Der Schriftsteller Jochen Klepper (1903 – 1942) war 37 Jahre alt, als er zum Nachschub eingezogen wurde, eine Grundausbildung absolvierte und – ohne je Feindberührung zu erleben – den Balkanfeldzug und den Vormarsch der 76. Infanterie-Division durch Bessarabien und die Südukraine mitmachte. Klepper war in Militärkreisen berühmt als Verfasser des Preußenromans Der Vater und erhielt den Sonderauftrag, eine Nachschubgeschichte seiner Division zu verfassen. Es blieb bei einigen Prosaskizzen, denn Klepper wurde bereits im Oktober 1941 wieder entlassen, weil er mit der Jüdin Johanna Stein 1931 eine Ehe eingegangen war und dadurch als wehrunwürdig galt. Wir dokumentieren aus dem umfangreichen Tagebuch Kleppers drei Tage, die er in der für ihn typischen Weise aus Wahrnehmung, Reflexion und Urteil beschreibt.
11. AUGUST / MONTAG · SUCHARJA WERBA
Verzettelter, morgendlicher Aufbruch. 40 Kilometer nach Sucharja Werba. Den neuen Orten gegenüber empfindet man schon gar keine Spannung mehr. Einer ist immer elender als der andere.
Bei dem raschen Vormarsch durch immer öder werdende Steppenlandschaft scheint nicht so heftig gekämpft worden zu sein; nur wenig Spuren: ein paar verlassene russische Feldküchen und Geschütze; und in Brand gesteckte, verkohlte Garben und Feldstreifen. Die Wege fürchterlich – an Erdrissen entlang, durch tiefe Gruben, übers Feld. Immer wieder an den Rumänen vorbei, die alles so erschweren.
Mittags in Sucharja Werba. Das ärmste aller armen Dörfer. Nur noch Lehmhütten, mit jenen Gras- und Sanddächern. Die Brunnen wasserarm. Mit ihren Schwengelbäumen wie Galgen in der Einöde. (In der Pußta gaben sie in ihrer Menge der leeren Landschaft einen skandierenden Rhythmus wie Noten.)
Zum erstenmal haben wir auf der Fahrt gefröstelt; dann wurde der Tag wärmer, regnerisch; Abendsonne.
Hier sind deutsche Bauern seit 170 Jahren angesiedelt. Denen hat der Sowjetstaat fast alles genommen; von dem Kollektivbesitz haben sie nur Last und Mühe und keinerlei Nutzen gehabt.
Nahe Gebiete lagen mittags noch unter Artilleriebeschuß. 3 Kilometer von uns soll ein Wolkenbruch gewesen sein; der Divisionsstab soll steckengeblieben sein.
Zweimal von russischen Fliegern überflogen. Schwacher, flüchtiger Abwehrbeschuß. Deutsche Jäger.
Da das Zusammenarbeiten von Kommandantur und Adjutantur – alle so nervös – im Bus räumlich einfach nicht möglich ist, haben wir uns eine der kleinen, leeren Lehmhütten eingerichtet: Schlafstätte, Küche, Arbeitsstube, mit Schulbank. Ali, »die Biene«, kocht schon wieder vom letzten Zucker Pudding für die an jedem Ort in alter Weise aus- und eingehenden Gäste.
Heute ist der zweite Teil der Ferntrauung von Dr. Braun, die Trauung der Braut. Man schlachtet fürs »Kasino«, schmückt mit Weinranken und Feldblumen, einer Fülle von Sonnenblumen, auf einer Truhe in Krügen, an den Türpfosten der Bauernstuben gebunden. Einfache Männer schmücken so naiv, reflexionslos – so schön.
Das Getreide steht hier elend. Fast nur Weideland für Kühe. Sehr, sehr stark Steppencharakter.
Auch die Offiziere müssen sich nun mit den mit sehr viel Geschick der Burschen hergerichteten Lagern in Zelt und Scheune begnügen; auf manchem Bett sah ich den »Vater« bereitgelegt.
