Niemals wurde – vor allem auf seiten der politischen Rechten – mehr über Assimilation gesprochen als seit der Zeit, da sie nicht mehr funktioniert. Von allen Plädoyers, die sich neuerdings mit ihr befassen, ist jenes von Vincent Coussedière, Éloge de l’assimilation. Critique de l’idéologie migratoire (»Lob der Assimilation. Eine Kritik der Migrationsideologie«, Monaco 2021), sicherlich das originellste und gehaltvollste. Doch konnte Coussedière Michel Geoffroy nicht überzeugen, der seinerseits eine kompromißlose Abrechnung mit dem Status quo, Immigration de masse. L’assimilation impossible (»Masseneinwanderung. Die unmögliche Assimilation«, Paris 2021), verfaßte. Wir stellen beide einander in einer Debatte gegenüber.
ÉLÉMENTS: Wie Raphaël Doan in Le Rêve de l‘assimilation. De la Grèce antique à nos jours (»Der Traum von der Assimilation. Vom antiken Griechenland bis heute«, Paris 2021) unterstreicht, wird die Forderung nach Assimilation politisch rechts, ja sogar am äußeren Rand der Rechten verortet, wo sie doch eigentlich auf eine erst durch die Aufklärung ermöglichte universalistische Auffassung zurückzuführen ist. Wie kam es zu dieser Verschiebung?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Es ist die Linke, die die Assimilation als ein rechtes, ja radikal rechtes Phänomen erscheinen läßt! Sie wirft der Rechten vor, mit ihrer Forderung nach Assimilierung die Andersartigkeit der Fremden zu leugnen, und brandmarkt sie als rassistisch und xenophob. Sartre ist der Pionier dieser radikalen Assimilationskritik, die heute von Einwanderungshistorikern und ‑soziologen wie Gérard Noiriel oder Patrick Weil aufgegriffen wird.
Die identitäre Rechte ihrerseits kritisiert die Assimilation auch, aber vom entgegengesetzten Standpunkt: Sie befürchtet, daß durch Assimilation der Fremden die nationale Identität zerstört wird. In beiden Fällen prangert man also die Assimilation im Namen der Identität an – der Identität des Einwanderers auf der einen Seite, der nationalen Identität auf der anderen Seite.
Meiner Meinung nach kann aber die Assimilation weder der Rechten noch der Linken zugeschrieben werden, weder dem universalistischen Prinzip noch einem, das die Unterschiede betont. Ich versuche sie als »Nachahmungsassimilation« begrifflich neu zu fassen, und zwar ausgehend von einer Überlegung Gabriel Tardes, der in der »Nachahmung« eine universelle soziale Tatsache sieht. Wenn wir nun in diesem Sinne von der Assimilation als »universellem« Phänomen sprechen, heißt dies keineswegs, daß sie »universalistisch« wäre – wenn man unter »Universalismus« den Willen versteht, der ganzen Welt die eigenen Gebräuche und die eigenen Gesetze, die eigene Moral und die eigene Politik aufzuzwingen. Insofern sie Nachahmung bestimmter Vorbilder in Absetzung von anderen ist – Vorbilder sind nicht beliebig kumulierbar, da sie sich widersprechen –, geht Assimilation »aussondernd« vor und trägt zur Vielfalt menschlicher Gemeinschaften bei.
MICHEL GEOFFROY: Wenn man in unseren Tagen die Assimilation aufs Tapet bringt, beklagt man damit im Grunde genommen nur die verlorengegangene Homogenität unserer Gesellschaft. Ihre Thematisierung zeugt also eher von wohlfeiler Nostalgie – vor allem wenn sie sich mit den »Werten der Republik« schmückt! – als von einer real umsetzbaren Forderung im Zeitalter der Masseneinwanderung. Ja, ich ginge noch weiter und würde sagen, daß es sich hier um eine Art Tagtraum handelt: Tatsächlich hätte man sich die Assimilationsfrage vor 30 Jahren stellen müssen, in den 1980er Jahren, zu einer Zeit, als wir der Zuwanderung zum Zwecke der Ansiedlung Tür und Tor geöffnet haben! Aber damals mußte man, wollte man salonfähig bleiben, die Einwanderungsfrage geradezu leugnen – sie galt als Obsession der radikalen Rechten.
