Die maßgeblichen politischen Kräfte wollen den Nationalstaat durch Europäisierung, »Gewaltmonopol der UNO«, Duldung illegaler Masseneinwanderung und dergleichen abschaffen. Sie bekämpfen damit eine europäische Besonderheit, als die sich weltgeschichtlich neben der antiken Polis der Nationalstaat darstellt und dabei die kulturelle Überlegenheit Europas erklärt.
Wie wird dann die Situation nach einem möglichen Ende der Staatlichkeit sein, von dem sogar ein Carl Schmitt ausgegangen ist? Diese Frage läßt einen zum gerade erschienenen Werk des politischen Schriftstellers Hans-Dietrich Sander (1928 – 2017) greifen, nämlich zum Gastmahl des Leviathan (448 S., 42 Euro, hrsg. von Heiko Luge, Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag 2021).
Dieses Buch sollte sein Hauptwerk werden, liegt aber aufgrund widriger Umstände nur als Torso vor. Auch wenn im veröffentlichten Werk die vom Verfasser angestrebte neue Grundlegung der Staatslehre nicht zu Ende geführt ist, so stellen die detaillierte Analyse der geschichtlichen und ideenmäßigen Voraussetzung der Staatsentstehung, ihrer Durchführung und vor allem die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Staatsgegnern und deren Argumentationsmustern eine hinreichende Empfehlung für ein gründliches Studium des Werkes dar.
Der Leviathan, seit dem im Buch ausführlich behandelten Thomas Hobbes ein mythisches Bild für den Staat, wird seit seinem Beginn in der Renaissance gejagt, ausgeschlachtet und verzehrt. Letzteres erklärt den Titel des Buches.
Der Staat, der zunächst als absolute Monarchie in die Welt getreten ist, wird als wesentliche Erfüllung der Renaissance angesehen. Die Staatswerdung stellt eine Antwort auf die Krise des mittelalterlichen Universalismus dar, die schließlich zu den religiösen Bürgerkriegen der Nachreformationszeit führte.
Diese wiederum beschäftigten insbesondere Hobbes, nach dem es galt, den Krieg aller gegen alle zu beseitigen, da der Mensch, wenn es die Umstände erlauben, des anderen Menschen Wolf sei. Dies könnten Religion und »Werte« allein nicht ändern, eher im Gegenteil.
Die Krise dieses kirchlich dominierten Universalismus machte deutlich, daß eine Lösung aus der säkularen Stagnation nur partikulär gefunden werden konnte, den Bedürfnissen der unterschiedlichen Völker und deren unterschiedlichen geographischen, mentalen und sonstigen Besonderheiten angepaßt.
Dementsprechend ist das Werk von Niccolò Machiavelli durch die Absicht motiviert, das in zahlreiche Herrschaften – Fürstentümer, Stadtrepubliken, direkte Kirchenherrschaft – gespaltene Volk der Italiener durch Staatswerdung zur Nation zu erheben. Dazu bedurfte es einer neuen Organisationsform der politischen Herrschaft, die vor allem auf die Gesetzgebung ausgerichtet war und sich dabei nicht den vorhandenen Rechtsvorschriften mit religiöser Sanktionierung verpflichtet sah, also nicht an dieses Recht gebunden und somit »absolut« war.
Die politische Macht erhielt dadurch einen unmittelbaren Zugriff auf das Individuum, weshalb der Individualismus der Renaissance und der Absolutismus der Staatskonstruktion nicht im Widerspruch stehen, sondern sich bedingen. Um die religiöse Sanktionierung des zu ändernden Rechts zum Zwecke einer sachgerechten Gesetzgebung zu beseitigen, die wesentlich auf das echte Privateigentum auszurichten war, bedurfte es einer Trennung von Staat und Religion, wozu nach Sander in einer mit dem Christentum konformen Weise Nikolaus von Kues vorgearbeitet hat, und zwar mit dem deus absconditus in einer Weise, die es zu behaupten gestattet, die Renaissance sei trotz der unverkennbaren Verdienste der Italiener eine deutsche Idee gewesen. Die dabei herbeigeführte Trennung von Religion und Wissen hat der Entfaltung der Produktivkräfte vorgearbeitet, so daß der absolute Staat zum status civilis der Industriegesellschaft geworden ist. Wirtschaftliche Entwicklung und Nationalstaat bedingen sich.
Nach Sander ist die Staatswerdung am besten in Deutschland gelungen, wobei Friedrich der Große von Preußen eine zentrale Rolle spielte. Beim »Abriß der Staatsbildungen« legt Sander im einzelnen dar, weshalb er die Staatsbildung etwa in Frankreich und Großbritannien trotz ihrer maßgeblichen Staatstheoretiker aus unterschiedlichen Gründen als weniger erfolgreich ansieht, wobei festzuhalten ist, daß sich Machiavelli in seinem Geburtsland erst im 19. Jahrhundert einigermaßen durchgesetzt hat.
