Die Diskussion über Fragen des Staates und die Positionierung der Rechten zu ihm ist zu begrüßen. Sie birgt nicht nur die Chance in sich, Irrtümer auszuräumen, sondern ermöglicht, Wegmarken einer alternativen Denkweise zu setzen. Diese untermauern den Anspruch, daß es anders gehen könnte.
Zwei naheliegende Einwände gegen die bloße Notwendigkeit der Skizze eines alternativen Staatsverständnisses tauchen auf: Erstens, so heißt es in resignierendem Tonfall, argumentiert der zeitgenössische Rechte in einer Situation realpolitischer Ohnmacht, wird zunehmend repressiv in den Fokus genommen und ist zivilgesellschaftlich isoliert. Er steht damit einem allmächtig wirkenden, »total moralischen Gegner« gegenüber, »durch den er sich moralisch total in Frage gestellt« sehe (Reinhart Koselleck), ja durch den er sogar als der wesenhafte Paria nicht nur außerhalb der Moral, sondern auch außerhalb der Gesellschaft plaziert wird.
Zweitens müsse man nicht über Staatsbelange reden, wenn man jenseits greifbarer Machtoptionen verortet sei. In Zeiten von restriktiven Corona-Einschränkungen, dem auch »von oben« entgrenzten Kampf gegen rechts und schwarzrotgrünen Allmachtsphantasien über die Alltagsgestaltung des Staatsbürgers gehe es zuvorderst darum, politische Freiheitsräume vor dem Staat zu sichern, und nicht darum, seine mißbrauchte Macht noch zu stärken.
Beide Einwände verdienen ernst genommen zu werden, da sie einer realistischen Lageanalyse entsprechen. Aber sie sind unzureichend und müssen ergänzt werden. Denn obschon die gesamte politische Rechte von einem Nischendasein geprägt ist, der politisch-ideologische Staatsapparat in die Selbstradikalisierung gleitet, moralpolitische Fragestellungen vieles überwölben, man diesem von Lobbygruppen usurpierten Staat keine weiteren Kompetenzen zugestehen möchte und das wichtigste Ansinnen einer praktischen Rechten darin bestehen sollte, lebensweltliche Safe Spaces von und für Nonkonformisten zu schaffen (und zwar als »Räume der Freiheit und des Miteinanders«, als Inseln gelebter Alternativität und Solidarität, wie Alain de Benoist postulierte), bleibt ein Faktum davon unbenommen: Wer für ein »Es geht ganz anders« wirbt, muß früher oder später nicht nur begründen können, was er denn anders gestalten würde (und wie), sondern auch, mit welchem Instrument er seine Konzeptionen einst umzusetzen gedenke und ob er eine eigene »große Erzählung« wird stiften können, bei der sich der einzelne »mitgenommen« fühlt.
Die Frage nach dem eigenen Staatsverständnis, der eigenen Vorstellung staatlicher Aufgaben und Nicht-Aufgaben, der eigenen Idee eines zukünftigen verbesserten Staates ist dabei eine zentrale. Sie ist nicht nur zentral, weil auch in der Epoche des Globalismus und der Netzwerkmächte staatliche Akteure eine relevante Rolle spielen und man darauf verweisen darf, daß alle gewichtigen Entscheidungen, die auf regionaler, nationaler und selbst internationaler Ebene getroffen werden, trotz real existierender »Zwänge« und Abhängigkeiten ihrem Wesen nach kontingent bleiben, und das heißt: auf menschlichen Entscheidungen beruhen, die man auch anders treffen könnte, wenn andere Entscheidungsträger sich nach anderen Generallinien ausrichteten.
Die Frage nach dem Staat bleibt zentral, weil gewichtige Folgefragen – nach dem Menschenbild, nach der Rolle von Markt und Ökonomie, nach Bedeutungshierarchien – damit fest verwoben sind. Kurzum: Wer die Alternativlosigkeit des globalistischen Establishments, dieser kruden Mixtur aus Kapitalfraktionen, linken Gesellschaftserziehern und Charaktermasken der politmedialen Elite, verwirft und wer jenen, die diesem Establishment bereits kritisch gegenüberstehen (und es werden, trotz allem, derer mehr), das Bild einer anderen Zukunftsgestaltung bieten möchte – der wird nicht umhin kommen, zumindest Grundrisse einer alternativen Staats- und Gesellschaftsauffassung zu skizzieren.