Es mutet surreal an, die Assimilation heute zu thematisieren, da Frankreich in verschiedene Gemeinschaften zerfällt, wo 20 Prozent der männlichen Neugeborenen einen muslimischen Vornamen tragen und offiziell jahraus, jahrein 450 000 Personen nach Frankreich einwandern, wobei in dieser Zahl die illegalen Immigranten noch gar nicht erfaßt sind. Es kann nicht verwundern, daß sich einige in der Rechten dieses Themas annehmen: Die Rechte in Frankreich hatte schon immer die Neigung, die Straße im Rückspiegel zu betrachten …
ÉLÉMENTS: Besteht das Problem nicht in der Doppeldeutigkeit der französischen Politik? In der Praxis – dies sagen Sie ja beide – hat man (wobei noch zu erläutern wäre, wer unter diesem »man« zu verstehen ist) auf die Assimilation verzichtet; offiziell jedoch ist sie nach wie vor – ohne sich als solche zu »outen« – die Stichwortgeberin bei der Erlassung der jüngsten Gesetze, die das Tragen des Schleiers in der Schule oder der Burka im öffentlichen Raum verbieten.
VINCENT COUSSEDIÈRE: Die Gesetze bezüglich des Schleiers oder der Burka überspielen den Verzicht auf eine Assimilationspolitik und ihre Ersetzung durch eine Politik, die der »Laizität« eine Rolle zuschanzen will, die diese nicht erfüllen kann. 1989 entdeckt die französische Gesellschaft mit der »Kopftuch-Affäre von Creil« (nordafrikanische Einwanderer konnten einen Etappensieg gegen den Laizismus erzielen, d. Red.) die Probleme, die bald schon im Zusammenhang mit einem Teil der muslimischen Einwanderungsgemeinde akut werden sollten, da letztere nicht gewillt ist, ihre religiösen Praktiken auf die Privatsphäre zu beschränken, sondern sie im Gegenteil zur Schau stellt und verbreitet. »Alles beginnt 1989«, schreibt Alain Finkielkraut in L’identité maheureuse (»Die unglückliche Identität«, Paris 2013): Das heißt, diese »republikanischen« Intellektuellen werden sich schlagartig der Folgen einer islamischen Zuwanderung bewußt, deren Menge oder Assimilierbarkeit bis dahin nicht problematisiert wurde. Dies erklärt auch den Erfolg und den beginnenden Siegeszug des Konzepts der »Integration«: Man verzichtete auf die Forderung nach Assimilierung an die Nation, um sich mit einer Pseudo-Forderung nach Integration in die Republik zu begnügen. Der Zugewanderte sollte zwar die gesetzlich festgeschriebenen Rechte und Pflichten beachten, doch stand es ihm frei, seine Sitten in der Privatsphäre zu praktizieren. Der Gegensatz zwischen privat und öffentlich wurde damit zur Zauberformel der gelungenen Integration. Statt die enge Verbindung zwischen unseren Gesetzen und unseren Sitten zu begreifen, errichtete man eine abstrakte Trennwand zwischen ihnen. Dabei ging man von der Tabula rasa der Republik und der laizistischen Neutralität aus, die, so glaubte man, fortan auch die Assimilation überflüssig machen würden.
MICHEL GEOFFROY: Dies ist eine französische Spezialität: Die Regel unbeugsam, die Praxis nachgiebig … Bei einem unlängst stattgefundenen Audit stellte der Rechnungshof (Cour des comptes) fest, daß der Einbürgerungstest »kurz und formell« sei und einer Überprüfung des Assimilationsgrades, vorgeschrieben von den Paragraphen 21 bis 24 des Code civil, »äußerst lax nachgegangen werde«. Hinsichtlich des Vertrags für republikanische Integration (contrat d’intégration républicaine), der insbesondere die Beherrschung der französischen Sprache garantieren sollte, räumt derselbe Gerichtshof ein, daß ungeachtet der Tatsache, daß die einzige Verpflichtung in der gewissenhaften Teilnahme an den Sprachkursen besteht, es »unmöglich ist, die Nichtbeachtung [dieser Verpflichtung] mit dem Nichtaushändigen einer mehrjährigen Aufenthaltsgenehmigung zu korrelieren.«
Mit anderen Worten: Die Einrichtungen, die ein Minimum an Assimilation garantieren sollten, funktionieren nicht, weil sie einem ununterbrochenen Zustrom von zu vielen Neuankömmlingen ausgesetzt sind, deren Status von der Verwaltung nicht mehr vernünftig bearbeitet werden kann – vorausgesetzt, daß dies überhaupt gewollt ist. Es genügt, die langen Warteschlangen vor unseren Präfekturgebäuden Ende des Monats zu sehen!
