialistisch überheizten Büros des aufgeblähten öffentlichen Dienstes! Das ist doch ein guter Anfang. – Wie lange wird es dauern, bis grüner Wasserstoff die Bürokraten wärmt? Und was kostet uns das? Abgesehen davon, daß 19 Grad im Winter luxuriös genug sind.
Weil am deutschen Wesen immer noch die Welt genesen soll, neuerdings auf linksgrün-moralistische Weise, schien es der Berliner Elite überhaupt nicht vorstellbar, daß nicht allein sie den Gang der Ereignisse bestimmt.
Darin, daß „der Russe“ so plump wie aggressiv und blöde wäre, irrten die deutschen Nationalsozialisten ebenso wie die arroganten Exponenten der grünsozial-liberalen deutschen Republik, die neuerdings ein rassistisches Zerrbild von Rußland und den Russen entwerfen, das in manchem dem Rußland-Klischee einer Ära ähnelt, die man doch gründlich aufarbeitet.
„Der Russe“ jedoch nimmt nach mehrfach wiederholter Warnung seine machtpolitischen Interessen wahr, die im feindseligen Brüsseler NATO-Hauptquartier wie gleichfalls in Berlin allzu lange müde belächelt wurden. Seine militärisch hochwirksame Beistandsleistung für den Syrien stabilisierenden Baschar al-Assad war dafür nur ein erstes Achtungszeichen. Und eine erste Machtprobe. Über Kants „Zum ewigen Frieden” sollten politische Grundlegungen von Machiavelli über Hobbes bis Schmitt nicht vergessen werden.
Die militärische Ausdauer und Leidensfähigkeit Rußlands mögen besser nicht unterschätzt werden, schon gar nicht von einer überflußverwöhnten Gesellschaft, die die Super-Markt-Regale am Abend ebenso berstend gefüllt sehen will wie am Morgen und für die neunzehn Grad Raumtemperatur bereits als kalt gelten.
Mag sein, man hat in Berlin noch zu lernen, daß aus dem Osten nicht nur der General Winter kommt, sondern daß sich über die Traditionslinie Tauroggen, Bismarck, Rapallo differenziert und modern nachdenken ließe. Durchaus im Sinne einer Generalrevision der deutschen Rolle in der Europäischen Union.
Selbst der neuerdings als Russenknecht geschmähte, weil betont pragmatisch handelnde Gerhard Schröder wirkte in dieser Weise, deutsche Interessen sichernd, gegen die zwangsverordneten atlantische Grundvereinbarungen.
Demokratie wird letztlich nirgendwo die Politik eines dringlich notwendigen Verzichts zugunsten von Natur und Mitgeschöpfen durchsetzen können, ebensowenig wie Vernunft je demokratisch durchsetzbar ist. Demokratie sichert lediglich ein ruhiges Mittelmaß bei ausreichend gesicherter Versorgungslage: Schönwetter-Demokratie. Wir jedoch treten neuerlich in ein Zeitalter der Extreme ein. Genau darin mag die beschworene „Zeitenwende“ bestehen.
Mittlerweile laufen die physikalischen Veränderungen in der Erdatmosphäre mit der Geschwindigkeit exponentieller Verläufe ab. So sind sie endlich für jeden augenfällig. Eine konventionell linke, also auf weiteren Maximalverbrauch orientierte Politik wird auf die eintretenden Veränderungen keine Antworten finden, so innovativ sie sich auch gibt. Alles, was acht Milliarden Menschen für sich verstoffwechseln, hat Folgen, und selbst das Elektroauto ist für die Biosphäre kein Segen.
Wirksamer Widerstand ist allein dem Reaktionär möglich – und gerade nicht dem grünlinken Anpasser. Die Spießer steht bereits seit gut zwanzig Jahren links. Wenn Kritik überhaupt noch Sinn haben sollte, kommt sie allein von rechts, so wie es historisch und ökonomisch bedingt lange Jahrzehnte gab, in denen linkes Denken die Initiative hatte. Das Pendel schlug längst zurück. Jetzt, da die Verunsicherungen, ja die Ängste ein apokalyptisches Format gewinnen, beginnt vielleicht ja Bewegung – in der Suche nach Sicherheiten:
Die lägen in der zu rekonstruierenden Kultur und deren Institutionen, im philosophischen und theologischen Nachdenken jenseits der bloß tagespolitischen Bewegnisse und in einer Radikalkritik des neurotischen Irrwuchses von Bildersturm, Sprachverhunzung, Genderwahn und herzustellender Allgerechtigkeit und Gleichschaltung. Gegen Ideologisierung, wie sie seit ca. fünfzehn Jahren forciert durch den Parteienstaat betrieben wird, braucht’s – leider – eine wirksame Gegenideologie und so kluge wie scharfe Polemik.
Eine heilsame Folge der dramatischen 2022er Krise mag darin liegen, daß die Politik wieder zu Themen findet, um die es tatsächlich geht: Schutz des Friedens und der Grundbedürfnisse, Bewahren eines Minimums an Hoffnung und Zuversicht, Sicherung des Zusammenhalts derer, denen Deutschland noch kein Fremdwort ist.
Rechts wird man immer allein auf sich gestellt bleiben. Das kann man annehmen – als Beobachter, als Impulsgeber, als Stachel im faulen Fleisch der offiziellen Politik.
Niekisch
"braucht’s – leider – eine wirksame Gegenideologie und so kluge wie scharfe Polemik."
Warum "leider", werter Herr Bosselmann? Wenn wir sie haben, dann jubilieren wir doch.
Fangen wir endlich ganz konkret damit an. Übernehmen Sie bitte! Sie sind der wirklichkeitsnah-sachliche Mann, der das lenken kann. Nicht nur "Adler und Drache" beklagt hier den Mangel an gezielt substantiellem Diskurs um das Formulieren weltanschaulicher Faustschläge.
Wir haben keine Zeit mehr.