Man könnte Sander durch Hinweis auf Lateinamerika, Afrika und die islamische Welt ergänzen, die für jeden erkennbar aufzeigen, was mangelnde Staatlichkeit bedeutet, nämlich säkulare Unterentwicklung. Jedoch: Die derzeit erkennbare Gefahr eines Auseinanderbrechens von Großbritannien und die unterschwellig in Frankreich vorhandene Befürchtung von Staatsstreich und Revolution deuten die Plausibilität der diesbezüglichen Analyse Sanders an. Wie diese Staaten in der Vergangenheit, so können sich auch die USA vor den Folgen einer nicht voll ausgebildeten Staatlichkeit nur durch Flucht in eine Imperialpolitik retten.
Dies deutet schon an, wohin die Staatsgegner die Menschheit wirklich führen. Deren von Sander ausführlich dargestellte Argumentation läuft, beginnend mit der schon längst als zirkulär erkannten Naturrechtsargumentation, auf ein Aufgreifen mittelalterlicher Elemente, insbesondere des Universalismus hinaus. Auch wenn sich die »Europäer« und die UN-Globalisten als fortschrittlich verstehen, so sind nämlich sie die eigentlichen Reaktionäre.
Als derartige Staatsgegner führt Sander der Reihe nach auf: Konservativismus, Liberalismus, Technokratie, Sozialismus und Anarchismus. Diese wollen auf unterschiedliche Weise die Staatskonstruktion bis zur Abschaffung des Staates, also mit der Rückkehr zum status naturalis, delegitimieren. Hingewiesen sei auf die Richtung der Physiokraten, die ja begrifflich die Natur zur Herrschaft verhelfen wollten und damit – was Sander nicht zum Ausdruck gebracht hat – als die Vorläufer der reaktionären »Grünen« ausgemacht werden können.
Man stört sich dabei am artifiziellen Charakter der Staatskonstruktion, der in der Tat besteht, weil alle menschlichen Errungenschaften, insbesondere die Technik, eine derartige Eigenschaft aufweisen. Besonders vernichtend ist Sanders Kritik an der sozialistischen Richtung. Hier soll es sein Bewenden mit dem Hinweis haben, daß auch nach Sander die Kritik des liberalen Reichstagsabgeordneten »und Reichskritikus« Eugen Richter von 1891 schon alle Erscheinungen des 20. Jahrhunderts bis ins Detail vorausgesehen hat.
Bei Darlegung der konservativen Staatsgegner behandelt Sander berechtigterweise eingehend den Schweizer Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller, der mit seinem Werk der nachnapoleonischen Zeit die Bezeichnung »Restauration« verschafft hat und einen letzten Versuch markiert, politische Herrschaft auf das Eigentum zurückzuführen. Wie seinem von Sander nicht erwähnten Nachfolger, dem Libertären Hans-Hermann Hoppe, muß Haller entgegengehalten werden, daß dieses Eigentum dann nicht das kapitalistische Eigentum wäre, sondern ein der privatwirtschaftlichen Verwertung weitgehend entzogenes Feudaleigentum.
Anders als eine Beschäftigung mit der sozialistischen Strömung, lohnt jedoch eine Auseinandersetzung mit der bei Sander als solche nicht genannten libertären Richtung, weil dabei auch dem Anliegen Sanders Rechnung getragen werden kann, bei einer Analyse des Staates, also seiner Berechtigung und seiner Notwendigkeit, zur Erkenntnisfindung zumindest zunächst vom Staatsrecht abzusehen.
Dies war nicht einmal Carl Schmitt gelungen, der eine Staatslehre begründen wollte, dann aber eine bloße Verfassungslehre vorgelegt hat. Diese reduziert sich dann in der BRD weiter auf einen grundgesetzlichen Verfassungsgerichtspositivismus.
Diesem und den aus ihm hervorgezauberten »Werten«, in deren Zentrum – zunehmend der Logik des Universalismus entsprechend – das Menschenrecht von Menschen zur Niederlassung im »Bundesgebiet« rückt, könnte man Sander, dessen Zeitschrift Staatsbriefe freiheitlich »vom Verfassungsschutz beobachtet« wurde, sicherlich entgegenhalten, wäre seine Position der »absoluten Republik« im vorliegend besprochenen Werk ausformuliert und nicht nur mit Hinweis etwa auf Machiavelli angedeutet.
Diesem schwebte als Republikaner derartiges schon vor – wenngleich die realistisch eingeschätzten Verhältnisse ihn zum Fürsten genötigt haben. Mit dem »Fürsten« ist dabei wohl auf den Papstsohn Cesare Borgia angespielt.
Stellt man sich, dem politischen Realismus von Machiavelli entsprechend, den bundesdeutschen Verhältnissen, die von der von Tocqueville festgestellten Politisierung des christlichen Gleichheitsgedankens geprägt sind, was sich zunehmend ins Sozialistische gehend bis zur Staatsabschaffung fanatisiert, dann bleibt wohl nur eine national-liberale Position, um dem Anliegen Sanders von Staatserhalt oder Rückgewinnung des Staatsethos weitgehend Rechnung zu tragen, mag dies für ihn auch nicht weit genug gehen.