Übrigens darf man nicht vergessen, daß im Gegensatz zur offiziellen Propaganda Frankreich niemals ein Einwanderungsland war und schon gar nicht ein Masseneinwanderungsland wie heute. Damit wird auch verständlich, warum unser Land weder über die nötigen Mittel noch über die Erfahrungen verfügt, um den ständigen Zustrom der außereuropäischen Einwanderer zu assimilieren. Darüber hinaus wird auch klar, daß die berühmte »Assimilation à la française« schlechterdings ein Märchen ist, denn unser Land hat immer nur eine überschaubare Anzahl von Fremden assimiliert, unter Berücksichtigung seiner Bevölkerung und seiner Geschichte.
ÉLÉMENTS: Wenn man eine Assimilierung an Frankreich fördern will, die nicht beziehungsweise nicht nur eine Assimilierung an die »Republik« sein soll, ist es da notwendig, die französische Identität zu definieren, oder kann man davon ausgehen, daß diese selbstevident ist?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Man »definiert« Frankreich nur über in vielfältiger Weise erfolgte Nachahmungen der Vorbilder, die von den vorangegangenen Generationen auf uns gekommen sind, aber daneben auch durch Innovationen angesichts der neuen geschichtlichen Herausforderungen. Die Assimilierung an Vorbilder erfolgt über zwischenmenschliche, auf Nachahmung basierende Beziehungen über alle Institutionsgrenzen hinweg. Ohne solche Beziehungen verkommen die Institutionen zu geistlosen, toten Einrichtungen. Frankreich »definiert« sich also durch seine Assimilierung an sich selbst – ohne diese unablässig zu erbringende Leistung, die sich nicht auf den Besitz einer passiven und zugesicherten »Identität« herunterbrechen läßt, ist die Assimilation der Fremden eine leere Behauptung.
Institutionen können ihre Rolle nur erfüllen, wenn die Menschen, die ihre Seele sind, sich in allen Bereichen wieder aufraffen. Familie, Schule, Arbeit, Religion, Kultur, Staat sind die verschiedenen konzentrischen Kreise der nationalen Assimilation. Diese Institutionen befinden sich in der Krise, denn statt dem Individuum nachahmenswerte Vorbilder zur Verfügung zu stellen, deklarieren sie das Individuum selbst zum Vorbild. Damit suggerieren sie, daß es nichts Nachahmenswertes finden könne und die eigene Identität aus sich selbst schöpfen müsse. Indem sie das Individuum solchermaßen zur narzißtischen Selbstkonstruktion verurteilen, wird es zur Beute unterschiedlichster kommunitaristischer Rattenfänger.
MICHEL GEOFFROY: Jene, die sich unablässig auf den Geist der Republik berufen, die Republik, die die Dialekte in der Schule verboten hatte, behaupten heute, daß zum Zweck einer besseren Integration der Einwandererkinder Arabisch unterrichtet werden müsse. Oder sie bestätigen, daß sich Frankreich künftig aus Gemeinschaften zusammensetzen werde. Und doch könnte der republikanischen Ideologie à la française nichts mehr zuwiderlaufen! Man hat in Frankreich zielstrebig alle holistischen Institutionen dekonstruiert, die die Assimilierung der Individuen an die nationale Gemeinschaft gefördert haben. Und gerade diese Dekonstrukteure geben sich heute betroffen vom Scheitern der Integration!
Folglich ist die Frage nicht, wie man die Gesellschaft gestalten müßte, um eine Massenassimilation zu ermöglichen – dies scheint mir ein gänzlich utopisches Ziel zu sein –, sondern wie man die Fortsetzung der Masseneinwanderung unterbinden könnte, die jede Assimilation verunmöglicht!
