Suche nach der Nation: Boomer Ost

Wir bekamen von den Alten allzu zeitig Zigaretten angeboten und auch flott mal einen Schnaps.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Jeden­falls als Jun­gen. Nicht nur in die­ser frag­wür­di­gen Hin­sicht soll­ten wir früh als erwach­sen gelten.

Die uns präg­ten, die kraft­vol­le­ren Leh­re­rin­nen und Leh­rer, die Män­ner aus der Paten­bri­ga­de, die Aus­bil­der im ver­wa­sche­nen blau­en Kit­tel, die Schlei­fer bei der Armee, sie alle waren nach eige­nem Selbst­bild vom alten Schlag. Gut, nicht alle hat­ten den Krieg durch­ge­macht, aber den Nach­krieg, also den Man­gel. Sie wuß­ten sich zusam­men­zu­rei­ßen und erzo­gen uns genau dazu – sich zusam­men­rei­ßen und durch­zie­hen kön­nen. Preu­ßi­sche Tugen­den, natio­nal­so­zia­lis­tisch ver­schärft, sozia­lis­tisch genutzt.

Wo unse­re Vor­gän­ger­ge­ne­ra­ti­on in die Leh­re gegan­gen war, herrsch­ten zum einen ein rau­er Ton, zum ande­ren aber ganz zwangs­läu­fig Auf­bruchs­stim­mung. Das Land muß­te wie­der­auf­ge­baut wer­den, einer­lei ob nun kapi­ta­lis­tisch, markt­wirt­schaft­lich oder sozialistisch.

Unten, wo gear­bei­tet wur­de, lief’s ideo­lo­gie­frei: Man leis­te­te, was not­wen­dig ist. Zement­mi­schung brauch­te kei­ne Poli­tik. Erst das Wir, dann das Ich; alle muß­ten ran, denn so wie fünf­und­vier­zig, sechs­und­vier­zig konn­te es nicht bleiben.

Leis­tung lohn­te sich nicht immer, zähl­te aber. Ein ech­ter Kerl war, wer ran­klot­zen und was schaf­fen konn­te und wer damit was ver­dien­te, und sei’s eher Ach­tung als nur Geld. Ein so ideo­lo­gi­sches Gewäsch, wie es in der Ber­li­ner Repu­blik gegen­wär­tig alle Abläu­fe über­wu­chert, hät­te damals nur das drin­gend Erfor­der­te auf­ge­hal­ten. Wenn man bedenkt, wel­che Kraft das immer dreis­ter agie­ren­de Poli­ti­sche gera­de frißt und wel­che Kos­ten es aus­löst! Die­ser Raum des lee­ren Gedöns fehl­te damals, selbst SED-Pro­pa­gan­da kon­zen­trier­te sich auf rele­van­te Zie­le, nur eben in poli­tisch frag­wür­di­ger Weise.

Der gro­ße Bereich der Ver­sor­gun­gen – von Buch­hal­tung über Bäu­er­li­che Han­dels­ge­nos­sen­schaft bis Han­del und Haus­halt – wur­de maß­geb­lich von Frau­en zusam­men­ge­hal­ten, die gleich­falls mehr kraft­voll und zäh als als zart wirk­ten. Selbst wenn sie zart waren: Frau­en in Kit­tel­schür­zen und mit Kopf­tü­chern, in den Ver­wal­tun­gen sol­che mit Her­ren­bril­len und straf­fem Dutt. Aber Frau­en fuh­ren auch Mäh­dre­scher.

Aus der Gegen­wart rück­be­trach­tet, stan­den wir DDR-Boo­mer aller­dings in einem Dilem­ma, denn wäh­rend die Welt unse­rer Alters­ge­nos­sen im Wes­ten fort­be­stand, ging unse­re 1989/90 unter.

Die Wen­de, die fried­li­che Revo­lu­ti­on, die Hel­den­stadt Leip­zig, das sind Begrif­fe, die einen stolz stim­men könn­ten, aber sie mach­ten schon in den Neun­zi­gern nicht mal die Hel­den­städ­ter selbst mehr stolz. Wir soll­ten uns bestän­dig so erlöst und befreit von der Dik­ta­tur füh­len und uns gefäl­ligst so auf­rich­tig freu­en, daß uns genau das bald schwer­fiel. Daß uns die poli­ti­sche Klas­se des Wes­tens min­des­tens in ihren Phra­sen am Tag der Ein­heit fei­er­te und lob­te, stimm­te uns zuneh­mend argwöhnisch.

Abge­se­hen davon, daß eher eine Restau­ra­ti­on begann. Die einst sub­ver­si­ven ost­deut­schen Voll­bart-Bür­ger­be­weg­ten wur­den ein­ge­hegt und beka­men einen gut dotier­ten Pos­ten, auf dem sie ver­stumm­ten, oder sie gran­tel­ten eben im Abseits weiter.

