Um noch einmal Andersens Märchen als treffliches Gleichnis aufzurufen: Gorbatschow war nicht das Kind, das aussprach, der Kaiser sei ja nackt; er war der Kaiser selbst, der den Mut hatte, diese Peinlichkeit an sich zu bemerken – jedenfalls in seiner ihm zugefallenen Rolle als Repräsentant des Sowjetsystems.
Nur lief er noch ein paar Jahre weiter seinen eigenen, also den gefährlichen leninistischen Illusionen nach, ein roter Romantiker, der meinte, kehrte man nur konsequent zu den Ursprüngen der Sowjetunion zurück, könnte man einen Neuansatz wagen. Wer aber an den Beginn eines Alptraums zurückkehrt, träumt ihn noch mal, allerdings anders – in diesem Fall als Untergang, nicht als Neubeginn.
Wir Mitte der Sechziger in den DDR-Sozialismus Hineingeborenen waren 1985 um die zwanzig Jahre alt. Im November 1982, kurz nach meiner Einberufung zu den Streitkräften, war Leonid Breschnew gestorben, das alte Gesicht der kranken UdSSR. Eingerückt in den Fernsehraum, verfolgten wir die Trauerfeier im naßkalt graudunstigen Moskau und hörten den Trauermarsch von Chopin.
Keine drei Jahre später las ich in einer Kaserne der Grenztruppen im „Neuen Deutschland“ Gorbatschows Rede auf den verstorbenen Tschernenko und spürte, sensibilisiert im Wahrnehmen von politischen Zwischentönen, irritiert einen ganz neuen Duktus. Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht annehmen konnte: Nur vier Jahre später überquerte ich die dann bereits offene Grenze an genau jener Stelle der Elbe, wo ich sie von 1982 bis 1985 noch „gesichert“ hatte – in Ergebnis des Wirkens eben jenes Michail Gorbatschow, dessen Rede mich so verblüfft hatte.
Zwischendurch, in den letzten expressionistisch-wirren Jahren DDR-Sozialismus, erhitzten wir uns in Gesprächen über die Perestroika und Glasnost. Zunächst etwas hoffnungsbesoffen (“Gobi, Gorbi!”) annehmend, es wolle sich etwas Entscheidendes bewegen. Was sich dann aber tatsächlich bewegte, hatten wir so nicht erwartet. Stahlbeton läßt sich nun mal nicht umbauen, schon gar nicht schnell; er reißt allenfalls und bricht zusammen.
Plötzlich gab es sowjetische Bücher, plötzlich gab es sowjetische Filme, die zeigten, daß das „Land Lenins“ eben nicht einer lichten Zukunft entgegenschritt, sondern ein Reich der Finsternis war. Insbesondere “Die Vogelscheuche” von Rolan Bykow beeindruckte mich enorm. Einen Umbau würde es, ahnten wir bereits, nicht geben können, und der endlich unverstellte Blick in die Geschichte zeigte monströse Verbrechen und offenbarte harte Lügen, u. a. jene über das Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes und somit über Katyn. Wer nachdachte, war eher geschockt als befreit.
Alles, was jahrzehntelang so durchgerochen hatte, Stalins Terror, der so allerdings nur im Leninschen Betriebssystem möglich war, die depressive Stagnation unter Breschnew, das Elend, die Brutalität, der Wodka-Suff, all das, was, wurde es behauptet, in der offiziellen DDR als „hysterischer Antisowjetismus“ zurückgewiesen wurde, erwies sich als: Wahr!
Der geschmähte Solschenizyn, bekamen wir konsterniert mit, hatte mit dem, was seine Romane beschrieben hatten, völlig Recht. Den „Archipel Gulag“ gab es, und gewissermaßen kreuzten wir als Schiffjungen immer noch in seinen Gewässern. Und ein anderes wichtiges Buch half uns später, den Sowjetkommunismus endlich richtig zu begreifen – Georges Orwells „Farm der Tiere“. Grandios. Kein Wunder, daß es den Band bei uns nicht gegeben hatte.
Abgesehen von stets überschätzten nur wirtschaftlichen Schwierigkeiten und dem im nachhinein vielfach beklagten Mangel: Allein schon mit dieser Last, mit den zu Tage liegenden Lebenslügen, mit diesem Leichengeruch, der den Sozialismus durchzog, konnte es keine Weiterentwicklung geben. Aber noch bevor wir das richtig erkannt hatten, wurde dem „sozialistischen Weltsystem“ von Moskau aus der ideologische Starkstrom abgestellt und die Breschnew-Doktrin beendet.
