Mit dem Wort Freiheit geht es mir übrigens ähnlich. Und wenn ich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beschworen höre, denke ich an Guillotine und Jakobiner-Terror, der sich eineinhalb Jahrhunderte später bolschewistisch fortgeschrieben fand. Besser weniger davon wagen. Die Kenntnis der eigenen Nachtseite(n) hilft ein Übermaß Hoffnung vermeiden.
Soll man, muß man den Menschen lieben? Die Linke liebt ihn angeblich und fühlt sich immerfort zu seiner Rettung, seiner moralischen Erziehung und zur Gewährleistung seines Wohls aufgerufen – jedenfalls solange er von ihr nicht als Rechter markiert ist. Ihre revolutionäre Attitüde mag man in der Jugend auf romantische Weise grandios finden, erwachsen geworden mutet sie eher affektiv-theatralisch und etwas naiv an.
Kennzeichnend für die Linke in Rot- wie Grünvariante: Sie kennt die Nachtseite des Menschen eben nicht; sie will sie nicht kennen und befleißigt sich stattdessen eines anstrengenden Rollenspiels, in dem jeder so zu tun hat, als wäre er ethisch durchweg grundintakt. Die „Zivilgesellschaft“: Das etwa klingt nach einer Versammlung der durch und durch Grundguten, so wie „zivil“ stets ja besser anmutet als „militärisch“.
Die sozialdemokratische Variante der Menschenliebe erscheint neben den linkeren Befreiungsmythen als ein eher kleinbürgerliches Gequengel nach Lastenteilung, Hilfe und vor allem „Teilhabe“, wobei sozialdemokratische Politiker sich besonders ungeniert legitimiert fühlen, zunächst sich selbst und anschließend ihre Klientel weitestgehend ohne eigene Leistung mit öffentlichen Mitteln auszustatten.
Den Menschen also lieben, Kain ebenso wie Abel? Bloß weil man zur gleichen Gattung gehört?
Ich kann über den Menschen staunen. Zu staunen ist allerdings bereits darüber, daß es überhaupt etwas gibt und nicht nichts, daß also das Sein als solches existiert, ferner darüber, daß sich darin sogar Leben entfaltet, Pflanzen und Tiere, und daß schließlich ein Wesen entstand, das alle Mannigfaltigkeit in sich widerspiegelt, das im Sinne einer Freistelle Distanz gegenüber der Welt und so ein Bewußtsein vom eigenen Selbst entwickelt und alle Grenzen zu überschreiten bereit ist, die es naturgegeben zunächst einzuschränken scheinen:
So einzigartig wie unheimlich, in der Natur unbehaust und ungeborgen, sich sogar nach der geschlossenen Lebenswelt des Tieres und der Pflanze (zurück)sehnend, dabei aller Möglichkeiten voll und zum Wundervollsten so wie zum Furchtbarsten befähigt, findet sich dieses Wesen ins Drama der Freiheit gestellt, das eben im Widerstreit des Guten und Bösen besteht.
Zurück zum Ganzen: Schon eine unscheinbare Pflanze ist ein Wunder, aufstrebend ins Licht, Photosynthese betreibend, andererseits mit dem weißen Wurzelwerk, symmetrisch zum grünen Blätterdach, sich eintastend ins dunkle Erdreich. In beiden Sphären, im Licht wie im Dunkel, als ein und dasselbe Lebewesen jeweils eine andere Existenzweise entwickelnd.
Pflanzen zu bewundern und zu bestaunen habe ich keine Schwierigkeiten, Tiere stimmen mich oft sentimental; der Mensch fast nie, allenfalls noch Kinder. Schon weil sie in ihren ersten behüteten Jahren nur ahnen können, in welche Hamletschen Turbulenzen sie geraten werden. Handeln – aber wie? Noch erträumen sie sich ein Leben, auf das so traumhaft nicht zu hoffen ist. Die Kindheit – mit Rainer Maria Rilke das „Land, das lange zögert, eh es untergeht.“
Wenn man den Menschen aber lieben sollte, so kann das, meine ich, nicht zuerst um seines vielfältigen Könnens und Vermögens willen geschehen, sondern vielmehr mit Blick auf seine Tragik. Eine wichtige Übung mag darin bestehen, Tragischem unvertrauert begegnen zu können, dies schon deswegen, weil es als Kern genau das eigentlich Menschliche ist.