Gegen­über der ver­meint­li­chen Gna­de der Geschich­te, dem „Geschenk“ der Ein­heit, waren wir zuwei­len all­zu undank­bar, vor allem, als wir mit­be­ka­men, daß wir den frem­den kräf­ti­gen Bru­der, die Bun­des­re­pu­blik, offen­bar doch gehö­rig über­schätzt hat­ten, wie das mit Blick auf stär­ker anmu­ten­de Geschwis­ter oft geschieht.

Man kann es unfrei­wil­lig komisch fin­den, skur­ril oder sogar tra­gisch: Nach nicht mal drei Jahr­zehn­ten, die wir trotz oder wegen aller Schwie­rig­kei­ten immer noch als Auf­bau unse­res Lan­des ver­stan­den hat­ten, selbst wenn nicht weni­ge von uns mit die­sem Land über Kreuz lagen, brach unse­re klei­ne Geschich­te, von der gro­ßen gerich­tet, ganz abrupt ab.

Nicht allein unse­re Kind­heit und Jugend war zu Ende, son­dern zugleich die Welt, die damit ver­bun­den war. Das ein­zig Ein­drucks­vol­le dar­an war das unmit­tel­ba­re Erle­ben, wie alle erns­ten Ver­ein­ba­run­gen, selbst die Ver­fas­sung, dazu die hoch­ge­rüs­te­te Exe­ku­ti­ve, dar­un­ter die gan­ze Sta­si, dazu über drei­hun­dert­tau­send Sowjet­sol­da­ten aller Waf­fen­gat­tun­gen im Land, wie also ein Staat mit sei­nem ein­drucks­vol­len Appa­rat und der gesam­ten sowje­ti­schen Unter­stüt­zung in kür­zes­ter Frist bei­na­he geräusch­los unter­ging. Plötz­lich und unspek­ta­ku­lär war’s zu Ende. Ohne Abspann.

Dar­in hat der Exis­ten­tia­lis­mus ein­fach recht:

Gleich allen ande­ren Men­schen, ins Dasein gewor­fen, konn­ten wir DDR-Boo­mer nicht wis­sen, wel­chen Gang die Welt nimmt, in die wir hin­ein­ge­bo­ren wur­den, und wir wuß­ten eben­so­we­nig, wel­chen Weg wir neh­men wür­den. Jedem Men­schen geht es so, nicht nur jenen star­ken DDR-Jahr­gän­gen, die von 1955 bis 1969 gebo­ren wur­den, mit dem demo­gra­fisch her­vor­ste­chen­den Geburts­jahr 1964, zu dem ich gehö­re. Nie­mand weiß, was das Schick­sal bereit­hält oder was der Beschluß Got­tes ist, aber bestän­dig mei­nen wir ver­mes­sen, wir wüß­ten das genau.

Eines aber ist Fakt: Wir waren nun mal vie­le. Man­ches gleicht dem, was Tho­mas E. Schmidt gera­de sehr tref­fend über die West-Boo­mer schrieb:

„Immer zusam­men, immer im Rudel, fast alle mit Geschwis­tern, inmit­ten stram­peln­der, sich schlän­geln­der Kin­der­lei­ber, in allen Ver­wahr­an­stal­ten als Her­de behan­delt, auch spä­ter immer ‚der Trend‘, das gut und ver­läß­lich Beob­acht­ba­re, sta­tis­tisch gese­hen die Wahr­heit über die Republik.“ –

Im Wes­ten wie im Osten beka­men die Fami­li­en in den Fünf­zi­gern, Sech­zi­gern – vor dem Pil­len­knick – vie­le Kin­der, mehr als davor und danach, was den etwas simp­len, aber nicht fal­schen Schluß zuläßt: Selbst wenn es den Leu­ten noch am spä­ter ver­trau­ten Kom­fort fehl­te, so hat­ten sie mit Blick in die Zukunft doch ein Grund­ge­fühl der Zuver­sicht. Ganz im Gegen­satz zu heu­te: Kom­fort ist weni­ger wich­tig als Hoff­nung. Die­se fehlt heu­te, wäh­rend wir an jenem über­satt sind.

West­deutsch­land gab der Erfolg seit dem Wirt­schafts­wun­der Recht; unse­re Welt jedoch brach ab, bevor wir drei­ßig wur­den. Zwangs­läu­fig, aber das erkann­ten wir erst im nach­hin­ein, klar.

Zuvor waren die Plä­ne und Hoff­nun­gen enorm: ers­ter „Arbei­ter- und Bau­ern­staat auf deut­schem Boden“, „Sie­ger der Geschich­te“ und Sie­ger im „Wett­streit der Sys­te­me“, der Mensch angeb­lich im Mit­tel­punkt und sowie­so das Maß aller Din­ge, die Chan­cen für jeden nicht nur gleich, son­dern in den bevor­ste­hen­den Mög­lich­kei­ten unver­gleich­lich. Hieß es. Dach­ten wir zunächst, nicht alle, aber doch eine Mehr­heit. Wer arro­gant dar­über urteilt, soll­te beden­ken: Wir waren Hin­ein­ge­bo­re­ne und kann­ten nur unse­re Welt.

