keine Ideologie, keine Uniformen und keine strengen Sicherheitsmaßnahmen – also nicht wie in Berlin 1936. Zwar war das Olympische Dorf umzäunt, Eingangskontrollen wurden aber nur lax gehandhabt. Heiterkeit geht vor Sicherheit, lautete die Devise.
Die Menschen machten sich einen Spaß daraus, die Sperren zu überwinden. Sportler und Fans überstiegen Zäune und betraten das Gelände durch den Ausgang, da nur am Eingang kontrolliert wurde. Für die Sicherheit sollte ein unbewaffneter Ordnungsdienst sorgen. Bewaffnete Polizisten sollten den heiteren Eindruck durch ihre Gegenwart nicht stören.
Die Vergangenheit blieb präsent. Mit Willi Daume repräsentierte ein Mann das Nationale Olympische Komitee (NOC), der 1936 im deutschen Nationalkader der Basketballmannschaft gestanden hatte. Es waren die Angehörigen der Kriegsgeneration, die an den entscheidenden Stellen der Organisation der Spiele mitwirkten: in Politik und Verwaltung, in der Polizei, im NOC, als Betreuer und Trainer. Sie wollten zeigen, daß mit Tugenden wie Effizienz und Organisationstalent diese Großveranstaltung realisiert werden konnte.
Der Grafiker Otto »Otl« Aicher – verheiratet mit Inge Scholl, der Schwester von Hans und Sophie Scholl – designte die Spiele. Er erfand das Maskottchen, den Dackel »Waldi«, ebenso wie die Sport-Piktogramme, die jeder sofort sollte verstehen können. Das offizielle Logo, ein Strahlenkranz mit überlagerter Spirale, entwarf Coordt von Mannstein. Chefsprecher im Olympiastadion wurde der beliebte Schauspieler Joachim Fuchsberger.
1968, bei den Spielen in Mexiko-Stadt, waren die beiden deutschen Teilstaaten erstmals mit getrennten Mannschaften angetreten. Auch in München gab es zwei deutsche Mannschaften mit je eigener Fahne und Hymne. Bisher waren die Sportler aus beiden deutschen Staaten gemeinsam angetreten. Während Abgesandte von BRD und DDR in Bonn über den Grundlagenvertrag verhandelten, weilte Bundeskanzler Willy Brandt in München. Seine privaten Besuche bei Wettkämpfen dienten auch politischen Zwecken – am 19. November sollten Bundestagswahlen stattfinden. Er wollte mit der Olympiade der Weltöffentlichkeit das moderne Deutschland vorstellen und für dessen politischen Vorhaben werben.
Die Kosten für das Spektakel betrugen zwei Milliarden DM, davon entfielen allein 1,3 Milliarden auf die Neubauten. Die Stadt war bereit für die Aufnahme von Hunderttausenden Gästen. Insgesamt wurden 4,5 Millionen Besucher gezählt. Tausende Hostessen umsorgten Sportler und Gäste. Eine von ihnen, die 29jährige Dolmetscherin Silvia Sommerlath, machte dabei die Bekanntschaft des schwedischen Thronfolgers, der seit 1973 als König Carl XVI. Gustaf das Land regiert. 1976 heiratete das Paar.
Die Spiele begannen am 26. August mit der Eröffnungsfeier. Die Zeremonie des Fackellaufs, seit 1936 im Olympia-Programm, hatte man übernommen. Für den Einzug der Nationalmannschaften wurden eigens Lieder komponiert, in denen sich Kultur und Geschichte der betreffenden Länder widerspiegelten. »Deutschland organisiert die Ungezwungenheit«, kommentierte ein US-Journalist den ersten Tag der Olympiade.
Die erste Goldmedaille errang am 27. August in der Disziplin Pistolenschießen ein Schwede. Unangefochtener Publikumsliebling der Spiele war der US-amerikanische Schwimmer Mark Spitz, der in München insgesamt sieben Goldmedaillen gewann.
1936 war ebenfalls ein US-Amerikaner populärster Sportler gewesen: der schwarze Leichtathlet Jesse Owens, der vier Goldmedaillen errang. Die westdeutschen Sportler faßten nicht richtig Tritt: kein Gold in den ersten vier Tagen.
Dann holte am 31. August die Leverkusenerin Heide Rosendahl im Weitsprung die erste Goldmedaille für die Bundesrepublik. Der Bann war gebrochen. Am »Goldsonntag«, dem 3. September, gewannen bundesdeutsche Sportler drei Goldmedaillen innerhalb von 70 Minuten: Klaus Wolfermann im Speerwurf, Bernd Kannenberg im 40-Kilometer-Gehen und Hildegard Falck im 800-Meter-Lauf. Am 4. September errang die 16jährige Ulrike Meyfarth Gold im Hochsprung.
