Im September folgt dann eine “Shortlist” aus sechs Titeln, um die Werbetrommel heftiger zu rühren und den Verkaufsanreiz zu steigern.
Wie gewohnt finden sich in der Longlist etliche mittelmäßige Titel und echt Nervtötendes (etwa “Dschinns” von Fatma Aydemir, eine Aneinanderreihung von Migrationsklischees, oder “Blutbuch” von “Kim de´l Horizon”, einem Transgendermenschen, dessen Buch in Gendersprache verfaßt ist).
Zwei der nominierten Bücher hingegen wurden in den vergangenen Druckausgaben der Sezession hochgeblobt: Gabriele Riedles “In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg” und Reinhard Kaiser-Mühleckers “Wilderer”. Letzterem gilt unsere Kritik der Woche.
– – –
Zeitgenössische Romane pflegen zeitgenössische Befindlichkeiten unter die Lupe zu nehmen. Das macht sie reizvoll, aber zugleich so arm.
»Junge Autoren« spiegeln Selbsterlebtes: Wie es war, plötzlich in einer Dreierbeziehung zu sein. Wie es sich anfühlt, wenn andere jene Drogen nehmen, während man selbst bei diesen bleibt. Warum Coworking-Spaces eine Lösung sein können, aber nicht müssen. Will man das wissen? Oder ist es nicht vollkommen egal?
In den Romanen des Schriftstellers Reinhard Kaiser-Mühlecker (*1982) geht es um echte, geerdete Existenzen, es geht um Existentielles. Das gelungene Beispiel für den neuen Heimatroman: hier! Bereits in Sezession 24 (2008) hatte Kubitschek den Debütroman des Oberösterreichers, Der Lange Gang über die Stationen, gepriesen. Es war alles andere als eine fröhliche Geschichte. Wie auch: Heimat assoziiert in unserem Sprachraum oft ein genuin tragisches Schicksal. Dies nun, Wilderer, ist wieder ein Buch, das den Leser über Tage nicht in Ruhe läßt.
Es ist die Fortsetzungsgeschichte von Fremde Seele, dunkler Wald (2016), das man lesen sollte, aber nicht muß, um sofort in den Spannungsbogen von Wilderer zu gelangen. Es geht um den jungen Jakob Fischer, einen mißtrauischen Typen, grobschlächtig und kernhaft gut. Als Halbwüchsiger hatte der Bauernsohn ein Kind angehängt bekommen, das nicht seines war. Jakobs eigener Vater war und ist ein Luftikus. Durch Leichtsinn und Nachlässigkeit hat er das Erbe von Jakobs Großvater vertändelt. Ist er, der Vater, böse oder blöd? Es changiert, wie das ganze Personal in diesem Buch. Die Mutter hat ihr Handy als Hauptbeschäftigungsutensil, glotzt, chattet.
Jakob, der Schweiger, will es besser machen. Wie der Großvater einst. Der ist tot, und mit der Großmutter hat er aufgrund eines weit zurückliegenden Vorfalls gebrochen. Angeblich hat sie ihr Erbe ohnehin »der rechten Partei« vermacht. (Wir werden sehen, was da dran ist.)
Am liebsten wäre Jakob ein »altmodischer« Landwirt, aber er weiß ja, daß andere Zeiten herrschen. Ihm ist sein Tun »unendlich lieber, als vierzig Stunden in der Woche oder mehr arbeiten zu gehen, wie er es früher zu tun gezwungen war.« Natürlich plagt er sich als Selbständiger deutlich mehr Stunden. Er nennt sein Leben nur nicht »Arbeit«.
Jakob trägt Kopfhörer gegen den Alltagslärm. Da ihn die üblichen Moderatoren mit ihren »Gute-Laune-Stimmen« »zum Kotzen bringen«, hört er den Klassiksender. Dort geht es in den Wortbeiträgen oft um Absurdes. Etwa um die Philosophie des Nichtstuns.
Da im Radio redeten sie von irgendwas mit Kreativität und so Zeug, das […] Leute wie er, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen, für die die Gesellschaft seit je nur Spott und Kritik übrighatte, weil sie angeblich die Natur zerstörten oder das Klima […], sich nicht leisten konnten.
Jakob legt aufwendig Fischteiche an, spannt Zäune gegen die Otter, legt Netze gegen die Reiher. Er versagt, die Mühe ist sinnlos. Er kann nicht unentwegt die Teiche bewachen – die Städter, an die er die Teiche verpachtet, können es. Sie haben Zeit. Jakob – halb Autist, halb naiver Dorfbub – ist fleißig, aber er hat ein paar Schwächen: das Bier und das Ding mit Tinder. Und den großen Zorn, der nur selten herausplatzt, aber wenn, dann richtig.
Jakob lernt Katja kennen. Zufall, daß er ihr bereits auf Tinder begegnet war. Sie, etwas älter als er und »städtisch«, darf ein paar Wochen als Kunststipendiatin in Jakobs Kaff verbringen. Was für eine sinnlose Existenz! »Ich vergeude meine Zeit mit etwas, das kein Mensch braucht«, gesteht Katja, die brotlose Künstlerin. Die beiden texten sich Nachrichten (Jakob wortkarg und unbeholfen, Katja zugewandt und lieb) – und werden tatsächlich ein Paar.
Lebensrausch: Diese beiden Ungleichen finden sich, Katja schnuppert Landluft und findet Gefallen daran, der Hof blüht durch äußerste Anstrengung der beiden auf, man stellt um auf »öko«, ein Sohn wird geboren. Es könnte ganz wunderbar sein. Auch, obwohl die nahe, neugebaute Autobahn beständig rauscht. Man kann es ausblenden. Aber es ist doch immer da, als Hintergrundgeräusch.
Jakob hat damals, heimlich, Landa getötet, seine Hündin, weil sie trotz bester Erziehung wilderte. Es gibt längst einen neuen Hund, Axel. Er ist wie Landa sowohl Jakob als auch dem Leser ans Herz gewachsen. Axel wird wildern – es entspricht seiner Natur. Jakob wird ihn strafen, weil es wiederum seiner Natur entspricht. Eine Handykamera wird es aufnehmen, heimlich. So sind die Zeiten: Eigentlich könnte alles so schön sein. Aber es wird häßlich.
Was für ein mitreißender, tragischer Roman!
– – –
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer – hier bestellen.
brueckenbauer
Die Generationenfolge erinnert ein bisschen an die "Barrings" - der Großvater hat's aufgebaut, die Eltern haben's vergeudet, der Enkel muss wieder neu aufbauen. Die Barrings waren allerdings eigentlich keine "Bauern", sondern Gutsbesitzer mit gesundem kaufmännischem Hintergrund. Bei der Beschreibung eines "dumpfen" Charakters muss der Autor sich an noch größeren Vorbildern messen lassen, wie Faulkner (The Sound and the Fury, As I lay dying) - riskant.