Die pro­duk­ti­ven Zwei­fel und die kri­ti­sche Skep­sis herrsch­ten in Pfarr­haus und Kir­che, in den Intel­lek­tu­el­len- und Künst­ler­mi­lieus und bei jenen, die noch ein ande­res Wirt­schaf­ten kann­ten. Die nach­voll­zieh­bar schwer Frus­trier­ten und Ent­rech­te­ten, ent­eig­ne­te Mit­tel­ständ­ler und Bau­ern etwa, hat­ten die DDR größ­ten­teils ver­las­sen, bevor wir gebo­ren wur­den. Wer blieb, arran­gier­te sich zumeist und freu­te sich der Erfolge.

Noch war Nach­krieg, schon des­we­gen konn­te es nur nach vorn, mit Kurs auf das Bes­se­re, das Fried­li­che­re und so in Rich­tung nicht zuletzt eines gewis­sen Wohl­stands gehen.

Äußer­lich schien es ja pas­sa­bel zu lau­fen. Es wur­de gebaut, es gab also neue Woh­nun­gen, und die Plat­ten­bau­ten hie­ßen damals ein­fach Neu­bau­ten; sie wirk­ten licht und modern gegen das Grau des durch­aus spür­ba­ren Ver­falls der Innen­städ­te; und es war ja, mein­ten wir, das Alte, das zer­fiel, das Neue wur­de erst geschaf­fen. Wird schon, dach­ten wir.

Im Wes­ten lief es schnel­ler, glat­ter und bun­ter und ja sowie­so demo­kra­tisch und in Wür­de und in Frei­heit, wie bis heu­te betont wird, aber obwohl wir den Wes­ten in ARD und ZDF sahen, erleb­ten wir ihn ja nicht, er blieb eine fer­ne, uner­reich­ba­re und daher letzt­lich unwirk­li­che, ja gewis­ser­ma­ßen vir­tu­el­le Welt, die es offen­bar so nur bei „Der­rick“ gab – und etwas Duft davon im „Inter­shop“, für jene, die West­geld hatten.

Und was eigent­lich mit Frei­heit, mit Wür­de, mit Demo­kra­tie gemeint war, wuß­ten wir so genau nicht, weil wir’s nicht ein­ge­übt hat­ten. Noch heu­te wird den Ost­lern, ins­be­son­de­re den Sach­sen, ja didak­ti­schen Tones vor­ge­wor­fen, sie beherrsch­ten Demo­kra­tie ein­fach nicht, min­des­tens wür­dig­ten sie die nicht genügend.

Außer­dem war der Wes­ten etwas, was er ab 1989 urplötz­lich gar nicht mehr sein woll­te oder soll­te und was heu­te offen­bar völ­lig ver­ges­sen ist:

Er war der Feind.

Daß die Welt, aus der die West­pa­ke­te kamen, es im Kal­ten Krieg poli­tisch und mili­tä­risch nicht gut mit uns mei­nen konn­te, paß­te für die meis­ten von uns durch­aus zusam­men. Wer West­ver­wand­te hat­te und sie sogar traf, hat­te vor ihnen Respekt, bewun­der­te sie gar, bemerk­te aber:

Die woll­ten es nicht nur bes­ser wis­sen, die wuß­ten es tat­säch­lich bes­ser. Am Ende behiel­ten sie Recht. So, wie es bei uns gelau­fen war, hat­te es nicht lau­fen kön­nen; sie, die aus dem Wes­ten, hat­ten das ja immer gesagt. Wir muß­ten es spä­tes­tens 1990 zuge­ben, klar, aber wer gibt schon gern eine Nie­der­la­ge zu, selbst wenn er dar­an so ganz per­sön­lich nicht schuld sein kann. Als die Treu­hand das „Volks­ver­mö­gen“ ver­kauf­te, sahen wir artig zu. Ging nicht anders, dach­ten wir, denn unser Wirtschafts‑, ja unse­re gesam­te Daseins­wei­se hat­te sicht­lich versagt.

Wir hat­ten nur eine Chan­ce: Wir muß­ten uns den West­bür­gern anglei­chen, sie zu imi­tie­ren ver­su­chen; wir soll­ten wer­den wie sie.

Aber vor­her war das da drü­ben, so unse­re Wahr­neh­mung, das alte Deutsch­land, wir waren das neue. Und selbst wenn das neue noch nicht so glatt aus­sah wie das alte, war es doch irgend­wie, nun ja, viel­leicht das ero­ti­sche­re Deutsch­land, ohne daß die­ses Bild gleich zur Blau­hemd-Impres­si­on der FDJ-Pfingst­tref­fen oder gar zu einem FKK-Farb­film zusam­men­schnur­ren muß.

