Politisch gespannt blickt das gesamte rechte und patriotische Lager auf den kommenden Herbst/Winter 2022. Energiekosten, Inflation und der Zusammenbruch ganzer Industriesektoren, die aufgrund mangelnder Gasversorgung nicht mehr produzieren könnten, sind nicht mehr nur apokalyptische Szenarien, die von Oppositionellen an die Wand gemalt werden.
Auch die interne Verwaltungskoordination und Kommunikation der Bundesministerien bereitet sich auf ernste Krisenszenarien vor. Die Offenheit, mit der eine Außenministerin Annalena Baerbock von „drohenden Volksaufständen“ spricht, Robert Habeck über „Gas-Notfallpläne“ auf EU-Ebene verhandelt und die Innenministerin Nancy Faeser bereits präventiv vor von „rechts unterwanderten“ Massenprotesten warnt, ist schon bemerkenswert.
Braut sich hier tatsächlich etwas zusammen oder erlebt insbesondere die AfD ihr „Corona-Déjà-vu“ und die erwartete Krisendynamik wird durch staatliche Geldgeschenke und dem Einschwören auf einen „Energiespar-Patriotismus“ abgebremst?
Während im März und April die öffentliche Aufmerksamkeit noch auf die Unmittelbarkeit des Ukraine-Krieges und die Bilder des Konflikts präsent waren, erleben wir nun eine zunehmende Verschiebung in die konkrete Lebensrealität der Menschen. Die materiellen und ökonomischen Folgen dieses Konflikts haben die Abstraktionsebene verlassen und sind in den Alltag eingedrungen.
Innerhalb weniger Monate ist das Thema Kosten/Löhne zum wichtigsten Problem in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit geworden. Eine ähnlich hohe Problemwahrnehmung zeigte sich zuletzt in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009.
Für die meisten Menschen sind die aktuellen Verhältnisse schon jetzt mit Einschränkungen verbunden. Dabei wird in nahezu allen Umfragen deutlich, daß es den Bürgern vorwiegend um banale Grundbedürfnisse geht und keine politischen Spezialprojekte wie die Beschleunigung zum Ausbau alternativer Energiequellen. Die höchste Priorität haben Energieverfügbarkeit und Bezahlbarkeit. Erst dahinter kommen alle weiteren speziellen Themenkomplexe.
Die aktuelle Problemwahrnehmung ist demnach existenziell und keine politische Nischenangelegenheit. Immerhin sind 86 % davon überzeugt, daß die Regierung keine zuverlässige Energieversorgung, weder für die privaten Haushalte noch für die Industrie, garantieren kann.
Die individuell-persönliche Gewißheit für die Krise und anstehende Vorbereitung auf härtere Zeiten sind in der aktuellen Kollektivmentalität längst angekommen. Die Frage ist nur, wann dies auch zu einem Umschwenken in den politischen Wahlpräferenzen und Motivationen führt.
Auch in der Bewertung der persönlichen als auch allgemeinen Wirtschaftslage können wir einen Trend beobachten, der zwar mehrheitlich immer noch eine gewisse ökonomische Zufriedenheit zum Ausdruck bringt, aber gleichzeitig mit deutlichen pessimistischen Erwartungen verknüpft ist. Eine relative Mehrheit der Bevölkerung von 48 % geht davon aus, daß sich ihre eigene persönliche wirtschaftliche Lage innerhalb der kommenden Jahre verschlechtern wird, während die aktuelle Situation noch überwiegend positiv bewertet wird.
74 % der Bürger sind laut INSA Umfrage davon überzeugt, daß die Wirtschaft demnächst in eine rezessive Phase kommen und die Arbeitslosigkeit ansteigen wird. 83 % prognostizieren weitere Preissteigerungen und höhere Lebenshaltungskosten im Alltag.
Auch das Stimmungsbild gegenüber den Russlandsanktionen scheint sich zu wenden. Fast jeder Zweite denkt, daß die Sanktionen Deutschland mehr schaden als Rußland. Nur eine Minderheit von 12 % glaubt noch an einen stärkeren Schaden für Rußland. Noch im April sprach sich eine knappe Mehrheit von 50 % für einen Energieboykott gegenüber Russland aus. Dieses Bild scheint sich innerhalb der letzten drei Monate vollends umgekehrt zu haben. Energiesanktionen und Krieg treffen innerhalb eines äußerst kurzen Zeitraumes auf immer weniger Verständnis in der Bevölkerung.