ÉLÉMENTS: Welches wären die Bedingungen, um wieder an eine Assimilationspolitik anzuknüpfen?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Eine Assimilationspolitik muß auf der Grundlage einer doppelten Ausrichtung neu geschaffen werden: Sie muß sowohl die Einheimischen als auch die Fremden einbinden, denn man stützt sich auf erstere, um letztere zu assimilieren. Sitten werden durch Nachahmungsprozesse und den sozialen Druck innerhalb des Volkes erworben und erst sekundär durch Gesetze. Die Menge ist ein wesentlicher Faktor, denn in einer Demokratie führt die Tatsache, daß die unterschiedlichen Lebensentwürfe alle auf die gleiche Stufe gestellt werden, zu einer Krise der Vorbilder, die es nicht mehr wagen oder es schlicht nicht mehr schaffen, für ihre Überlegenheit die nötige Anerkennung zu bekommen. Die Menge verleiht somit dem Vorbild eine Überlegenheit, die es nicht mehr aus sich selbst hat.
Eine Assimilationspolitik muß also die Menge der Fremden einschränken, um sie assimilieren zu können. Dadurch begünstigt sie indirekt den Druck, der durch die nationalen Sitten der Mehrheit auf die fremden Sitten der Minderheit ausgeübt wird. Sie muß auch auf Eliten zurückgreifen können, die fähig sind, zur Nachahmung bereitgestellte Vorbilder zu fördern, um so Bewunderung und den Wunsch nach Nachahmung zu wecken.
MICHEL GEOFFROY: Ich habe zugegebenermaßen große Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß eine Assimilationspolitik (für Fremde) in einer europäischen Nation wie der französischen notwendig sein soll. Wir sind im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada oder Neuseeland tatsächlich nicht sehr bewandert in Einwanderungs- und Multikulturalismusfragen. Wir sind keine Nation von Siedlern, sondern von Erben. Unsere Vorfahren lebten bereits vor Tausenden von Jahren in Europa: In Europa sind wir zu Hause!
Im übrigen kann Assimilation nur funktionieren, wenn sechs Bedingungen erfüllt sind: Wenn die Person wirklich den Willen hat, die Kultur und die Sitten ihres Aufnahmelandes zu assimilieren; wenn das Aufnahmeland in hinreichendem Maße Zuversicht in die eigene Identität und die eigenen Werte hat, um etwas anbieten zu können, das man sich aneignen kann; wenn der kulturelle Unterschied zwischen Aufnahme- und Herkunftsland des Einwanderers nicht zu groß ist; wenn der Einwanderer seine Bindungen zum Herkunftsland kappt; wenn die Einwandererströme überschaubar und auf große Zeiträume verteilt bleiben; wenn es im Aufnahmeland nicht bereits eine große Gemeinschaft von Leuten mit Migrationshintergrund gibt. Keine dieser Bedingungen ist heute erfüllt, und zwar hauptsächlich aufgrund des Masseneffekts, der von der Zuwanderung zum Zwecke der Ansiedlung hervorgerufen wird.
ÉLÉMENTS: Besteht eine erfolgreiche Assimilationspolitik nicht darin, daß der Einwanderer, wenn er sein Interesse, sich zu »franzisieren«, mit dem, seine Herkunft aufzuwerten, vergleicht, sich für ersteres entscheidet?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Assimilation ist kein Mittel zu einem äußeren Zweck: um eine Anstellung, eine Krankenversicherung etc. bekommen. Sie ist ihr eigener Zweck, weil sie motiviert wird durch die Bewunderung, die man dem Vorbild entgegenbringt. Der Fremde, der sich assimiliert, assimiliert sich aus keinem anderen Grund als dem einen: Franzose zu werden. Wenn der Fremde seine Herkunft höher schätzt als den Erwerb der »Qualität eines Franzosen«, dann kann und will er nicht assimiliert werden, denn Assimilation ist ein Prozeß nicht des Verzichts, sondern der Umwandlung und der Sublimierung der eigenen »Herkunft«. Man kann ihn nicht gegen seinen Willen zu diesem Prozeß zwingen, und wenn er sich nicht selbst in diesem Sinne entscheidet, sollte man ihm die Staatsbürgerschaft verwehren. Er wird unter gewissen Umständen als Fremder im Land bleiben dürfen, das heißt mit den Rechten und den Pflichten eines Fremden, die dementsprechend beschränkt werden müssen, aber er wird nicht eingebürgert – denn dafür ist die Assimilation die unerläßliche Bedingung.
MICHEL GEOFFROY: Die Medien inszenieren mit Vorliebe Beispiele gelungener Assimilation: einen ENA-Absolventen koptischer Herkunft, eine brillante franko-tunesische Journalistin oder einen talentierten migrantischen Polemiker. Handelt es sich dabei aber wirklich um individuelle Schicksale, die für die Realität der Masseneinwanderung repräsentativ sind? Man darf dies zu Recht bezweifeln.