Besonders interessevoll, weil bei meinem Vortrag nicht dabei, unterhielt sich heute wieder der netteste aller Offiziere, Philologe, Hauptmann Alpes, z.b.V. und Stellvertretender Kommandeur, mit mir, wie ich ja überhaupt in all die zum Teil berechtigten Klagen über den Snobismus der Offiziere für meine Person nicht einstimmen kann.
Unsere Männer schicken viel Geld heim, weil sie nichts mehr mit Wehrsold und Frontzulage beginnen können.
Abendliche Skatrunde in dem »Büro«; in der Schlafstube fremder Unteroffizier, weither gekommen, ohne alles, als Schlafgast; in der »Küche« bei mir Werner Ewert, Harry und Jupp zu Besuch. Wie es fast allabendlich notwendig ist, auch heute Mahlzeit und Lager für Durchgänger, Versprengte, Melder bereitzuhalten, macht mir als ein wichtiges Stück Fürsorge im Kriege viel Freude. Freilich auch da Blick in Abgründe, selbst wenn ein Mensch, nach und vor langer Steppenwanderung, für Nachtstunden auftaucht.
12. AUGUST / DIENSTAG · SUCHARJA WERBA – LICHTENFELD
In die erste Morgenfrühe schien der Mond. Der Morgen: Spätsommer, zarte kühle Sonne, Wind. Beim Frühstück im Hof entbehrten wir zum ersten Male nicht den sonst so geliebten Schatten eines großen Baumes. Hier sind keine Bäume. Hier ist eine Steppenöde. Und doch etwas von Dünenstimmung. Ein gefangener Russe hilft uns heute mit Abwasch und dem Wasserholen – das Wasser ist schmutzig, der Brunnen erschöpft – in unserem Adjutantenhäuschen. Immer wieder machen wir es uns heimisch und sauber, mit Energie und Geduld.
Erst nachdem ich alle die internen Spannungen beim Stabe, Mannschaften wie Offizieren, überblicke und mich zwischen ihnen unangefochten hindurchfinde, bin ich wohl ganz zugehörig. In unserer engsten, aus dem Bus vertriebenen Adjutanturfamilie mit ihren Schützlingen Walter Greiner, Ali Kerkau und Sanitätsunteroffizier Werner Kurz herrscht aber tiefster Friede. Das liegt weithin daran, daß Martin Ninas als der Dienststellenleiter dieselbe Einstellung zur »Schütte« hat wie ich. – Täglich werden uns (200) Gefangene gebracht; sie werden bis zur Weiterleitung bei uns freundlich und fürsorglich behandelt und zeigen sich nach dem ersten Augenschein gefällig und dankbar.
Unser Divisionsstab soll doch schon 20 Kilometer weiter sein, sonst aber werden nahe von uns endlose Wegverstopfungen gemeldet, und wir haben vorerst noch keinen Befehl zum Weitermarsch.
Ich habe nun zwangsläufig schon 160.– M gespart, da es nichts, nichts zu kaufen gibt; nirgends. Nur den Honig und das Geflügel bei den Bauern (manche unserer Soldaten requirieren es leider doch). Auch der Spritmangel soll ein Grund sein, daß wir noch nicht weiterkönnen.
Doch fuhren wir nachmittags 5 Kilometer weiter – es war sehr schön und sonnig geworden – nach dem großen, klar angelegten, wenn auch wenig schönen Dorfe Lichtenfeld, das noch von deutschen Siedlern bewohnt ist, die seit Generationen hier ansässig sind. Jedoch nichts Altertümliches. Bevölkerung mit süddeutschem Idiom; arm. 24 Männer von den Russen verschleppt. Die Lehrerin hat seit vier Jahren nichts von Mann und Kind gehört. –
Große, saubere Dorfschule mit zum Teil deutschsprachiger kommunistischer Bibliothek; z. B. »Soldat Schwejk«. II a, wir von der Adjutantur haben die mittelgroße Physikklasse für uns als Büro und Schlafraum zur Verfügung – und den Brunnen vor der Tür, den Schulhof, verwildert, für die Mahlzeiten; mehr wollen wir nicht. Im Gegensatz zum vorigen Ort hier wieder viel und sauberes Wasser. Bis auf eine Obstplantage vor dem Dorfausgang eigentümlich baumlos.