Noch einmal: Ein bloßes »Dagegen« wird auf Dauer nicht tragfähig sein und das Abarbeiten an Nebenwidersprüchen ist angesichts der gegenwärtigen Malaise nicht ausreichend. Aufgeschlossenen folglich eine tatsächliche ideelle Alternative bieten zu können, zuerst in Umrissen, später als zusammenhängendes Modell, bedeutet im Wortsinne, die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten der Staatsauffassung und der Staatspraxis zu offerieren.
Die eine Möglichkeit, der Ist-Zustand, ist leidlich bekannt; die andere Möglichkeit, die Alternative zu ihm, nicht. Ebendiese zu eruieren erscheint als ein Auftrag insbesondere für die Sezession. Für die Loslösung von allem und jedem, also die Selbstrettung nicht auf kollektive, sondern individuelle Art und Weise, ist bei dauerhaftem Ausbleiben von Erfolg noch reichlich Lebenszeit gegeben.
Vor diesem Hintergrund folgen neun Thesen zu Staat, Staatsidee und Staatsaufgaben. Denn wie Ernst Bloch mit einem philosophischen Augenzwinkern darlegte, »muß die Tante erst tot sein, die man beerben will; doch vorher schon kann man sich sehr genau im Zimmer umsehen«.
1. »IM AUSNAHMEZUSTAND STREIFT DER STAAT DIE SAMTHANDSCHUHE AB, MIT DENEN ER IM NORMALZUSTAND DIE BÜRGER ANFASST.«
Erst dann, führt Peter Sloterdijk seinen Gedanken weiter aus, läßt er die »eiserne Faust unter dem Samthandschuh sehen«. Das Kernproblem aus rechter Sicht ist hierbei nicht, wie etwa Antiautoritäre bekritteln würden, die Existenz dieser eisernen Faust. Das Problem enthüllt sich vielmehr in der Frage nach dem Akteur, der sie führt, und in der Parallelfrage nach dem »Gehirn« als Schaltstelle, das die Entscheidungsfindung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund einer bestimmten Situationsbewertung trifft.
Konkret auf die deutsche Gegenwart bezogen, meint dies, daß – weit über die Corona-Krise hinaus – falsche Akteure falsche Entscheidungen aufgrund falscher Annahmen treffen und damit die Staatsmaschinerie in Gang setzen. Das Problem ist folglich nicht die Staatsmaschinerie als solche, sondern jener herrschende und mitunter unverhohlen volksverneinende Komplex aus Interessengruppen, der sie lenkt. Mag eine entsprechende Klärung für die Wahrnehmung des einzelnen Bürgers im Alltag nachrangig sein, so ist sie es nicht für eine politische Lageanalyse eines widerständigen Milieus.
2. DER USURPIERTE STAAT FINDET IM »VERORDNUNGSRAUSCH«
(SLOTERDIJK) ZU SICH SELBST.
Mit seiner paradoxen Lockdown-Politik, in der die persönliche Entscheidungsfindungskompetenz des einzelnen enteignet wird, setzt sich eine Entwicklung fort, die bereits länger im Gange ist. Der Staat erscheint dort abwesend, wo er seine Samthandschuhe abstreifen sollte (von organisierter Kriminalität und militantem Antifaschismus bis hin zur adäquaten Inpflichtnahme und Besteuerung des Großkapitals), während er das Leben der »normalen Menschen« überreglementiert. Der Staat wirkt denaturiert, wurde als Werkzeug neoliberaler Funktionseliten inner- wie außerhalb des Parteienfilzes einerseits seiner Bestimmung entfremdet und andererseits zur Beute antifaschistischer und multikulturalistischer Ideologen gemacht.