Viele Einwanderer suchen in Frankreich nicht irgendeine mehr oder minder zusammenphantasierte francité, sondern sie hoffen auf bessere Lebensbedingungen, auf ein leichteres Leben als in ihrem Heimatland. Oft zahlen sie übrigens Schleusern sehr viel dafür. Migranten kommen gerade auch deshalb nach Westeuropa, weil dieses die Immigrationsfrage nicht gesetzlich regelt und seine Grenzen nicht wirklich kontrolliert.
Zudem leben wir nicht mehr im 19. Jahrhundert, als die anderen Zivilisationen, im Banne der europäischen Vorherrschaft, davon träumten, unseren Lebensstil, unsere Werte und unsere Machtstrukturen zu kopieren. Diese Zeit ist endgültig vorbei, und heute, im Zeitalter des »Kampfs der Kulturen«, verleiten wir andere nicht mehr zum Träumen: Wir machen andere neidisch, was überhaupt nicht dasselbe ist.
ÉLÉMENTS: Vincent Coussedière, Sie haben behauptet, daß Nachahmungsassimilation beim Menschen ein lebensnotwendiger Prozeß sei. Wenn sich nun die Einwanderer die französische Kultur nicht aneignen, würde dies dann heißen, daß die Franzosen die fremde Kultur übernehmen werden?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Ich habe die verzweifelte Anhänglichkeit an ein Frankreich, dessen Sitten von der Elite nicht mehr verteidigt werden, den »Volkspopulismus« genannt.
Aber der Verfall der nationalen Assimilationsvorbilder und der Institutionen, die diese vermittelt haben, beschleunigt sich zusehends. Dies nun führt dazu, daß die Franzosen den Fremden nicht nur keine Vorbilder mehr bereitstellen können, sondern daß sie auch für sich selbst keine Vorbilder mehr haben. Der Islam in seiner islamistischen Variante profitiert von diesem Vakuum. Die Wichtigkeit, welche der Islamismus dem Mechanismus der auf Nachahmung der Sitten beruhenden Assimilation beimißt, ist beeindruckend, während wir selbst die Assimilation dem persönlichen Befinden überlassen und blind dem Gesetz vertrauen, das ein Zusammenleben ermöglichen soll. Dieser Umstand aber erzeugt eine Verführungskraft des Islamismus, die jene der Islamo-Linken (Islamo-Gauchisme) bei weitem übertrifft und junge Franzosen in Ermangelung nationaler Vorbilder anspricht. Die vielen »Konvertiten« sind dafür ein beredtes Zeugnis. Die mimetische und demographische Dynamik des Islam könnte auf lange Sicht die Assimilationsrichtung sehr wohl umkehren. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, selbst wenn die Wirklichkeit fiktionale Katastrophenszenarien, wie sie beispielsweise von Houellebecq im Roman Unterwerfung talentvoll beschrieben werden, manchmal zu übertreffen scheint.
ÉLÉMENTS: Unter den Gegnern der Assimilation stellen jene, die in ihr eine Art Verbrechen gegen die Identität der Einwanderer sehen, im Grunde genommen folgende Frage: Im Namen welchen Prinzips darf der Staat den Menschen ihre Lebensweise vorschreiben?
VINCENT COUSSEDIÈRE: Auch hier müssen wir unterscheiden zwischen der Integration durch das Gesetz und der Assimilation durch die Sitten. Wir stecken in folgender Sackgasse: Wir wollen die Sitten durch das Gesetz überformen, während wir gleichzeitig die Auflösung des französischen Sozialgefüges in Kauf genommen haben, das durch vielfältige Nachahmungsakte geeignet war, sich selbst zu bilden.
Diese beiden Dimensionen der Nachahmung – die staatliche und die soziale – können sich gegenseitig verstärken oder einander widersprechen. Es obliegt tatsächlich nicht dem Staat, den Leuten in der Schule oder am Strand Kleidervorschriften zu machen – eine dezente Kleidung im ersten Fall, kein Burkini im zweiten. Aber er sieht sich dazu aufgerufen, gerade weil der Prozeß der Nachahmung von verbindlichen Vorbildern zutiefst im argen liegt; dieser aber liegt zutiefst im argen, weil die Sitten einerseits der reinen Willkür des einzelnen, andererseits dem religiösen Puritanismus geopfert werden.
