Als das IfS vor einigen Jahren auf seinen Veranstaltungen ein Banner zeigte, auf dem ein Zitat zu lesen war, in dem sich Nietzsche positiv über den Staat äußert, sorgte das für Irritationen. War Nietzsche nicht derjenige, der den Staat als das »kälteste aller kalten Ungeheuer« bezeichnet hatte, der den Staatsdienst für eine Dummheit gehalten und der dem »Tod des Staates« das Wort geredet hatte? Das alles hat Nietzsche gesagt, aber auch das Gegenteil davon – was wiederum die weitverbreitete Auffassung bestätigt, man finde bei Nietzsche immer ein Zitat, egal wofür man ein Autoritätsargument brauche.
Eine Autorität ist Nietzsche in rechten Kreisen allerdings erst lange nach seinem Tod geworden. Zunächst war er ein Ärgernis, mit dem sich vor allem Leute bewaffneten, denen der Wilhelminismus zu lebensfeindlich war. Armin Mohler hat Nietzsche in seiner Arbeit über die »Konservative Revolution« rückblickend zum wichtigsten gemeinsamen Bezugspunkt dieser so vielgestaltigen Geistesbewegung gemacht. Er bezog das vor allem auf Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der noch die von der Umwertung aller Werte und die vom Willen zur Macht an die Seite zu stellen wären.
Die Hochschätzung Nietzsches in konservativ-revolutionären Kreisen hängt auch damit zusammen, daß Nietzsche als politischer Denker verstanden wurde. Das mag zunächst im Widerspruch zu seiner Intellektuellenexistenz stehen, die sich, abgesehen von den obligatorischen Stationen Schule, Universität und Militär, von allem fernhielt, was mit praktischer Politik in Verbindung gebracht werden könnte. Seine 1869 erfolgte Übersiedlung in die Schweiz ermöglichte ihm den Blick auf die Dinge, die sich vor allem in Deutschland vollzogen, von der Warte des Beobachters aus.
Alfred Baeumler charakterisierte Nietzsche in seiner Einführung von 1931 als »Philosophen und Politiker«. Das sorgte nach 1945 für eine Verurteilung Nietzsches als NS-Vordenker, weil Baeumler sich (und damit auch Nietzsche) in den Dienst des NS-Staates gestellt hatte. Seine Herausstellung des Politikers Nietzsche bleibt dennoch gültig, wie die Rezeption Nietzsches in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat. Daran hat auch seine so oft bemühte Widersprüchlichkeit nichts geändert. Friedrich Georg Jünger, der 1949 eine Ehrenrettung Nietzsches vornahm, sah in dieser Widersprüchlichkeit kein Argument gegen seine Philosophie, sondern einen Beweis für die Lebendigkeit von Nietzsches Denken.
Da der Staat ein Hauptbegriff der Politik ist, stößt man natürlich auch bei Nietzsche darauf. Allerdings gibt es, neben unzähligen Erwähnungen, nur drei Stellen, an denen Nietzsche ausführlich auf den Staat zu sprechen kommt. Im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches (1878), im ersten Band des Zarathustra (1883) und in der Vorrede zu seinem ungeschriebenen Buch Der griechische Staat (1872), aus der das obenerwähnte Zitat stammt: »Der Staat, von schmählicher Geburt, für die meisten Menschen eine fortwährende fließende Quelle der Mühsal, in häufig wiederkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts – und dennoch ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!«
Die ambivalente Haltung Nietzsches dem Staat gegenüber wird bereits hier deutlich. Einerseits von unklarer Herkunft und für die meisten Menschen Knechtschaft bedeutend, ist er dennoch die einzige Größe, die in der Lage ist, die Massen emporzureißen. Über den Ursprung des Staates hat Nietzsche an anderer Stelle recht konkrete Vorstellungen geäußert. Er polemisiert gegen die Vertragstheorie, nach welcher der gegenseitige Schutz, die »Unterordnung unter die Gerechtigkeit des Staates«, der erste Impuls zu seiner Gründung gewesen sei. Daß sich ihm Schwächere unterwerfen und er diese unterwirft, weil er die »souveräne Gesinnung« fürchte, liege nahe. Entscheidend sei aber die Frage, warum sich Leute dem Staat unterwerfen, die es nicht nötig haben. Für sie bedeutet die Unterwerfung ein Opfer, das sie eben nicht aus Nützlichkeitserwägungen bringen.
Nietzsche sieht daher schon am Ursprung des Staates einen Appell an eine »höhere Empfindung«. Es könnte sich um eine nur gemeinsam zu bestehende Gefahr handeln, die den Impuls zur Staatengründung gibt und ein Gefühl gemeinsamer Macht erzeugt, das jeden mitreißt. Der Staat erreiche Dinge, die dem einzelnen unmöglich seien, durch Delegierung von Verantwortung, durch Befehl und Gehorsam, durch »Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache«. Er entlastet den einzelnen moralisch.