Dieser neue historische Block birgt in sich nichtantagonistische Widersprüche (also: Gegensätzlichkeiten der beteiligten Akteure, die aber nicht zur Feinderklärung tendieren); somit ist er kein Monolith. Aber solange die gemeinsame Generallinie – das diffuse Ziel einer offenen Gesellschaft, der Kampf gegen gewachsene Gemeinschaften, die zwanghafte Durchsetzung von »Diversity«-Standards – standhält und sich jeder in seinen Primärmetiers hegemonial weiß, erweist er sich als unvermindert wirkungsvoll. Diese erfolgreiche Komplizenschaft der Staatsübernahme fällt dort leichter, wo Gemeinschaftsbestände bereits in relevanter Größe abgetragen wurden, Identität und Solidarität unter Gleichen erodierten und die Vereinzelung zunahm.
3. »BEMUTTERUNGSSTAAT« (WIEDERUM: SLOTERDIJK) UND INDIVIDUALISMUS SIND NUR SCHEINBARE GEGENSÄTZE; TATSÄCHLICH BEDINGEN SIE EINANDER.
Der Fetisch des von Bindungen und Pflichten befreiten Individuums und der anonyme Bemutterungsstaat als Instrument der Gesellschaftserzieher gehen Hand in Hand. Dort, wo natürliche Gemeinschaften »von unten« allmählich aufgelöst werden und ihre Bindekräfte verlieren, ist die Persönlichkeit dem Zugriff freier ausgesetzt. Das ist keine Corona-induzierte Entwicklung, sondern ein Umstand, der seinen Startpunkt in der erfolgreichen Reeducation und Self-Reeducation der Deutschen nach 1945 und 1968 durch westlerischen Liberalismus und Linksliberalismus hatte.
Familien, lokale und regionale Loyalitätsgefüge, Dorf- und Stadtteilgemeinschaften wichen häufig als Bezugsgrößen und Stabilitätsfaktoren. Der »zufällig« an einem bestimmten Ort wirkende Mensch erschien fortan als das Maß aller Dinge. Diese »Vorstellung des Individuums als außerhalb der Gesellschaft existierend« wurde über die Jahrzehnte als neue Normalität vorausgesetzt, »anstatt anzuerkennen, daß die individuelle Identität zu großen Teilen durch Kultur und soziale Beziehungen konstituiert wird«, wie der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Kofner eine (durchaus vielschichtige und verzweigte) Entwicklung zusammenfaßt.
Der »befreite« einzelne müsse sich selbst als Individuum optimieren, auf dem Markt durchsetzen, sich neu erfinden. Dies vollzieht sich, wie der bekennende Kommunitarist beschreibt, »ohne Respekt vor dem Staat und ohne Zusammengehörigkeitsgefühl. Jeder kämpft für sich und alle gegen den Staat«. Man darf behutsam korrigieren: Nicht immer gegen den Staat, denn man hat dessen Rolle schlechterdings neu festgelegt – als Dienstleister, der mit wirtschaftlichen Begriffen gefaßt und dabei als »unproduktiv« abgetan wird, aber doch jederzeit in Anspruch zu nehmen ist.
4. DER SÜNDENFALL DER BIS HEUTE VERBREITETEN STAATSGEGNERSCHAFT AUS INDIVIDUALISTISCHEN UND/ODER ÖKONOMISCHEN MOTIVEN LIEGT BEI »KLASSIKERN« WIE DAVID RICARDO UND KARL MARX.
Auch wenn der im frühen 21. Jahrhundert abgeschlossene Wandel des Staatsbegriffs vom preußischen Ideal abwärts zum heutigen unproduktiven Dienstleistungsmodell eine Entwicklung des mittleren und späten 20. Jahrhunderts ist, können die Treiber dieser Umwertung doch auf wirkmächtige Ideen des frühen 19. Jahrhunderts aufbauen.