MICHEL GEOFFROY: Das libertäre Argument, dem zufolge dem Staat jegliche Legitimität fehlt, dem einzelnen Vorschriften zu machen, beruht auf einem radikalen methodologischen Individualismus, der im Staat nur den Garanten von Vertragsrechten und Rechten des einzelnen sieht, in Wirklichkeit also den Garanten eines abstrakten Menschen, den es so nicht gibt. Was soll man dazu sagen?
Zunächst, daß es die Gesellschaft sehr wohl gibt und daß sie den Individuen vorausgeht. Man kann also die Rechte des einzelnen keineswegs von denen der Gesellschaft trennen, und auch nicht auf Dauer erstere gegen letztere ausspielen.
Danach, daß der Plan, Menschengruppen zum Zusammenleben zu nötigen, die nicht dieselbe Wertehierarchie teilen, weil sie aus unterschiedlichen Kulturen stammen, unmöglich zur Eintracht führen kann; Menschengruppen, von denen die einen beispielsweise meinen, daß auf den Boden zu spucken ein Zeichen von Männlichkeit ist, während die anderen darin nur ein Zeichen von Vulgarität erkennen können; solche, die denken, daß es den guten Sitten entspricht, wenn Frauen ihre Gestalt verhüllen, während die anderen im Gegenteil meinen, daß Frauen ihre Gestalt stolz zeigen sollen; solche, die glauben, daß jede bildliche Darstellung Gottes zu verbieten ist, während die anderen denken, daß Gott Menschengestalt annehmen mußte.
Als politisches und soziales Wesen bevorzugt der Mensch tatsächlich die Gemeinschaft mit ähnlich Gesinnten und nicht mit Fremden, die ihm zu Recht fremd sein müssen.
ÉLÉMENTS: Michel Geoffroy, Sie schreiben, daß die Einwanderung eine Katastrophe ist, weil die Assimilation nicht mehr funktioniert. Vorausgesetzt, sie würde wieder funktionieren, wäre dann die Einwanderung keine Katastrophe mehr?
MICHEL GEOFFROY: Man darf die Einwanderung nicht ausschließlich auf die Assimilationsfrage reduzieren. Die Masseneinwanderung wirft in der Tat nicht nur aufgrund des kulturellen Unterschieds zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaft Fragen auf. Der Masseneffekt an sich spielt eine negative Rolle.
Wenn ab morgen jedes Jahr Hunderttausende von Schweden kämen, um sich in Frankreich anzusiedeln, hätten wir mit ihnen ebenfalls ein Integrations- oder Assimilationsproblem, weil sie ja lutherischen Bekenntnisses sind … Die Masse an und für sich führt zum Segregationseffekt, weil die Neuankömmlinge die Tendenz haben, sich in Gegenden niederzulassen, die bereits von Gruppen derselben Herkunft bewohnt werden.
Die Einwanderung stellt wegen ihrer Größe und ihrer Konzentration in Raum und Zeit ein Problem dar, denn die europäischen Völker waren noch nie in ihrer ansonsten reichlich bewegten Geschichte mit diesem Phänomen konfrontiert. Wenn wir die Menge der Einwanderer und Asylbeantrager, die sich jährlich in Frankreich niederlassen, mit der Gesamtbevölkeung vergleichen, haben wir es verhältnismäßig mit einem viel wichtigeren Zustrom als die Vereinigten Staaten zu tun, die dem eigenen Selbstverständnis nach ein Land von Siedlern und Einwanderern sind. Und dabei will ich noch gar nicht die Größe unseres Landes mit den Landmassen der Vereinigten Staaten vergleichen, deren Oberfläche vierzehnmal jene von Frankreich übertrifft! Assimilation funktioniert nur im Einzelfall, sie braucht viel Zeit, und man darf auch nicht vergessen, daß es sich dabei um einen schwierigen und oft unvollständigen Prozeß handelt. Solange wir die Einwandererströme nicht eindämmen, können weder Assimilation noch Integration funktionieren, und das Ergebnis wird verheerend sein.
(Dieses Gespräch erschien zuerst in Heft 190, Juni / Juli 2021, der Zeitschrift éléments. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion in Paris; die Übersetzung
besorgte Christa Nitsch.)