Daß der Mensch die Krone der Schöpfung oder gar geschaffen nach dem Bilde Gottes wäre – dies nachzuvollziehen fällt mir schwer. Und wenn es sich doch so verhielte, wäre es ein Problem oder deutete auf eine Art Sollbruchstelle hin, die Philosophie und Theologie zu prüfen haben. Durch uns geht ein Riß, während wir selbst der Riß sein mögen, der durch die Welt geht …
In der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat Konstantin Sakkas das von ihm gleichermaßen als heroisch wie tragisch empfundene Dilemma des Menschen beschrieben, der aus der Natur „herausragt“: „Der Mensch ist Prometheus, der Vorausdenkende, und Odysseus, der Listenreiche; beide mußten, um sich zu retten, der Natur und sich selbst – Gewalt antun. Darin liegt die ontologische Auszeichnung, darin liegt die spezifische Würde des Menschen.“
Daß darin auch eine tiefe Schuld liegen mag, berührt Sakkas, er möchte sie jedoch nicht als Schuld auffassen, weil wir nicht anders handeln können, als wir es – unserer spezifischen Natur nach – müssen.
Ich weiß, es ist dazu eigentlich alles gesagt – in der Vielzahl der Mythen und in den Religionen, in den Literaturen und Künsten. Wir wissen, wenn wir einigermaßen reflektiert sind, um unsere lichten Möglichkeiten wie um unsere finstere Verworfenheit. Nur die Musik findet dafür tiefe Ausdrücke, da allein sie keiner trennenden Begriffe bedarf. (Darf man vermuten, daß die Linke – siehe oben – ein gestörtes Verhältnis zur sogenannten ernsten Musik hat, suggeriert sie, die Linke, sich doch irrig einseitig den nur guten Menschen, so wie sich jeder Linke gleich selbst als Modellexemplar dafür ansieht. Wenn man’s schon nicht dumm nennen möchte, so muß man es doch gefährlich finden.)
Um unsere Tragödie zu empfinden, muß man nichts studieren, man braucht dazu nicht mal Bücher oder Zeitungen lesen, insofern das einfache Leben selbst noch jeden belehrt, viele dabei unglücklich macht, wenige weise werden läßt, bei allen jedoch ganz notgedrungen ein alltagsphilosophisches oder religiöses Nachsinnen auslöst, meist eben nicht in den vermeintlich glückseligen, sondern in spürbar verzweifelten Momenten. Es ist stets als umfassende Gerechtigkeit aufgefaßt worden, daß niemand von uns heil durchkommt und wir im letzten Akt alle recht alt aussehen.
Die sogenannten einfachen Menschen, die, mitten im Leben und dessen elementaren Konflikten stehend, am ehesten zur Klarheit finden, wissen: Alles fremd, alles objektiv verursachte Elend muß man wie Hiob oder eben fatalistisch zu tragen lernen, das selbst verursachte wiederum hat meist einen Grund, dem man abhelfen kann, indem man dem eigenen Unmaß, der Hoffärtigkeit und Anmaßung Demut entgegensetzt. In einer allzu konstruierten Übertragung, weil oben von Pflanzen die Rede war: Es lebt sich auch als Kiefer, auf sandig ärmlichem Grund. Magnolien bilden mindestens in Brandenburg keine Wälder.
Einen Anlaß allerdings mag es geben, den Menschen wirklich zu lieben, obwohl es schwerfällt, ihn als liebenswert anzusehen. Nicht seine gemutmaßte Würde, nicht einmal sein von der Aufklärung behaupteter Wert als Zweck an sich selbst veranlassen dazu, sondern seine Armseligkeit. Arthur Schopenhauer:
“Bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung kommt, unternehme man nicht eine objektive Abschätzung desselben nach Werth und Würde, ziehe also nicht die Schlechtigkeit seines Willens, noch die Beschränktheit seines Verstandes und die Verkehrtheit seiner Begriffe in Betrachtung; da ersteres leicht Haß, letztere Verachtung gegen ihn erwecken könnte, sondern man fasse allein seine Leiden, seine Noth, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge: da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und statt Haß oder Verachtung jenes Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die Liebe (agape) ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen ´Würde‘, sondern umgekehrt der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete. (…)
Wenn man die menschliche Schlechtigkeit ins Auge gefaßt hat und sich darüber entsetzen möchte, so muß man alsbald den Blick auf den Jammer des menschlichen Daseins werfen; und wieder ebenso, wenn man vor diesem erschrocken ist, auf jene: da wird man finden, daß sie einander das Gleichgewicht halten, und wird der ewigen Gerechtigkeit inne werden, indem man merkt, daß die Welt selbst das Weltgericht ist.”