Bereits mit dem britischen Denker David Ricardo kam die Vorstellung des Staates als unproduktiven Molochs in die Sphäre der politischen Ökonomie. Märkte – wertschöpfend, Staaten – wertvernichtend. Diese holzschnittartige Gleichung war schon damals falsch; aber einmal in die Welt gesetzt, konnte sie die Zeiten überdauern und bis heute Vorstellungswelten prägen, indem sie die Mängel eines jeden Staates verabsolutierte und seine Stärken negierte. Denn anders als sein »Vorgänger« Adam Smith »sagte Ricardo nichts über den Teil der Staatsausgaben, der die Voraussetzungen für Produktivität überhaupt erst schuf: Infrastruktur (Straßen, Brücken, Häfen etc.), Landesverteidigung und Rechtsstaat. Indem er so die Rolle des Staates bei der Produktivität außen vorließ, ebnete er Generationen von Ökonomen den Weg für eine ähnliche Vergeßlichkeit«, wie die Forscherin Mariana Mazzucato in ihrer vielbeachteten Studie Wie kommt der Wert in die Welt? bekräftigt.
Der Staat als »Produzent von Vorleistungen für Unternehmen«, auf Basis derer sie überhaupt prosperieren können, findet in der Gedankenwelt von Ricardo (und in jener all derer, die in seinen Geleisen folgten, mit extremsten Auswüchsen bei Hayek, Mises oder Friedman) nicht statt, obwohl – erneut: damals wie heute – »Bildung, Straßen, die Polizei und Gerichte als notwendiger Input in die Produktion einer Vielzahl von Gütern zu sehen« sind. Aber auch Ricardos feindlicher Bruder, Karl Marx, behielt diesen blinden Fleck trotz kritischer Auseinandersetzung mit seinem Antipoden bei. Während Ricardo aber in seiner Staatsfeindschaft aufgrund selektiver Marktgläubigkeit gefangen war, blieb Marx es auf Basis seiner vulgären Reduktion des Staates auf dessen Bestimmung als klassenpolitisches Instrument der Herrschenden.
So findet sich auch im opulenten Werk Marxens keine Vorstellung davon, was der Staat zum Wert einer Ökonomie (geschweige denn zum Volkswohl) beitragen kann. In der binären Logik Ricardos ist der Markt demzufolge produktiv, der Staat unproduktiv; in der binären Logik Marxens ist der Markt demzufolge inhärent ausbeuterisch, der Staat das Instrument zur Absicherung der Ausbeutung.
5. DER GEGENSATZ VON STAAT UND MARKT IST EIN AHISTORISCHER MYTHOS.
Liberale und ihre kommunistischen Pendants sind seit mehreren Jahrhunderten gefangen in ihrer konstruierten Dichotomie, an der sie trotz geschichtlicher Erfahrungen festhalten – ihre Ideologien bedürfen dieser Simplifizierung als Ausgangsbasis.
Tatsächlich sind Staat und Markt aber keine unversöhnlichen Gegenspieler, sondern basieren aufeinander. So wie kein abstraktes Individuum denkbar ist, das losgelöst von überlieferten Gemeinschaften auf der Welt erscheint, sondern eingebettet ist in ein vorhandenes Gefüge aus regionalen, religiösen, volklichen (usw.) Identitäten, auf Basis derer ein jeder erst seine eigene Lebensgeschichte schreiben kann, ist auch der Markt als Interaktionsort wirtschaftlicher Akteure nicht im luftleeren Raum denkbar, sondern ist ebenfalls eingebettet in Verhältnisse, die ihm vorangehen und seine reellen Bedingungen gestalten.
Nationale Wirtschaftskulturen, völkerpsychologische Konstitutionen, tradierte Vorstellungen etc. sind ebenso zu berücksichtigen wie jene produktive Rolle eines jeden Nationalstaates als Marktschöpfer, auf die Dirk Ehnts verweist. »Der Staat«, so erklärt der Ökonom, »greift nicht in die Wirtschaft ein, sondern erzeugt sie erst« und schafft und gewährt jene Rahmenverhältnisse, die es Marktteilnehmern ermöglichen, auf eine bestimmte Art und Weise zu wirtschaften. Er geht explizit in Vorleistung, indem er Bildung, Sicherheit, Infrastruktur und dergleichen zur Verfügung stellt, die unabdingbar für das Prosperieren nationaler Märkte sind, die heute zu oft davon gekennzeichnet sind, daß nicht nur entsprechende Vorleistungen, sondern auch sämtliche Risiken vergemeinschaftet, Gewinne hingegen privatisiert werden.