Der Glaube an die »Ehrwürdigkeit des Staates« müsse älter sein als alles andere. »Nicht Gesichtspunkte der Klugheit, sondern Impulse des Heroismus sind in der Entstehung des Staates mächtig gewesen: der Glaube, daß es etwas Höheres gibt, als Souveränität des Einzelnen.« Die älteren Staatsformen hätten nicht vom Zwang, sondern vom »Fortströmen nobler Regungen« gelebt.
Allerdings ist die Ehrfurcht vor dem Staat nicht durch Einsicht, sondern durch Gewalt in die Welt gekommen, weil die Errichtung eines Staates gegen die menschlichen »Raubtierinstinkte« erfolgte. Dementsprechend war der »älteste Staat« eine reine Tyrannei, die notwendig war, um den »Rohstoff von Volk und Halbtier« durchzukneten und zu formen.
Nietzsche ist bewußt, daß der Staat, von dessen Ursprung er redet, mit dem Staat, den seine Zeitgenossen herauslesen werden, nämlich den gegenwärtigen, nicht identisch ist. Daher formuliert er drastisch, daß er unter Staat »irgend ein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse« versteht, die »unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf einer der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt.«
Das ist der Beginn des Staates, an dem Nietzsche Künstler tätig sieht, die keinerlei Rücksicht nehmen müssen, sondern rücksichtslos ihrer Idee Form verleihen. Doch dieser Schöpfungsakt hat seinen Preis. Im Ursprung des Staates sieht Nietzsche das »schlechte Gewissen« in die Welt kommen. Weil der Mensch gezähmt und gezwungen wird, in Gesellschaft zu leben, verrät er seine Raubtierinstinkte und wird zum Massenmenschen.
Das Schicksal des Staates scheint damit vorgezeichnet, zumindest dann, wenn er seinen Zweck aus den Augen verliert. Der Staat darf sich, so Nietzsche, nicht Selbstzweck sein, aber auch nicht das Volk allein oder die »Zukunft der Menschheit« sind sein Zweck. Sein Ziel liege in den »Spitzen, in den großen ›Einzelnen‹, den Heiligen und Künstlern«. Es gebe »keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius«. Der Staat ist Mittel zu diesem Zweck.
Allerdings darf man sich diese Forderung nicht als eine praktische vorstellen. Nietzsche verortet dieses Ziel »außerhalb der Zeit«. Der Staat ist daher, so muß man Nietzsche verstehen, gar nicht in der Lage, dieses Ziel zu erreichen. Nicht nur, weil es außerhalb der Zeit liegt, sondern auch, weil der Staat Ziele, die über »sein Wohl und seine Existenz« hinausweisen, nicht begreift. Allerdings gebe sich der Staat den Anschein, indem er als Förderer der Kultur auftritt. Aber, so Nietzsche, der »Kultur-Staat« sei nur eine moderne Idee, in Wirklichkeit sind Staat und Kultur Antagonisten.
Die Verschleierung dieses Widerspruchs ist für den Fortbestand des Staates von entscheidender Bedeutung, und der Staat tut mittels seiner Institutionen, Nietzsche nennt vor allem Schule und Heer, alles dafür, daß diese Sinnstiftung Bestand hat. »Ehre bei der Gesellschaft, Brot für sich, Ermöglichung einer Familie, Schutz von oben her, Gemeingefühl der gemeinsam Gebildeten – dies alles bildet ein Netz von Hoffnungen, in welches jeder junge Mann hineinläuft: woher sollte ihm denn das Mißtrauen angeweht sein?« Dieses mangelnde Interesse an Aufklärung legt Nietzsche dem Mann als Dummheit aus, das Streben in den Staatsdienst als Rückfall in die Dummheit, die Nietzsche zerstören will. Hier kommen wir langsam zum Staatskritiker Nietzsche, der die »Staatsvergottung«, die Erhebung des Staates zum höchsten Ziel der Menschheit als Ursache dafür erkennt, daß der Staat seine eigentliche Aufgabe verfehlt.
Der Staat ist eine rationale Einrichtung, an die keine irrationalen Heilserwartungen geknüpft werden dürfen. Er wird durch Menschen repräsentiert, deren Anbetung Nietzsche als das »größte Verhängnis der Kultur« bezeichnet. Im Hintergrund steht das schlechte Bild, das die »herrschenden Stände« abgeben und das in der Konsequenz dazu führt, daß keine klare Vorstellung von Herrschaft mehr existiert: Der »große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann«. Die Herrschenden selbst haben durch die offensichtliche Beliebigkeit ihrer Herrschaft und die gleichzeitige Schutzbehauptung der Heiligkeit der Herrschaft eine Unsicherheit erzeugt, die dazu führt, »daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen«.
Unter der Überschrift »Vom neuen Götzen« hat Nietzsche im Zarathustra der Staatskritik eine ganze Rede gewidmet. Das berühmteste Zitat lautet dort: »Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk.« Der Staat will, so heißt es an anderer Stelle, das »wichtigste Tier auf Erden sein«, der Staat lügt und stiehlt, er ist ein »Heuchelhund«, er ist falsch. Er tut also das, was uns heute vielfach zum Staat einfällt.