Wir waren irgend­wie alle mit Hoff­nung gedopt, mei­ne Gene­ra­ti­on jeden­falls, nicht nur unse­re Leis­tungs­sport­ler, die es kurio­ser­wei­se immer mit den Ath­le­ten der Super­mäch­te oder sogar vor denen zur Sie­ger­eh­rung schafften.

Ja, unser Mini-Land woll­te unbe­dingt selbst eine Super­macht unter den wirk­lich Gro­ßen sein, so wie bei den Olym­pia­den. Wir woll­ten Welt­meis­ter wer­den, ins­be­son­de­re um es dem feis­ten Deutsch­land-West als sein klei­ner, aber fit­ter Wider­part so rich­tig zu zei­gen, und das wirkt, bli­cken wir zurück, schon unfrei­wil­lig komisch und lächer­lich, jeden­falls infantil.

Jetzt gilt Deutsch­land immer noch als erfolg­reich, aber es ist alt, eine ger­ia­tri­sche Repu­blik, weit­ge­hend sozi­al­de­mo­kra­tisch den Trans­fer- und Für­sor­ge­sys­te­men oder direkt dem medi­zi­nisch-phar­ma­ko­lo­gi­schen Kom­plex über­ant­wor­tet. Immer weni­ger geschröpf­te Leis­tungs­trä­ger schlep­pen immer mehr Ali­men­tier­te mit, vor allem jene, die wir glo­bal ein­la­den und denen wir hier­zu­lan­de Teil­ha­be versprechen.

Inner­halb der Groß­städ­te wird eine als deutsch iden­ti­fi­zier­ba­re Kul­tur durch „woken“ Lebens­stil und die „bun­te“ Migran­ten­ge­mein­schaft abge­löst; außer­halb der Urba­ni­tät ver­däm­mert das Land sowie­so. Wich­ti­ger als die Trai­nings- dürf­ten mitt­ler­wei­le die Dia­ly­se-Zen­tren sein.

Vorm Unter­gang der DDR hör­ten wir andau­ernd, wir, die Jugend, wür­den drin­gend für die Zukunft gebraucht, man set­ze in uns die größ­ten Erwar­tun­gen, wir müß­ten die Eli­te des nächs­ten Jahr­hun­derts wer­den, und dafür hät­ten wir uns – Ver­dammt noch mal! – anzustrengen.

Es mag heu­te kuri­os wir­ken, aber die DDR sah sich nicht nur als eine, son­dern sogar als die eigent­li­che deut­sche Nati­on an, als Voll­ende­rin der deut­schen Geschich­te, als Bewah­re­rin des gro­ßen geis­ti­gen Erbes. Ihre Cur­ri­cu­la wei­sen das ins­be­son­de­re im Fach Lite­ra­tur nicht nur im umfangei­chen Lek­tü­re­ka­non so aus.

Wir konn­ten zur Wie­der­ver­ei­ni­gung noch nicht abse­hen, daß die uns so stark erschei­nen­de Bun­des­re­pu­blik als­bald gar kei­ne eige­ne Nati­on mehr sein woll­te, schon gar kei­ne dezi­diert deut­sche. Spä­tes­tens, als wir dazu­stie­ßen, fing sie an, sich ohne Not abzu­schaf­fen, erst über das Auf­ge­hen in Euro­pa, die Euro-Ein­füh­rung als Pfand für die Ein­heit, das Abtre­ten von immer mehr ganz ent­schei­den­den Rech­ten an die Brüs­se­ler Zen­tra­le, den Traum vom Welt­bür­ger­tum, schließ­lich der radi­ka­le Bruch mit der Ver­gan­gen­heit, das Aus­schla­gen des Erbes, nicht zuletzt über redu­zier­te Bil­dung, den ritua­li­sier­ten Schuld­kom­plex, end­lich die Umbe­nen­nun­gen, die Sprach­ver­hun­zung, die Can­cel-Cuture durch indok­tri­nier­te jun­ge Gar­den und deren Bil­der­stür­me­rei. Wir erkann­ten, daß nament­lich unse­re Boo­mer-Alters­ge­nos­sen West das so wünsch­ten und als befrei­end empfanden.