Einmal mehr sind es auch im Kontext Staat / Markt Kontingenzen, die Entwicklungen hervorrufen oder korrigieren: Nicht »der Staat« oder »der Markt« verlangen Festlegungen, sondern konkrete Akteure treffen konkrete Entscheidungen, deren Alternativlosigkeit nur jene behaupten, die von ihnen profitieren. »Es gibt kein Marktverhalten, das unvermeidlich wäre«, stellt Mariana Mazzucato fest, womit Gleichstand mit der Staatspolitik hergestellt ist: Auch in ihr gibt es keine alles determinierenden Überprinzipien, auch sie offeriert Raum für bewußte Entscheidungen, die oftmals das Resultat, nicht die Ursache von Interessenskämpfen sind. Bewußte Entscheidungen in der Praxis aber basieren auf Setzungen in der Theorie.
6. »DIE WIRTSCHAFT HAT DEM MENSCHEN ZU DIENEN UND NICHT ANDERSHERUM.«
Diese Setzung Dirk Ehnts’ ist streitbar, aber kongruent mit einer genuin nichtmaterialistischen Weltauffassung, in der das Primat der Identität und der Gemeinschaft vorherrscht, nicht jenes des Warenfetischismus und der alle Lebensbereiche durchdringenden Ökonomisierung. Ganz ähnlich drückt es demzufolge auch Götz Kubitschek aus: »Die Wirtschaft soll dienen. Sie ist kein Selbstzweck. Sie ist für mich kein deutsches ›Dinge um ihrer selbst willen tun‹.«
Man kann diese Hierarchisierung um eine weitere Ebene ergänzen, und Mazzucato leistet dies, wenn sie innerhalb der Märkte konzediert, daß »der Finanzsektor der Wirtschaft dient und nicht die Wirtschaft dem Finanzsektor«. Die Kausalkette gestaltet sich damit wie folgt: Die Finanzwirtschaft (der finanzialisierte Teilbereich des Marktes) dient der Wirtschaft, die Wirtschaft dient dem Volk, der Staat ist dessen höchstentwickelte Organisationsform. Deutlich wird, daß eine solche gemeinschaftsbezogene, genuin »kommunitaristische« Perspektive nicht individuelle Profitmaximierung als Primärziel des Wirtschaftens begreift, sondern das kollektive Werk der Bedarfsdeckung für das große Ganze; nicht Bedürfnisweckung, sondern Bedürfnisbefriedigung.
Das Hauptziel ist demnach die Stärkung des nationalen Gemeinwohls und des Miteinanders in identitätsbewußten Vertrauenszusammenhängen. Zweifellos: Der Staat in seiner derzeitigen Konstitution und mit seinem derzeitigen Personal schadet diesem Vorhaben, anstatt es zu forcieren. Deshalb geht es langfristig um seine umfassende Korrektur.
7. ANZUSTREBEN IST WEDER EIN SCHLANKER NOCH EIN FETTER STAAT, SONDERN EIN MUSKULÖSER.
Das auch unter Konservativen beliebte Bild des »schlanken Staates« eignet sich für diese Korrekturen mitnichten. Mit ihm verbreitet man explizit liberalen Jargon und implizit liberale Inhalte, da der Begriff aus den nachhaltig erfolgten Setzungen von FDP und den Kapitallobbyisten der INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) hervorgeht.