Umwölkter, sehr windiger Mittag und Nachmittag; heißer Spätnachmittag; klare Abendsonne in unserem nach Westen liegenden Physikzimmer.
Päckchen von Hanni, die immer noch das Unmögliche möglich zu machen wußte, zeigen, daß es in Berlin gar nichts mehr gibt: Lichterreste, altes Polohemd, Rasierlappen.
Major Eras hocherfreut über die neuen Lieder; das Nachschublied ihm gewidmet, das Lied vom Helm dem Adjutanten. Längere Unterhaltung mit Eras, der die Lieder morgen dem General mitnimmt.
Elektrische Lichtanlage, auch auf der Dorfstraße; funktioniert aber nicht.
Bevölkerung hilft einrichten; liest sich, recht schwerfällig, deutsche Zeitungen vor. Die deutsche Leistung trotz der Kollektivierung nicht zu verkennen.
Sehr eigentümlich, mit der Bevölkerung deutsch sprechen zu können; natürlich durften sie es nur in der Familie. Männer kommen uns im Büro mit Handschlag begrüßen, bringen uns Strohsäcke für die Nacht.
Wir finden hier die deutschen Übersetzungen der bisher aufgestöberten russischen Parteigeschichten.
Zerschlagenes Lenindenkmal. Immer Gips. Kinder singen abends für sich deutsche Lieder, die wir jedoch nicht kennen.
Großer, roter, herrlicher Sonnenuntergang.
Wir finden Gutscheine als Arbeitslohn, die nie eingelöst wurden.
Mit uns liegt Kasino und Zahlmeisterei in der Schule.
Für das Kollektiv Zwangsabgaben an Produkten in solcher Höhe, daß man seine letzte Habe verkaufen mußte, um die fehlenden Mengen zu beschaffen. Was einem gemäß der Rationierung zustand, wurde einem nicht verkauft und ging in den Schleichhandel, der ganz in den Händen harter Juden war wie der Handel überhaupt. In der Stadt Anstehen zu Tausenden um ein paar Meter Stoff; bei den Schlägereien darum kam es oft zu Todesfällen. Kein Haß der Volksdeutschen gegen die russische Bevölkerung – nur gegen Regierung, Partei und Juden furchtbare Verbitterung (nur alte Kleider zu Wucherpreisen).
Wir hören von der großen Not des feindlichen Heeres, das hier durchkam: Hunger und planloses Rückgehen. Man weiß nichts mehr von den anderen.
Aber die immer wiederkehrende, wichtigste Klage, den Menschen noch viel wichtiger als das Materielle: »Wir haben Gott verleugnen müssen – «. »Nie mehr Kirche!« »Wir durften kein Gesangbuchlied singen.« – »Wo sind unsere Geistlichen hingekommen – ?!«
Den ganzen Abend über Volksdeutsche bei uns, die uns erzählen. Noch etwas ungläubig, ob es ihnen nun besser gehen wird. Schöne Frauenköpfe, aber so verhärmt; arme, ordentliche Kleidung. Viel Lebensart. Auch Intelligenz.
Sehr seltsam, als zu diesen Gesprächen die Kerzenreste von Advent und Geburtstag brannten, die Hanni mir bei dem Lichtermangel sandte.
Hier wird nun von den Dörflern Tee getrunken. Aber nur von dem, was in ihren Gärten wächst.
Kurzer Abendspaziergang mit Ninas und Greiner durchs dunkle Dorf unter den Sternen. Überall Landser und Bevölkerung in der Unterhaltung. Die Landser hatten vom Bauernelend keine Vorstellung gehabt, unsereins ja.
Tiefer Schlaf.
- AUGUST / MITTWOCH · RASTATT
Um 10 Uhr früh wieder weitergezogen. Früh halfen uns die junge Lehrersfrau und eine Bäuerin beim – wieder einmal blitzsauberen – Abwasch; hoffend, noch ein wenig ungläubig nahm man unsere Kreditkassenscheine hier als Präsent, dort als Bezahlung entgegen: für Honig, Eier, Milch, Tomaten, mit denen wir, samt einer köstlichen süßen Suppe, Frühstück hielten im Schulhof.