Tho­mas E. Schmidt wid­met in sei­nem Boo­mer-West-Buch dem eige­nen Befrem­den, die Ver­ei­ni­gung könn­te zur Wie­der­be­le­bung natio­na­len Emp­fin­dens füh­ren, ein gan­zes Kapi­tel und argumentiert:

„Die Fra­ge nach der Nati­on im grö­ßer gewor­de­nen Natio­nal­staat, also nach den inne­ren Grund­la­gen des Zusam­men­le­bens, wur­de von uns zwar auf­ge­wor­fen, an vie­len Stel­len auch debat­tiert, am Ende wur­de sich aber lie­gen­ge­las­sen. (…) Das Wir der Ein­heit war kei­nes­falls iden­tisch mit dem Wir der Nati­on. Es exis­tier­te ja in unse­ren Augen gar nichts Vor­her­ge­hen­des mehr, das ein kla­res his­to­ri­sches Ziel oder eine Rück­kehr hät­te begrün­den kön­nen. (…) Der Auf­ruf zur Neu­grün­dung der Bun­des­re­pu­blik im akti­ven Voll­zug eines links­li­be­ra­len Kon­sen­ses war für uns in Wirk­lich­keit so wenig anzie­hend wie das erneu­er­te Natio­nal­ge­fühl. (…) Etwas hät­te es gege­ben, nen­nen wir es Nati­on, das alles Tren­nen­de ein­ge­eb­net haben wür­de. Und genau die­sen Grund, jene Essenz bestrit­ten wir.“

Wir Ost­ler nicht. In einer selbst­be­wuß­ten und leis­tungs­fä­hi­gen Nati­on anzu­kom­men wäre das ein­zi­ge Ziel gewe­sen, was gelohnt hät­te, woll­te man sich nicht auf Dis­coun­ter-Kon­sum beschrän­ken. Gera­de ein Satz befrem­det: “Es exis­tier­te in unse­ren Augen gar nichts Vor­her­ge­hen­des mehr, das ein his­to­ri­sches Ziel oder gar eine Rück­kehr hät­te begrün­den kön­nen.” Das neue Ver­ständ­nis der Bun­des­re­pu­blik ging also davon aus, daß sie sich mit dem Grund­ge­setz erfun­den hat­te, und alles, was vor­her gesche­hen war, erschien als wert­los oder als kon­ta­mi­niert. Man woll­te es nicht mehr haben. Mit den schwie­ri­gen Antei­len schlug man gleich das gesam­te Erbe aus.

Zurück: Als ich mit Ver­set­zung in die neun­te Klas­se 1978 in das Inter­nat einer „Erwei­ter­ten Ober­schu­le“ kam, hör­te ich gemein­sam mit mei­nen Alters­ge­nos­sen in der alten neo­go­ti­schen Aula, die mit dem leuch­ten­den Orna­ment­glas der hohen Fens­ter mehr nach dem uralten Deutsch­land als nach Revo­lu­ti­on aussah:

Es ist eine Aus­zeich­nung, daß ihr hier seid, erweist euch ihrer wür­dig. Wer die Anfor­de­run­gen hier nicht besteht, von dem wer­den wir uns nach zwei Pro­be­jah­ren ver­ab­schie­den, aber es ist ja eine Ehre, in der Pro­duk­ti­on zu arbei­ten; nicht jeder gehört auf die Hoch­schu­le oder Uni­ver­si­tät. Wir hier wol­len die Bes­ten. Und dann wie­der: Ihr sollt die Eli­te der neun­zi­ger Jah­re werden.

Dabei wür­de es die­se Eli­te – wenigs­tens für die DDR – über­haupt nicht geben. Wir waren jung, aber unser Land tod­krank. Mag sein, unse­re Vor­gän­ger­ge­ne­ra­ti­on, des­il­lu­sio­nier­ter als wir, die Gene­ra­ti­on Bier­mann, ahn­te es; wir sahen es nicht.

Auf­grund der geschicht­lich aus­ge­lös­ten bio­gra­phi­schen Brü­che kön­nen wir nicht auf so ruhi­ge Kar­rie­ren ver­wei­sen wie unse­re Alters­ge­nos­sen aus dem guten alten Westen.

Im Kli­schee: eine von der Haus­frau-Mut­ter zu Hau­se beschirm­te Kind­heit, zei­tig aufs Gym­na­si­um, ruhi­ger Durch­lauf im lan­ge Erprob­ten, Abitur gesi­chert, sehr gern Zivil­dienst, dann ein lan­ges, gründ­li­ches, zei­tig auf­wen­di­ges Stu­di­um, in Ruhe an zwei, gar drei Uni­ver­si­tä­ten absol­viert, mög­lichst in Rich­tung eines ver­ant­wor­tungs­vol­len und daher ein­träg­li­chen Beru­fes, am bes­ten eine klei­ne Pro­mo­ti­on dran­ge­strickt – alles ideo­lo­gie- und sta­si­frei, ohne har­te his­to­ri­sche Tur­bu­len­zen, oft zusätz­lich abge­si­chert von der Erwar­tung eines ver­dien­ten Erbes, gedie­ge­ne Bio­gra­phien im gol­de­nen Westherbst des Kal­ten Krieges.

Aber das konn­ten wir in der neo­go­ti­schen Aula der Erwei­ter­ten Schu­le von der Per­le­berg, die die Namen Goe­thes trug, natür­lich nicht wis­sen. Also arbei­te­ten wir auf das von den Leh­rern gesetz­te Ziel hin, die Eli­te der neun­zi­ger Jah­re und des frü­hen nächs­ten Jahr­hun­derts zu wer­den … Damit jedoch lie­fen wir nun mal ins Leere.