Ein pessimistisches Welt- und Menschenbild, aber diese Ansicht des Daseins und Soseins befreit. Sie erst ermöglicht es, den Menschen in seinen schwierigen Geschicken unverstellt anzuschauen und so zu erkennen, daß er mit all seinen weltverändernden Kenntnissen und Befähigungen, derer es ja bedarf, damit Individuen und Gattung überhaupt überlebensfähig sind, letztlich ein ganz und gar Verlorener ist – mit dem schwierigen Vorteil, um diese Verlorenheit immerhin wissen zu können, sie mindestens zu fürchten und sich allenfalls darüber hinwegzutrösten, indem er sich in einen größeren, höheren Zusammenhang stellt als in jenen eher jammervollen, der sich hienieden für ihn ergibt.
Dabei muß er sich entweder auf seine eigene Existenz und deren Entwurfsmöglichkeiten einlassen, im Wissen auf Beschränktheiten und entgegenstehende Widerstände – oder auf ein Offenbarungswissen, was in sich wiederum ein Wagnis mehr ist: Kierkegaard sieht daher keinen anderen Ausweg als – „Credo quia absurdum.“ – den „Sprung“ in den Glauben. Schön finde ich das Bild vom zuversichtlichen Schritt auf den Spiegel des dunklen tiefen Wassers, in der Hoffnung oder gar Gewißheit, der Fuß treffe dort unter der opaken Oberfläche schon auf einen sicheren Halt gebenden Stein.
Die Allgegenwart des Himmlischen und Ewigen bzw. das Gespür dafür oder der Verlaß darauf wurde weitgehend verloren an die bloße Heutigkeit, der Glaube an Erlösung scheint ersetzt von der Orientierung auf schnelle Befriedigung aller Bedürfnisse durch die Versprechen der industriellen Warenproduktion. Dabei wurde vergessen, was an Gleichgewicht und Ataraxia (ἀταραξία) einst wohl möglich war. Und die guten wie bösen Geistern scheinen aus unserem engeren Umkreis längst fortgezogen zu sein. Marshall Salin spricht daher von gegenwärtig transzendentalistischen statt vormalig immanentistischen Gesellschaften.
Zwar verbesserte sich mit dem faszinierenden wissenschaftlich-technischen Fortschritt das Lebensniveau, aber dieses bloß irdische Glück wurde mit furchtbaren Opfern und enormen ökologischen Tiefenschäden ebenso erkauft wie mit Entfremdung und Vereinzelung, letztlich mit dem Heraustreten aus altvertrauten und bewährten Bindungen in die von anderen immer weiter geschiedene Individualität und Eigenverantwortung – eine Befreiung, mit der für viele eher eine eiskalte Wintereise begann, ein verschärftes Drama der Freiheit.
Zu Beginn von Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ wird menetekelhaft auf die Bauernbefreiung 1861 in Rußland verwiesen, und am Ende des Stückes findet sich das idyllisch anmutende Gut der Ranjewskaja verramscht, die schönen Kirschbäume abgehauen. Zu Geld gekommen ist der Enkel eines ehemaligen Leibeigenen der Familie, der Kaufmann Lopachin, der eben die Verwertung des Kirschgartens als Terrain für Datschen empfahl. Er verstand die neue Freiheit zu nutzen, kapitalistisch.
Für die alte Zeit steht der Diener Firs, ein 87-jähriger Greis, der in einer scheinidyllischen Abendstimmung bemerkt:
“Vor dem Unglück war es genauso.“
„Vor welchem Unglück?“ –
“Vor der Freiheit.“
Und der ewige Student Trofimov erkennt die Konsequenz des Liberalismus:
„Eine Gesellschaft, in der jeder sein eigener Unternehmer sein soll, jeder wachsen und sich verschulden muß auf Teufel komm raus. Und zur selben Zeit haben immer mehr Leute nichts zu essen.“
In gewisser Weise thematisiert Theodor Fontanes „Der Stechlin“ die Wehmut beim Übergang zur Moderne ähnlich. Der Pastor Lorenzen resümiert darin: „Nicht so ganz unbedingt mit dem Neuen. Lieber mit dem Alten, soweit es geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muß.“
Entzauberte Welt: Wo früher das Mythische, Heilige, Transzendente noch gegenwärtig und zu greifen war, waltete endlich kalte, aber verläßliche Sachlichkeit in den „Skeletthänden rationaler Ordnungen“ (Max Weber). Parkhäuser statt heiliger Haine … -
Die Steigerung des Lebenskomforts von immer mehr Milliarden Menschen – um den Preis der als gerechtfertigt angesehenen Ausrottung ganzer Tier- und Pflanzenarten – unterminierte wie in Erfüllung eines düsteren Fluches schließlich die Existenz der Gattung. Je satter die Märkte, um so elender die Mitgeschöpfe.