Publikum und Organisatoren waren euphorisch, aber dann ereignete sich das, womit niemand gerechnet hatte. Am 5. September überstiegen um 4.15 Uhr acht palästinensische Terroristen der Organisation »Schwarzer September« den Zaun zum Olympischen Dorf, drangen in die israelische Unterkunft ein, erschossen zwei Sportler und nahmen neun weitere als Geiseln. Sie forderten die Freilassung von 256 ihrer Gesinnungsgenossen aus israelischen Gefängnissen, außerdem die Freilassung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Die israelische Regierung lehnte die Erpressung ab.
Die deutschen Verantwortlichen reagierten hilflos. Die Möglichkeit eines Anschlags war nie bedacht worden. Es gab keine spezielle Einsatztruppe. Man war schockiert und paralysiert. Aus den »heiteren Spielen« waren »tödliche Spiele« geworden. Die Wettkämpfe wurden »bis zur Klärung der Lage« unterbrochen.
Die Terroristen forderten, mit den Geiseln in ein arabisches Land ausgeflogen zu werden, aber kein Staat wollte sie aufnehmen. Die Behörden verschwiegen den Terroristen diese Absagen und planten einen Hinterhalt. Per Hubschrauber flog man Terroristen und Geiseln zum Flugplatz in Fürstenfeldbruck: Dort wartete angeblich eine Lufthansa-Maschine zum Weiterflug.
Die Sicherheitskräfte erfuhren erst an diesem Abend, daß es sich um acht Terroristen handelte – man war von fünf ausgegangen und hatte daher vor Ort nur fünf schlecht ausgerüstete Scharfschützen postiert. Um 22.37 Uhr gab die Einsatzleitung am Flugplatz Feuererlaubnis. Der Schußwechsel in der Dunkelheit dauerte anderthalb Stunden. Am Ende waren alle Geiseln und fünf Terroristen tot, drei wurden festgenommen. Ein Polizist kam ebenfalls ums Leben.
Ulrich Wegener, Verbindungsoffizier zum Bundesgrenzschutz, war Augen- und Ohrenzeuge der Katastrophe von Fürstenfeldbruck. 14 Tage nach dem Fiasko beschloß das Bundeskabinett, eine Spezialeinheit gegen terroristische Bedrohungen aufzustellen: die GSG 9. Wegener sollte sie führen. Sie bewährte sich erstmals im Oktober 1977 bei der Befreiung der Geiseln aus der entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« in Mogadischu.
Daß man auf einen Terroranschlag miserabel vorbereitet und die Polizei nicht richtig ausgerüstet war, gestand die Bundesrepublik Deutschland erst knapp 20 Jahre später öffentlich ein, als sie den Hinterbliebenen der ermordeten Israelis eine Entschädigung in Höhe von drei Millionen Dollar zahlte. 2017 wurde im Münchner Olympiapark eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags errichtet.
Die Spiele wurden am 6. September für die Trauerfeier unterbrochen. Avery Brundage, der Präsident des IOC, verkündete: »The games must go on!« Kurz darauf wurden die Wettbewerbe fortgesetzt. Im Olympischen Dorf patrouillierten nun schwerbewaffnete Polizisten. Die Besucher aber drängten weiter ins Stadion.
Am 10. September, wieder ein Sonntag, holte die bundesdeutsche 4‑mal-100-Meter-Staffel der Frauen Gold: Endläuferin Heide Rosendahl (West) siegte gegen Renate Stecher (Ost). Auch der Boxer Dieter Kottysch und die Hockeymannschaft gewannen Gold für die Bundesrepublik. Beim Marathonlauf gelangt dem 16jährigen Norbert Südhaus eine Köpenickiade. Er überwand die Absperrungen und gelangte unbemerkt auf die Laufstrecke – weit vor dem führenden US-Läufer Frank Shorter. Als Südhaus ins Stadion einlief, hielt das Publikum ihn für den führenden Shorter. Unter dem Beifall des Publikums drehte er eine Runde und lief wieder hinaus. Als Shorter das Ziel erreichte, war es ruhig, kein Jubel brandete auf. Südhaus hatte ihm die Show gestohlen.
Die Schlußfeier am 11. September wurde improvisiert. In einer Schweigeminute gedachte man der Ermordeten. Am Ende verließen die Staatsoberhäupter unter Polizeibegleitung das Stadion. Wie groß die Nervosität war, zeigte die Nachricht von einem nicht identifizierten Flugzeug, das sich angeblich dem Stadion näherte. Eine Alarmrotte der Luftwaffe stieg auf und donnerte über das Stadion. Es stellte sich als Fehlmeldung heraus. Die »heiteren« hatten sich in die »zwiespältigen Spiele« gewandelt.
Lesenswerte Lektüre: Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: München 72. Ein deutscher Sommer. 368 S., 25 € – hier bestellen
RMH
Er erfand das Maskottchen, den Dackel »Waldi«,
Den soll die Designerin Elena Winschermann geschaffen haben, die damals im Team von Otl Aicher mitarbeitete.
https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/olympia-jubilaeum-50-jahre-praegendes-design,TA8umP5