Schon unse­re Ober­schul­jah­re hät­ten so viel ahnen lassen:

1978 war plötz­lich ein Pole, Karol Woj­ty­la, Papst, 1979 wur­de Mar­ga­ret That­cher Pre­mier­mi­nis­te­rin und blieb es bis 1990, 1979 kehr­te Ruhol­lah Cho­me­ni im Zuge der „isla­mi­schen Revo­lu­ti­on“ aus dem Exil zurück, ab 1981 war Ronald Rea­gan Prä­si­dent, still tra­ten die Com­pu­ter ihren Sie­ges­zug Rich­tung Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter an … Was allein von jedem ein­zel­nen die­ser Ereig­nis­sen aus­ge­hen wür­de, ahn­ten wir nicht.

Ja, wir hör­ten Udo Lin­den­berg, wir hör­ten Pink Floyd, wir spiel­ten Dylan auf der Gitar­re, wir besorg­ten uns von irgend­wo­her Jeans, bevor unser Land selbst drei eige­ne Mar­ken pro­du­zier­te, die West­pa­ket­emp­fän­ger nur her­ab­las­send belä­chel­ten; unser Geschmack war west­re­giert wie der der gan­zen Welt, aber wir blie­ben – zwang­läu­fig, klar – die­sem selt­sa­men Land ver­haf­tet, das nicht mehr lan­ge zöger­te, bis es unterging.

Wir leb­ten in einer bipo­la­ren Welt, von der klar war, daß die eine Sei­te der jeweils ande­ren unter den Bedin­gun­gen eines ther­mo­nu­klea­ren Krie­ges den Gar­aus machen wür­de, wenn es zum ers­ten Schuß kam. Wenn es über­haupt noch ein Schlacht­feld geben soll­te, wür­de es Deutsch­land sein.

Der Viet­nam-Krieg, der Pino­chet-Putsch in Chi­le, die dreis­ten Ein­fluß­nah­men und Ein­krei­sun­gen durch die USA, schließ­lich der NATO-Dop­pel­be­schluß, das alles mach­te den Wes­ten für die meis­ten von uns poli­tisch nicht unbe­dingt so anzie­hend, wie er es all­tags­kul­tu­rell durch­aus war.

Mich wun­dert mehr, daß genau das schnell ver­ges­sen wur­de, die Tat­sa­che, daß die­ses Freund-Feind-Sche­ma über vier Jahr­zehn­te sehr ein­deu­tig Koor­di­na­ten des Stand­or­tes bestimm­te. Es ging nicht nur um die net­ten West­tan­ten drü­ben und deren Brü­der und Schwes­ter hüben; es ging viel­mehr um zwei hoch­ge­rüs­te­te Front­staa­ten, zu denen wir jeweils gehör­ten. In ver­schie­de­ne Welt­sys­te­me ein­ge­bun­den, soll­ten wir ein­an­der bekämp­fen, und genau dazu wur­den wir umfas­send ausgebildet.

Unser Vor­teil: Wir ver­zet­tel­ten uns nicht sinn­los bei Der­ri­da und stell­ten in Stil-Imi­ta­tio­nen Dekon­struk­ti­vis­mus gegen Kon­struk­ti­vis­mus; die Jung­in­tel­lek­tu­el­len von uns wären schon froh gewe­sen, hät­ten sie Scho­pen­hau­er, Nietz­sche, Freud im Buch­han­del bekom­men kön­nen – Namen, die drü­ben längst out waren, weil man, gedank­lich und poli­tisch wohl­stands­ver­wahr­lost, zwar end­lich über Mao hin­aus­fand, nun aber die Erlö­sung bei Bar­thes und Fou­cault such­te, ohne die dunk­len Suhr­kamp-Taschen­bü­cher je ganz durch­zu­le­sen und über­haupt auch nur mit einem Bein irgend­wie im Leben zu stehen.

Wir waren poly­tech­nisch erzo­gen, kann­ten uns also mit Alge­bra und Ana­ly­sis eben­so aus wie mit dem Drei­pha­sen-Wech­sel­strom­mo­tor, wir konn­ten LKW fah­ren und bewähr­ten uns auf Arbeits­ein­sät­zen sowie in der Ern­te, und wir Jun­gen wuß­ten min­des­tens die AK-47 zu hand­ha­ben, noch bevor wir über­haupt in die Streit­kräf­te ein­ge­tre­ten waren.

Das aber war der letz­te Akt: Ein­ein­halb oder drei Jah­re Armee in den Acht­zi­gern, schwie­ri­ge Jah­re lan­ger Tren­nun­gen von der Fami­lie und der Freun­din, zeit­gleich mit unse­rer Ver­ei­di­gung der Tod Leo­nid Iljitsch Bre­sch­news und sei­ne Bei­set­zung wäh­rend die­si­gen Mos­kau­er Novem­ber­wet­ters an der Kremlmauer.