Der früheste Morgen war von zarter Kühle und klarem Leuchten gewesen, dann wurde die Sonne immer stärker; glühender Steppenaugust. In diesem Dorf waren wir abseits der Vormarschstraße gewesen, in die wir nun wieder einbogen. Die saubere und arm gekleidete Bevölkerung winkte uns freundlich zum Abschied.
Heiße, öde Fahrt. Durch Zelte in kahler Schlucht sehr starke Erinnerung an Expeditionsstraßen etwa in Tibet. Nur einmal ein Schloß aus der Jahrhundertwende und ein Park.
Spuren des Kampfes: kaputte, umgestürzte LKWs; einige tote Pferde; wenige Ruinen, von denen man nicht einmal weiß, ob der Krieg in diesen Tagen sie schuf; LKW mit halbverbranntem Russen davor; niedergebrannte Feldstreifen.
Mit anderen Einheiten und anderem Stab liegen wir nun in Rastatt (wie München, Leipzig usw. Dorf). Ärmer und kleiner als das gestrige. Die Leute haben von allem nur ein Stück. Beschaffung der Tische, Stühle, Betten für die Offiziere macht viel Mühe. Überhaupt das tägliche Packen, Räumen. Frauen aus dem Dorf säubern uns das »Kontor« der Partei. Nun ist’s ein ziemlich sauberes, geeignetes Bürogebäude für unser I b und II a, Kommandantur und Adjutantur geworden, mit Schlafraum für die Melder und einsamen Schützlinge und Wirtschaftsraum. Männer bringen uns Stroh, Frauen Milch und wunderbares Brot, wie hohe Napfkuchen, und Eier. Bevölkerung ist erst von der Flucht zurückgekehrt. Kein noch so minimaler russischer Sprachanklang. Aber Herkunft der Vorfahren müssen wir aus Dialekt und Namen der Orte schließen: die Heutigen wissen es nicht mehr. Ein Mann erzählt mir, daß ihm zwei kleine Kinder verhungert sind. – Vor vier Tagen waren noch die Russen hier. Zur Arbeit kamen wir erst vom Nachmittag an. Es heißt, daß wir hier ein paar Tage bleiben sollen.
Beim Vorbeifahren bei einer Panjekolonne Heinz Hinze gesehen, der wohl und munter aussah; es mag ihm aber doch schmerzlich gewesen sein.
Torsos von dachlosen Lehmrundmühlen in holländischer Art und kleinen quadratischen Fensterlöchern. Seltsamerweise verstärken sie den Eindruck: Tibet. Wie einsame Wachtürme. Die Brunnen wie Galgen.
Heißes Nachmittagsgewölk. Staub. Kein großes Vormarschtreiben.
Kruzifixe von der Bevölkerung wieder hervorgeholt, oder nie verschwunden?
Zum Mittagbrot in dieser Woche Kalbsbraten, Schmorbraten, Schweinebraten – alles das beste, zarteste Fleisch. Aber wir sind wie versessen auf Gemüse. Was bedeutet uns das kostbare Brot! Und Milch, wie man sie nicht einmal mehr in Erinnerung hatte.
Wie einem das vorkommt: daß uns wieder mit heißem Wasser und sauberem Handtuch abgewaschen und Wäsche sogar gebügelt wird. Und da wir nun so viel Wäscherinnen und etwas, wenn auch schlechte, Beuteseife haben, können wir uns auch mitten in der Woche noch einen zweiten Wäschewechsel gestatten. Es ist eben sofort wie eine Berührung mit Deutschland.
Noch sechs Stunden Autofahrt, und wir wären am Schwarzen Meer. Doch werden wir es sehen? Oder parallel daran vorbeifahren, nach dem alten Landsermotto, daß es »Brei regnet, und wir keinen Löffel da haben«? – Landung eines Flugzeuges auf der Dorfstraße.