»Staat nenne ich’s, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord aller – ›das Leben‹ heißt.« Der Staat ist der Gleichmacher, der jeden in seinen Dienst zwingt, das Prokrustesbett, aus dem sich niemand unbeschadet erhebt. Daher ist klar, daß der Staat nicht für die großen Menschen, sondern für die Überflüssigen, unter deren Herrschaft alle leiden müssen, erfunden wurde. Von dort her ist auch das Ende der Predigt Zarathustras zu verstehen, wenn er sagt, daß erst dort, wo der Staat aufhöre, der Mensch beginne, »der nicht überflüssig ist, dort beginnen die ›Brücken des Übermenschen‹«.
Insofern ist für Nietzsche der von ihm konstatierte Verfall und Tod des Staates kein Grund zur Klage. Der Verfall folge notwendig aus dem demokratischen Staatsbegriff. Die Demokratie sei die historische Form, in welcher der verfallende Staat auftrete. Nietzsche versteht Demokratie nicht als Herrschaftsform, sondern als Prinzip der Freiheit, das im Gegensatz zum Prinzip des Staates steht. Das Ziel der Staatskunst sei die Dauer, »welche alles andere aufwiegt, indem sie weit wertvoller ist als Freiheit«.
Auch hier legt Nietzsche Wert auf die Feststellung, daß diese Demokratie nichts mit der gegenwärtigen Demokratie gemein habe. »Das, was jetzt schon so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten.« Die Demokratie, die er meine, sei etwas Kommendes.
Nietzsche warnt aber davor, das Kommende als etwas zu betrachten, das man herbeiführen könne. Er plädiert nicht für eine aktive Beseitigung des Staates, weil es eine Überschätzung der Vernunft und die Unkenntnis der Geschichte bedeuten würde, »schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, –während noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen.«
Im Gegenteil: Der Umsturz aller Ordnungen ist eine gefährliche Sache, weil sich aus dem Chaos nicht »sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschentums« von selbst erheben werde. Vielmehr wird so ein Umsturz von Leidenschaften, Maßlosigkeiten und Furchtbarkeiten begleitet, die bislang als überwunden galten. Ein solcher Umsturz ist daher eine »Kraftquelle«, weil sie eine matt gewordene Menschheit emporreißen kann, sie kann aber kein »Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur sein«.
Aber diese Ordnung braucht es, solange nicht alle Menschen Künstler geworden sind. Denn der Staat ist vor allem eine zweckmäßige Einrichtung, »eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander«. Mehr, so wird man Nietzsche verstehen dürfen, darf man aus ihm nicht machen, insbesondere keine Heilsanstalt, was er den Sozialisten unterstellt. Diese wollen ein »Wohlleben« für möglichst viele und sehen im »vollkommenen Staat« die Heimat dieses Wohllebens.
Hier ist ein Moment erreicht, wo der Zweck des Staates sich in sein Gegenteil verkehrt. Das Wohlleben, als der totale Umverteilungsstaat, würde den Boden zerstören, auf dem der »große Intellekt« und das »mächtige Individuum« wachsen. Nietzsche spricht auch von der »starken Energie«, die dadurch zerstört würde. Die übermäßige »Veredelung des Individuums« führe nicht zu seiner Stärkung, sondern zu seiner Schwächung und Auflösung, womit der eigentliche Zweck des Staates in sein Gegenteil verkehrt würde. Der »sogenannte rationale Staat« ist ein Aufhalter im Chaos, der keine Wirkung entfalten kann, wenn alle auf der Jagd nach dem persönlichen Glück sind, was unweigerlich in die »atomistische Revolution« führe.
Nietzsche in diejenigen einzureihen, die den Staat grundsätzlich als etwas sehen, das es abzuschaffen oder zu überwinden gelte, dürfte trotz der drastischen Worte, mit denen er ihn stellenweise charakterisiert, schwerfallen. Ganz offensichtlich hat Nietzsche eine Idee vom wahren Staat, dem es gelingt, das Volk zu erhalten, die Kultur zu fördern und den Freiraum des einzelnen zu schützen. Die Verkehrung dieser Idee sieht er in dem Moment gegeben, wenn sich der Staat zum Selbstzweck erhebt und seine Ziele vergißt.
Daß Nietzsche darüber hinaus viel am Staat seiner Gegenwart auszusetzen hat, liegt an seinem solitären Standort: »Im Staate kann und darf nicht volle Willensfreiheit sein. Wer letzte Dinge zu sagen hat, muß außerhalb des Staates stehen, das ist sein Kennzeichen. Es ist sein Schicksal und, wo die Sterne zwingen, sein Untergang« (Ernst Jünger). Aber er ist besser geeignet als jeder, der in die Forderungen des Staates verstrickt ist, an die wahre Idee des Staates zu erinnern.