Wie ein Omen, ein Mene­te­kel, das einem etwas hät­te sagen kön­nen. Nach dem gespens­ti­schen Inter­mez­zo von Andro­pow und Tscher­nen­ko dann die nächs­te und letz­te Irri­ta­ti­on, Gor­bat­schows Reden und Auf­trit­te, die all­zu schö­nen Illu­sio­nen von Glas­nost und Pere­stroi­ka, nun gäbe es einen Neu­be­ginn in einer Art Freiheit.

Das Absur­de nun wie­der dar­an: Die­se Illu­sio­nen soll­ten dem Sozia­lis­mus, der eben nicht so aus­sah, wie er sein soll­te, die Hoff­nung und den Opti­mis­mus zurück­ge­ben, indem, so der neue Mann in Mos­kau, ein­fach kon­se­quent auf Lenin und des­sen Idea­le zurück­zu­grei­fen wäre, aber:

Gera­de in Lenins Zeit war die­ser Sozia­lis­mus genau der Alp­traum, den man uns ver­schwie­gen hat­te. Und prompt hol­ten uns Jun­ge, wie aus den Grä­bern der Geschich­te geru­fen, die alten Gespens­ter ein. Es stell­te sich her­aus, daß das, was Sols­he­ni­zyn beschrie­ben hat­te, eben kein „hys­te­ri­scher Anti­so­wje­tis­mus“ war, son­dern die har­te Wahr­heit. Für uns ein Schock. Die alp­traum­haf­ten Ver­bre­chen des Sozia­lis­mus lagen in den Genen sei­ner Ideologie.

Der letz­te Trug­schluß bestand dann noch dar­in, daß Sta­lin nichts mit Lenin zu tun hat­te, daß er eine Art Anti-Lenin gewe­sen wäre, vor dem die­ser pas­sen­der­wei­se noch gewarnt hat­te, aber das Gegen­teil stell­te sich als Wahr­heit heraus:

Ohne Lenin kein Sta­lin, ohne bei­de kei­ne schon damals erfolg­te tota­le Dis­kre­di­tie­rung des sozia­lis­ti­schen, gar kom­mu­nis­ti­schen Gedan­kens. Mag aber sein, es gab noch eine aller­letz­te Illu­si­on, jene, die bis heu­te fort­lebt und raunt, es hät­te gar einen ganz ande­ren Sozia­lis­mus geben kön­nen, einen demo­kra­ti­schen, einen – was für ein Lap­sus! – mit mensch­li­chem Ant­litz. – Eben nicht! Lei­der. Nur die­sen. Aber das ist eine ande­re Geschichte.

Unse­re Geschich­te ende­te mit dem Gejoh­le unse­rer Lands­leu­te im Gar­ten der Pra­ger Bot­schaft, wo sie dar­um bet­tel­ten, end­lich, end­lich in den Wes­ten gelas­sen zu wer­den. Was ihnen Hans Diet­rich Gen­scher dann vom Bal­kon aus, getaucht in eine Glo­rio­le aus Schein­wer­fer­licht, gestat­te­te. Das sah nicht nur wie die Eröff­nung eines neu­en Shop­ping-Cen­ters aus, es war genau das. Wir alle wur­den Pro­fi-Shop­per und dem Welt­markt end­lich zugeschlagen.

Damit ende­te die Geschich­te der Ost-Boo­mer, die sich dann den West-Boo­mern zuge­sell­ten, die zah­len­stärks­ten Kohor­ten, nun­mehr ver­eint, aber ein­an­der doch ziem­lich fremd.

Wir aus dem Osten blei­ben – unver­gnatzt – doch irgend­wie die ande­ren, wir wur­den der Bun­des­re­pu­blik nun mal nicht zuge­bo­ren, son­dern ihr ange­glie­dert, daher min­des­tens in Tei­len unse­res Befin­dens gewis­ser­ma­ßen deut­sche Asy­lan­ten in einem sich dezi­diert nicht mehr als Nati­on emp­fin­den­den Deutsch­land, das ja ohne­hin zu einer Asy­lan­ten­re­pu­blik avancierte.