Was Schopenhauer oben notierte, sein negatives Menschenbild, das aber Mitleid ermöglicht, immunisiert gegen Utopismen und Hoffnungsbesoffenheit. Indem der Mensch gerade nicht geadelt, nicht vergöttert, nicht beschwärmt, sondern in seinem Existenzialen von Leid, Not und Sorge gezeigt wird, ist sein Kern erfaßt, der tatsächlich allen und jedem eignet: Armseligkeit.
Schon alle Anzugsordnung versucht die zu drapieren. Statussymbole stützen die innere Hinfälligkeit. Insbesondere Politiker sind auf ein so aufgerüstetes Außenskelett angewiesen. Ein charakterlicher schwacher Wicht bedarf einer um so stärkeren Karosse. Man sollte den Kaiser besser nie nackt sehen, obwohl er es wesentlich stets ist, wie jeder andere.
Linkes Denken ist das Gegenteil dessen, was Schopenhauer, sehr gern die Stoiker und vor allem Seneca zitierend, empfiehlt. Gegen die an sich idealistischen Entwürfe der Linken bedarf es beständig eines reaktionären Korrektivs.
Die „Indoktrination in die Wokeness“ (Curtis Yarvin) etwa gewann mittlerweile die Wucht einer linken bzw. neu-linksliberalen Kulturrevolution, die sich eigendynamisch weiter verstärkt und so das Kontra einer Tendenz zur illiberalen Demokratie selbst herausfordert. Der Hysterie der Cancel Culture sollte mit ruhiger Selbstgewißheit begegnet werden, stoisch eben. Gelassenheit und einen schlicht akkuraten bis asketischen Stil kann man der politischen Hysterie und dem infantilen Geplärr wirksam entgegenstellen.
Die Linke geht zuverlässig immer wieder in die von ihr selbst gestellte Falle des Illusionismus. Sieht sie ihre Entwürfe, das Himmelreich auf Erden zu schaffen, unweigerlich an den Tatsachen scheitern, versucht sie sich an Konstruktionen der Gewalt, die staatlich und technisch erzwingen, was natürlicherweise so nicht sein will oder kann. Ihr positives Menschenbild, in sich fragwürdig, bezieht sich ohnehin nur auf die eigene Parteigängerschaft.
Wo Leben Leid ist, da ist Mitleid Tugend, nach Schopenhauer in einem mystischen Akt. Der Sanskrit-Spruch „Tat twam asi.“ („Das bist du. – Du bist das.“) meint auch: Das dort, der andere, ja alles Lebendige, das atmet, das bist auch du, du selbst. Des anderen Leid ist deines.
Mitleid bedarf keiner Rührseligkeiten, ruhiger, tiefer Lebensernst genügt – in Selbstverständlichkeit deswegen, weil mir das Leid aller andere Wesen in seiner Vielgestalt an mir selbst wesensvertraut und selbstverständlich ist. Also: Im Leid souverän existieren, weniger daran leiden, sich selbst nicht verfinstern, sondern mit Haltung hindurch durch den Schmerz.
Erwachsen geworden brauchen wir nicht zu jammern und zu klagen, im Wissen, daß wir genau das bekommen, was infolge unserer Handlungen zu erwarten war.
Den Menschen lieben? Es ist schon viel, ihn in seiner Verlorenheit zu verstehen. Erstaunlich aber, daß der neue Mensch im Grunde doch immer der alte ist. Einerseits. Und daß uns andererseits im anderen Menschen, im Du immer noch die Einmaligkeit des Einzelnen zu begegnen scheint, mitten in der genormten und standardisierten technischen Kunstwelt.
Rheinlaender
Die deutsche Sprache ist in diesem Punkt höchst unvollkommen und unterscheidet sprachlich nicht wie z. B. das klassische Griechisch zwischen agape (den Willen zum uneigennützigen Dienst an anderen Menschen), philia (freundschaftliche Zuneigung) und eros (körperliche Anziehung). Alle diese Dinge und darüber hinaus noch allgemeine positive Emotionen werden im Deutschen als "Liebe" bezeichnet. Zugleich wurde dieser Begriff korrumpiert bzw. immer stärker auf den eros bezogen und im Zuge einer sentimentalen Aufladung zunehmend mit Gefühlen anstatt mit einer Willensentscheidung identifiziert. Die eigentliche Liebe ist aber agape, und das Vorhandensein dieses Willens zum Dienst unterscheidet zur Führung von Gemeinwesen taugliche Eliten von Tyrannen und vom Pöbel. Wer über agape verfügt, muss nicht irgendwelche süßlich-sentimentalen Emotionen empfinden, sondern im Wesentlichen den Willen dazu haben, Verantwortung für andere und fürs Ganze zu deren Wohl zu übernehmen.