Der Begriff ist daher kein »leerer Signifikant«, den man in einem metapolitischen Ringen »anders« besetzen könnte, da er von seinen Ursprüngen her elementar mit der Logik des Liberalismus verbunden ist. Ihn inhaltlich zu kolonisieren, weil man nach einiger Anstrengung positive Deutungen hervorzubringen imstande ist, wäre ebenso aussichtslos, wie sich beispielsweise – nun auf der anderen politischen Seite – den Terminus »Klassenkampf« anzueignen. Denn obschon heute »Klassenkampf« geführt wird, etwa seitens der politisch und wirtschaftlich herrschenden Anywheres gegen die zunehmend fragmentierten Classes populaires (oder Somewheres), ist auch dieser Begriff elementar mit seinen Urhebern verwoben, in diesem Fall mit Kommunisten.
Wie der »schlanke Staat« bedürfte es also einiger zusätzlicher Erläuterungen, weshalb man ihn zu nutzen gedenke, ohne sich die Anliegen der Wortschöpfer zu eigen zu machen. Benötigt werden daher in solchen Fällen andere Begriffsprägungen. Im staatspolitischen Beritt anzustreben wäre für das Vorhaben einer gemeinschaftsbezogenen Kehre ein handlungsfähiger, dynamischer, souveräner Staat ohne den omnipräsenten Einfluß rotgrüner Ideologieproduzenten und Gesellschaftserzieher auf der einen Seite und lobbyistischer Kapitalvertreter auf der anderen Seite. Sprich: Schluß mit Milliardenausgaben für Gender Mainstreaming, Multikulturalismus und Linksförderung, Schluß mit wirtschaftsdevotem und Lobby-anfälligem Verhalten.
Statt dessen »sollte der Staat in die Entwicklung seiner Muskelmasse investieren, seiner Fähigkeiten in entscheidenden Bereichen wie etwa der produktiven Kapazität (dem maximalen Output einer Wirtschaft), in die Entwicklung seiner Kompetenzen im Bereich Beschaffung, einer tatsächlich im öffentlichen Interesse liegenden öffentlich-privaten Zusammenarbeit sowie den sachverständigen Umgang mit Daten (Schutz der Privatsphäre und Sicherheit)«, wie Mariana Mazzucato die Mission beschreibt. Erstrebt wird als Fernziel der muskulöse Staat, und das heißt: kein schlanker (entkernter, outgesourcter, liberalisierter), aber auch kein fetter (befehlsadministrativer, aufgeblähter, klientelistischer) Staat. Ziel muß es sein, daß »staatliche Ressourcen planvoll, gezielt und effizient eingesetzt werden können« (Kofner) – und zwar jederzeit.
Ein Staat, der nur im Notfall eingreifen soll und ansonsten minimalistische Schrumpfformen einnimmt, wird diese dreifache Pflicht nicht bewältigen können. Training hält Muskeln in Form, nicht aufgezwungene Zurückhaltung. Das Problem, und einmal mehr trifft Mazzucato damit den Punkt, ist nicht »zu viel« oder »zu wenig« Staat: »Das Problem ist die Art von Staat: Was tut er und wie?«
8. ES GIBT EIN RICHTIGES LEBEN IM FALSCHEN.
Nun sind wir mit dem eingangs erwähnten Problem konfrontiert, daß dieser Staat das, was er nach unserem Dafürhalten tun soll, unterläßt, und daß er das, was er zwingend lassen sollte, tut. Nichts wäre aber falscher, als Quintessenz politische Enthaltsamkeit zu predigen oder sich in die Sicherheit des Schweigens einer verkümmerten Neuauflage der inneren Emigration zu begeben. Theodor W. Adornos Diktum aus Minima Moralia (1951), wonach es kein richtiges Leben im falschen gebe (er meinte, es lasse sich privat und politisch nicht mehr »richtig« wirken), geziemt sich nicht für Akteure, die an dem festhalten, was immer gilt, und nach dem streben, das zu erhalten sich lohnt, weil es »beständiger als das Leben« ist (Hannah Arendt).
Gewiß: Die staatspolitischen Rahmenbedingungen, die uns umgeben und das Leben in vielen Belangen beeinflussen, wo nicht in feste Bahnen lenken, sind bekanntermaßen defizitär. Auch als prinzipiell staatsbejahender Mensch traut man »den politischen Institutionen nicht mehr zu, daß sie dem Gemeinwohl dienen«, wie Gernot und Rebecca Böhme konstatieren, ja »der Staat wird eher als Administration verstanden« – bestenfalls.
Doch geben der Philosoph und die Neurowissenschaftlerin selbst die korrekte Teilantwort auf diese Problematik: »Wie immer es jedoch mit den großen Ideen und der Veränderung der Gesellschaften im ganzen steht: Der einzelne kann sie nicht abwarten, dafür ist das Leben zu kurz.« Eine Teil antwort ist es deshalb, weil weitere Aspekte hinzukommen, die das richtige Leben im falschen Ganzen ehrsam machen: das Wirken für und mit einer Familie, die Umsetzung realisierbarer Projekte im Nahfeld, die Freude an nichtpolitischen Gütern (sprich: der Natur, dem Genuß, dem Sport usf.), die Selbstfindung in Sinnzusammenhängen unterhalb des Staates – auch in Zeiten der Zuspitzung der Lage bleiben zu gestaltende Räume der Freiheit und des Wohlbehagens jenseits des absoluten Rückzugs ins Private.
Der Versuch der produktiven Teilhabe an einer verteidigenswerten Normalität bleibt in Zeiten des abnehmenden Lichts radikal im Wortsinne, ja geradezu experimentell.
9. ES GILT, EIN »EXPERIMENTELLES LEBEN« ZU FÜHREN.
Gernot und Rebecca Böhme stellen diese Prämisse mit einiger Berechtigung auf. Denn wenn man, zumal aus nonkonform-rechter Sicht, akzeptiert hat, daß das große Ganze nicht ohne weiteres anhand eines Masterplans zu bewältigen ist, daß also das Fernziel am Horizont nur bedingt näherrücken will, so gilt es, sich in die Erprobung von Umsetzungen der Nahziele zu vertiefen, über die man immerhin einige Verfügungsgewalt besitzt.
Bejaht man eine derartige, aufgrund der augenblicklichen Verhältnisse skeptisch geratene Selbstbeschränkung und integriert diese realistisch-pessimistische Bestandsaufnahme in seine Weltanschauung, so schützt das dreifach: erstens vor kurzfristigen Engagements nach dem Schema »alles oder nichts«; zweitens vor Selbstversenkungen in vermeintlich bahnbrechende Projekte, nach deren zumeist raschem Ende wieder einige Beteiligte »von Bord gehen«; drittens vor temporären Energieexplosionen, die in der Regel verpuffen und ausgebrannte Seelen auf dem Friedhof des Aktivismus zurücklassen.
Stand jetzt werden wir keine Tore schließen und den Staat bauen, doch können wir »die uns gegebenen Bedingungen von technischer Zivilisation, Leistungs- und Konsumgesellschaft aushalten oder ausgleichen, wenn wir wenigstens im Kleinen und Regionalen und in uns selbst Alternativen realisieren« (Böhme). Ebendies schließt den Kreis zu Alain de Benoists Empfehlung der Schaffung von Inseln der Alternativität inmitten des Meeres des Niedergangs.
Wer selbst im kleinen jene Veränderungen durchexerziert (Nahziele), die er im großen für den Staat erhofft (Fernziel), dabei realistisch ob der eigenen Chancen und des Risikos des Scheiterns bleibt, der kann sowohl den Staat auf den Prüfstand stellen als auch erste Vorstellungen des eigenen Anspruchs »Es geht ganz anders« als Gegenbild zum falschen Ganzen präsentieren, ohne vor diesem auf die Knie zu gehen.
Die Tante, die man beerben will, erweist sich in Zeiten der Corona-Krise als lebendiger denn je – aber auch mit uns hat es noch kein Ende genommen. Wenn Resilienz bedeutet, daß manche besser mit Streß umgehen können als andere, gibt es gute Gründe für die Annahme, daß die Neue Rechte in ihrem Kern auch dann resilient bleibt, wenn andere längst das Handtuch geworfen haben.