Wir wur­den kei­ne neu­li­be­ral emp­fin­den­den Kos­mo­po­li­ten, kei­ne ech­ten Kunst- und nicht mal Wein­ken­ner. Die affek­tier­te Rede über Feuil­le­ton-The­men lag uns so fern wie der Zwang, im Small-Talk als ers­ter das cools­te Bon­mot raus­hau­en zu müs­sen, um geist­reich zu wir­ken. Wir blie­ben Pro­vin­zia­lis­ten jen­seits des von unse­ren West-Alters­ge­nos­sen beschwärm­ten metro­po­li­ta­nen Daseins. Wir kon­stru­ier­ten die klei­nen Ver­hält­nis­se unse­res Lebens; alle modi­sche Dekon­struk­ti­on hin­ge­gen lag uns fern, hat­ten wir doch unse­re Ursprungs­si­cher­heit verloren.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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Kommentare (71)

Maiordomus

22. September 2022 11:46

Dieser Beitrag, von echtem Quellenwert, "legitimiert" diese Seite in überproportionalem Ausmass; abgesehen von der Meinungs- und Gedankenfreiheit, letzteres ein schönes Wort von Friedrich Schiller aus "Don Carlos", Natürlich gibt es noch andere, (sage nicht von selbst ") wichtigere" Debatten als die um guten oder weniger guten Romanstil. Immerhin ist Bosselmann Phonophor-Autor. Etwas in schriftlicher Form zu sagen haben, bedeutet zunächst natürlich, dass einer schreiben kann. 

Der Sinnierer

22. September 2022 12:09

Ein schöner, wahrer, naturgemäß auch trauriger Text - die DDR als untergegangene alte Welt (die ich nie als Spätergeborener erleben durfte). Diverse sozioökonomische Daten seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts deuten darauf hin, daß wir im Westen einfach zuviele Menschen für all die Arbeit hatten - die Robotisierung und Technologisierung ließen immer mehr Menschen unwichtig und damit unnütz werden. Was wir also erleben mußten war, daß immer mehr dieser Menschen zunehmend Arbeiten ohne Sinn nachgingen (im Englischen als "bullshit jobs" durch David Graeber popularisiert). Mittlerweile wird geschätzt, daß mehr als 40% aller Arbeitsstellen solche sinnlose Tätigkeiten sind und auch innerhalb sogenannter sinnvoller Arbeiten der Prozentsatz des Sinnlosen stetig zunimmt. Es gibt also im Westen einfach immer weniger die Notwendigkeit des echten Mannes oder des Alleskönners, und selbst die gute Hausfrau wird weitestgehend von Technologie (bis hin zum Fernseher, der als Aufpasser zum gesundheitlichen Nachteil der Kinder mißbraucht wird) ersetzt. Wenn echte Arbeiter gebraucht und nicht im Westen gefunden werden, werden sie eben importiert. Daher muß die Erziehung der Westjugend auf Unnützes gerichtet sein, denn die meisten von uns arbeiten in unnützen Berufen - entsprechend klingt natürlich Ihre Jugend, Herr Bosselmann, wie aus einer anderen, einer technologiearmen Zeit, in der tatsächlich noch jeder gebraucht wurde. 

Umlautkombinat

22. September 2022 12:16

"wir Jungen wußten mindestens die AK-47 zu handhaben, noch bevor wir überhaupt in die Streitkräfte eingetreten waren."

Also ich bekam die erste bei der NVA in die Hand. Die GST hatte sie nicht, die vormilitaerische Ausbildung auch nicht. Es gab aber wohl einen Kleinkaliber-Clone (vom Hoerensagen).

 

Herr K aus O

22. September 2022 12:43

Tja. Nicht alle im Westen waren „Söhne“, gab auch dort Leute weiter unten. Der materielle Erfolg, der soziale Aufstieg dieser Menschen basierte, kaum zu glauben, auf Leistung und nicht auf Haltung. Und selbst jetzt sehe ich im (IT-)Job keinen, der über ein Wokeness-Ticket mehr als einen warmen Händedruck bekommt. Nicht alle arbeiten als Kuratoren in irgendeiner Stiftung.

Und dass sich eine Nation abschaffen möchte, bezweifle ich, wenn es diese gar nicht gibt. Und wie konnte die in einem getrennten Land gedeihen?

Bisschen viel Lamento. Ich habe u.A. Berlin auch verlassen, weil ich keine Lust auf irgendeine DDR Apotheose hatte. Und die bekam ich ausreichend von meinen Ost-Kollegen serviert, dort nicht so stilvoll, aber immer mit Vorwürfen verbunden.

Maiordomus

22. September 2022 12:57

An den jungen @Sinnierer. Was für Hürlimann das repressive Internat, ohne das er nicht geworden wäre, was er heute noch ist, scheint für Bosselmann und seine einfühlsamsten Leser mit seinem Hintergrund die DDR gewesen zu sein. 

RMH

22. September 2022 13:07

"Unten, wo gearbeitet wurde, lief’s ideologiefrei: Man leistete, was notwendig ist. Zementmischung brauchte keine Politik. .. Leistung lohnte sich nicht immer, zählte aber. Ein echter Kerl war, wer ranklotzen und was schaffen konnte und wer damit was verdiente"

Diesen Menschenschlag gibt es immer noch, man findet ihn bspw. am Sonntagabend oder Montags ganz früh in den weißen Transportern, in denen es "auf Montage" oder zum Trockenbau etc. geht. