und die er je betreten würde«, verbringt ein Schriftsteller dank einer Literaturstiftung einige Wochen, um einen Roman zu vollenden. An äußeren Begegnungen mit anderen Menschen ist der Aufenthalt arm. Der namenlose Autor, Mitte fünfzig, der aus einer ungenannten deutschen Stadt stammt, lernt lediglich einen jungen katholischen Theologen kennen, der unentschlossen ist, ob er Priester werden soll, und auf einem stillgelegten, zum Lokal umfunktionierten Moldaukahn arbeitet.
Ansonsten ist der Schriftsteller, in dem man wohl zumindest ein Stück Jörg Bernig vermuten darf, allein. Es handelt sich weniger um eine lastende als um eine notwendige oder gar gewünschte Einsamkeit. Erinnerungen holen ihn ein und krallen sich an ihm fest, Verdrängtes bricht auf, Zeiten verschwimmen. Nicht vor dem »Hintergrund« Prags, sondern durch das Erleben der Stadt, durch bewußt Beobachtetes und ungewollt auf ihn Einströmendes.
Ausgelöst werden die Reflexionen, als der Schriftsteller einen »Wehrläufer« beobachtet, einen Arbeiter, der ein Moldauwehr von Treibgut befreit. Eine unschöne Kindheitserinnerung bricht sich Bahn, sein Mitschüler Michael wurde seinerzeit ertrunken aufgefunden. Die Tatsache, daß auch die anderen beiden Jugendfreunde des Schriftstellers – zusammen waren sie die »vier Musketiere« – bereits nicht mehr am Leben sind, erscheint zunächst als etwas überladen. Mit einer Art Auflösung relativiert sich dieser Eindruck später, und der Schriftsteller darf sich am Ende zwar nicht ganz zufrieden, aber befreit fühlen.
Und, auch das überrascht angesichts des oft resignativ-pessimistischen Grundtons, die Erzählung schließt mit einer verheißungsvollen persönlichen Perspektive. Die in Prag ausführlich in Gedanken noch einmal durchlebte, schon länger zurückliegende, gescheiterte Beziehung findet offenbar eine Fortsetzung. Möglicherweise ähnlich und für den Schriftsteller untypisch entschlossen, wie sie einst auf einem Empfang begann: »Darf ich Sie wiedersehen?« – »Warum?« – »Weil ich Sie mag.«
Aber davor liegen die Streifzüge durch die spätfrühlingshafte und frühsommerliche, oft verregnete, geschichtsträchtige Moldau-Metropole, in deren Bann – die fast totgetretene Phrase dürfte hier ausnahmsweise einmal passend sein – er sich auf seine Weise ziehen läßt. Und da ist die Arbeit des Schriftstellers.
Es handelt sich um einen Roman über einen bekannten Maler. Bernig bringt hier eine zweite Ebene ein, immer wieder wird aus dem entstehenden Werk »zitiert«. Der Maler, der T. Raum heißt und einen weiteren extrem großformatigen Zyklus »Die See« zu schaffen gedenkt (der Anspielungsreichtum ist überdeutlich), bricht während einer als Vorbereitung gedachten Reise mit dem Ganzen und verkauft, inkognito, kleinformatige Bilder an Touristen. Aus Pola, wo man ihn erkannt hat, »flieht« er nach Banjole – neben Prag ist die Südspitze Istriens das einzige explizit genannte geographische Gebiet, die im Wehrläufer eine Rolle spielt.
Immer wieder nähert sich Bernig den großen Fragen an. Etwa der, ob das ganze Leben nicht ein Träumen von Möglichkeiten sei. Oder, als Feststellung: »Ach, diese Träume, immer zu spät, immer eingetroffen wie bummelletzte Wünsche.« Um mitunter quälende Erinnerung geht es: »In dieser, wenn auch unbemerkten, Fortexistenz war die vergangene Zeit keine Vergangenheit, sondern immerwährende Gegenwart. Und gab es nicht Menschen, die […] aus der gegenwärtigen Gegenwart in irgendeine vergangene hinüberwechselten, dort blieben und damit dem linearen Verlauf der Zeit einen Strich durch die Rechnung machten?« Und um Beobachtungen wie diese: »Er hatte einen dieser sonst heimlich und im Verborgenen sich ereignenden Augenblicke überrascht, in dem die Sinne Erinnerung formten und in der Tiefe der Seele? des Hirns? ablagerten«.
Das »Dazugehören« ist ein weiteres, mehrfach aufgegriffenes Grundmotiv des Wehrläufers. Der Schriftsteller sah sich bei seiner Trennung dem Vorwurf ausgesetzt, daß er »nie ganz da« sei, nur »anwesend«. Später führt er dies weiter, wenn er, wenig von sich eingenommen, überlegt, ob das Leben diejenigen aussortiere, »auf die es bei seinem weiteren Verlauf verzichten konnte oder wollte. Und der weitere Verlauf war ein unbedingter Imperativ, der eben nicht alle, nicht ihn, einschloß.«
Bernig weiß zudem immer wieder mit Entdeckungen zu verblüffen, die sich nur auf den ersten Blick als Spielerei darstellen. So, wenn er den tschechischen »Barman-Theologen« sagen läßt, »vielleicht« sei für ihn eines der schönsten deutschen Wörter, zusammengesetzt aus »viel« und »leicht«. Darin stecke Hoffnung.
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Jörg Bernig: Der Wehrläufer. Eine Geschichte aus Prag. Novelle, Dresden: edition buchhaus loschwitz 2021. 192 S., 24 €
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