In der Parteipräferenz sehen wir einmal mehr die sozioökonomische Zuspitzung und auch materielle Polarisierung in der Gesellschaft deutlich. In einer kürzlich erschienen YouGov Umfrage wurden die Fragen nach persönlichen Einschränkungen im alltäglichen Leben und generellen Auswirkungen der Preissteigerungen nach Parteipräferenzen aufgeschlüsselt.
Grundsätzlich zeigt sich, daß über alle Partei-Anhängerschaften hinweg eine große Mehrheit von unmittelbaren Auswirkungen der Preissteigerungen auf das Alltagsleben betroffen ist. Doch bei realen Einschränkungen wie bspw. dem Einkauf im Supermarkt werden die Unterschiede deutlicher. 84 % der AfD-Anhänger geben hier an, daß sie beim Einkaufen stärker auf die Preise achten und bereits Verzicht üben müssen.
Im grünen Wohlstandsmilieu geben jedoch nur 68 % an, daß sie sich bei Einkäufen selbst beschränken. Somit überrascht es auch nicht, daß auch in den Umfragen zum Energieboykott stets die Anhänger der Grünen einen schärferen Kurs gegen Rußland unterstützen. Sie sind ökonomisch abgesichert und haben mehr Planungssicherheit für die nächste Abschlagsrechnung.
Derweil wird unter den Grünen-Anhängern weiterhin auch die kostenintensive und kaum realisierbare Politik der Energiewende befürwortet. Die aktuelle Bundesregierung scheint aber aktuell (anders als noch in der Coronakrise) wenige finanzielle Unterstützungsangebote zu unterbreiten.
Verzichtsappelle und Absichtserklärungen, daß niemand allein gelassen werden würde (Olaf Scholz: „You´ll never walk alone“) sind aktuell Beleg einer wenig überzeugenden Kommunikationsstrategie und politischen Hilfslosigkeit.
Das 9€-Ticket scheint bei vielen lediglich aufschiebende Wirkung für den ökonomischen Kipppunkt zu haben. Der Tankrabatt kommt nicht bei den Verbrauchern an. Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung müssen künftig mit höheren Beiträgen rechnen, und gegen die steigende Inflation sind alle geldpolitischen Instrumente ausgeschöpft.
In den letzten Jahren beschrieb die Politikwissenschaft den Aufstieg des Rechtspopulismus meist als ein kulturell codiertes Konfliktsystem („Cultural Backlash“) zwischen einem progressiv-liberalintellektuellen Milieu und einer konservativ-reaktionären Gegenbewegung, in der ökonomische Variablen für eine rechte Wahlentscheidung korrelierten, aber noch nicht die entscheidende Motivation darstellten.
Mit der kommenden Krise könnte die materiell-ökonomische Perspektive durchaus mehr Gewicht bekommen und eine Art Krisenwechselwirkung zwischen dem „woken“ Kulturkampf und einer wachsenden sozialen Kluft hervorrufen. In den Dualismus zwischen den Globalisierungskritikern und Befürwortern fügt sich eine neue Ebene des materiellen Besitzstandskampfes ein.
Die große Frage bleibt jedoch, ob diese eindeutigen Befunde aus nahezu allen Umfragen der letzten Wochen auch in politisches Zustimmungskapital transferiert werden können. Daß gesellschaftliche und soziale Krisenmomente keinen Automatismus enthalten, der eine oppositionelle Rechtspartei wie die AfD stärkt, sollte spätestens seit der Coronakrise gelernt worden sein.
Die bevorstehenden ökonomischen Verwerfungen sind jedoch kein exogenes Ereignis wie die Coronapandemie, sondern betreffen konkrete Verantwortlichkeiten von politischen Entscheidungsträgern und sie bauen auf dem fachpolitischen Gründungsmythos der AfD als wirtschaftliche Kompetenzpartei.
Dennoch sehen wir aktuell keinen vollständigen Parallelverlauf zwischen den Parteiwahlumfragen und der wachsenden Unzufriedenheit. In den letzten Wochen lässt sich zwar bei allen Umfrageinstituten ein minimaler Positivtrend für die AfD konstatieren, aber der Umfragedurchbruch bleibt bisher aus.
Die ökonomischen Meinungsbilder geben allein noch keinen Aufschluss über eine mögliche zu antizipierende politische Veränderungskraft. Auch in der Coronakrise waren die wirtschaftlichen Erwartungen von der Bevölkerung ähnlich negativ eingeschätzt wie jetzt. Allerdings zeigte sich in den generellen Zufriedenheitswerten mit der damaligen Bundesregierung über das gesamte Jahr 2020 eine deutliche Mehrheit, die mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden war, was die These zu bestätigen scheint, daß die aktuelle Krise Folge eines politischen Versagens sein wird, mit dem Entscheider auch direkt zu Adressaten einer oppositionellen Kritik werden können.
Die Stimmungslage ist somit weitaus dynamischer und volatiler als zu Corona-Zeiten. Darauf wird sich politisch einzustellen sein.
Für die AfD ergeben sich jetzt drei Chancen:
1. Der Perspektivwechsel vom fernen Krieg in der Ukraine auf die unmittelbaren Auswirkungen der wirtschaftlichen Situation in der Bevölkerung und Industrie. Damit wäre auch der innerparteiliche Konflikt um die Positionierung im Russland-Ukraine Konflikt entschärft. Die außenpolitische Akzentsetzung der letzten Monate ist der Partei offensichtlich nicht gelungen. Die große Weltpolitik wird für die AfD vorerst eher ein fachpolitisches Spezialthema bleiben und erscheint wenig kampagnenfähig.
2. Die sozial- und wirtschaftspolitische Profilschärfung und Aufbau fachpolitischer Kompetenz – Krisen bieten einer Partei immer auch die Möglichkeit, ihre eigenen Kompetenzwerte zu optimieren. Die thematische Multidimensionalität von Corona bot wenig Chancen auf eine fachpolitische Kompetenzbildung. Die Sozial- und Wirtschaftspolitiker in der AfD haben zumeist aus der zweiten Reihe agiert. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, sprechfähige Personen aufzubauen und nach vorn zu stellen.
3. Community-Organisation und Bürgernähe – 44 % der Deutschen können sich vorstellen, im Herbst auf die Straße zu gehen. Das ist fast eine Verdreifachung im Vergleich zur Coronakrise, wo nur 16 % Demonstrationsbereitschaft signalisiert haben. Die AfD wird sicher kein aktiver Initiator dieser Proteste sein. Dennoch hat die Partei eine Vielzahl an Wahlkreisbüros, regionale Infrastruktur, Wahlkreismitarbeiter und Mitglieder.
Es ist nicht entscheidend, ob die AfD direkt als Akteur im Zentrum der Proteste auftritt, sondern daß sie Vernetzungs- und Beratungsangebote, Hilfsnetzwerke und regionale Anlaufzentren schafft. Es geht darum, Sichtbarkeit und Berührungspunkte herzustellen. Die Partei muss schließlich realistisch anerkennen, daß ihr große Massenmobilisierungen mit mehreren tausend Demonstrationsteilnehmern nicht mehr gelingen. Hier braucht es organisatorische und logistische Flexibilität.
Rheinlaender
Der Beitrag beschreibt m. E. etwas zu freundlich die Tatsache, dass die Partei mit komplexen Fachthemen überfordert ist, in den zentralen Fragen der Gegenwart über keine gemeinsame Linie verfügt und ihre führenden Repräsentanten diesbezüglich kaum sprechfähig sind, weshalb die Partei nicht in der Lage wäre, das Land zu führen. Statt dessen muss sie sich damit begnügen, der Straße hinterherzulaufen und zu hoffen, dass ein paar Unzufriedene sie wählen, weil der Staat bald nicht mehr die Mittel hat, sie wie gewohnt zu alimentieren.