Nur deswegen konnte das beginnen, was heute als „heldenhaft“ mythologisiert wird, die Reihe der – mit Ausnahme Rumäniens – „friedlichen Revolutionen“. Als klar war, die „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ würde in den Kasernen bleiben, gab es in der DDR kein Halten mehr: Erst war im frühen Herbst 1989 die Bürgerbewegung auf der Straße, im späten dann „das Volk“, das, stets pragmatisch, keine neuen Experimente wünschte, sondern den Beitritt zur Bundesrepublik. Besser ein ökonomisch bewährtes Modell als neue politische Träumereien.
Heute heißt es, gesucht wurden Freiheit und Demokratie. Mag ja sein, dies aber bitte in Gestalt von D‑Mark, Super-Markt und Mittelmeer-Reisen. Bereits im Sommer 89 hatten meine Landsleute den Botschaftsgarten der Prager Botschaft belagert wie später die Flüchtlinge Lampedusa. Bis ihnen Hans Dietrich-Genscher erschien. Später hieß es in Leipzig: „Coca-Cola, Büchsenbier – Helmut Kohl wir danken dir!“
Gorbatschow nahm all das hin und handelte in Strickjacke mit dem großen Kanzler die Bedingungen einer Übergabe aus. Wir waren plötzlich auf uns gestellt, registrierten nach dem jähen Ende des Kalten Krieges die weltweite Entspannung und atmeten auf, aber wir fanden uns in einer ganz anderen Welt wieder. Aus unserem Land war das „Beitrittsgebiet“ geworden. Die große “Auseinandersetzung der Systeme“ hatten wir offenbar verloren. Was blieb? Sich an den Westen zu halten, also die Treuhand walten und die Lokatoren kommen zu lassen, die mit der Landnahme den Anschluß an den Markt ermöglichten.
Die Bundesrepublik war über Jahrzehnte nicht nur das ganz andere Deutschland gewesen, nicht nur ein Sehnsuchtsort aus dem Westfernsehen, sondern auch der Feind. Der stellte uns nun alle gewissermaßen als Neubürger ein, überprüfte unsere Tauglichkeit, und wir wurden „frei“ als Bundesbürger für den Weltmarkt geheuert. Insofern hatten wir uns ganz neu zu finden und auszurichten.
Ein Gedicht Volker Brauns (* 1939) empfand ich früher als passend:
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder „mein“ und meine alle.
Mit Gorbatschow endete die trügerisch weltgeschichtliche Pause, in der wir aufgewachsen waren. Die duale Welt, Ost und West, gab es nicht mehr. So schien es. Längst wissen wir: Die Polarität blieb erhalten. Der Ukraine-Krieg zeigt es.
Gorbatschow hatte – darin eine tragische Gestalt – einen neuen Sozialismus inspirieren wollen. Aber jenen Sozialismus, den wir erlebt hatten und der uns prägte, hatte es eben nur so, und zwar genau so geben können, wie er sechzig Jahre existierte – in der düsteren stalinistischen Unterdrückungsvariante. Ein anderer war und ist nicht möglich.
Als wir in den Westen kamen, erschien der uns als starker Sieger. Erst nach und nach bekamen wir mit, wie erschöpft dieser Westen war. Während sich die DDR beinahe verzweifelt darum bemüht hatte, eine Nation zu werden, wollte die Bundesrepublik genau dies nicht mehr sein. Sie gab sich preis – der „europäischen Idee“, der Überzahl kulturell kaum zu integrierender Migranten, dem Globalismus. Wir bemerkten, wie ineffizient und ideologisch überfrachtet das Bildungssystem war, und daß es das, was wir etwas verzagt erwartet hatten, so nicht mehr gab: Leistungsorientierung und Leistungsgesellschaft.
Mittlerweile leben wir sogar wieder in einer weitgehend durchideologisierten Gesellschaft, die von einer „woken“ Kulturrevolution geprägt wird, der sich die Einheitsfront der selbsterklärt demokratischen Parteien anschließt.
In der späten Gorbatschow-Zeit implodierte die Sowjetunion. Die Russische Föderation, die daraus hervorging, scheiterte in den Neunzigern beim chaotischen Versuch, in eine Marktwirtschaft und in eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu wechseln. Die Ära Jelzin war ein Desaster, die wenigen Jahre der Freiheit führten eben nicht zu neuer Stabilität, sondern verstärkten Fliehkräfte. In gewisser Weise blieb Rußland das, was es immer gewesen war, eine fremde Welt im Osten – autokratisch, melancholisch, eine unheimliche Weite – und so oder so beeindruckend. Und sann man drüber nach, begann man eine der Melodien im Moll zu summen, die einem von früher vertraut sind.
Daher klingt in mir öfter mal nach, womit wir bei einer Begegnung im damaligen 121. Panzerregiment in der Nähe von Ludwigslust aus Lautsprechern beschallt wurden.
Franz Bettinger
Schöner Text! Die Ost-West-Polarität blieb nur erhalten, weil die US (und dahinter der deep state - so muss man heute sagen) es so brauchten und wollten.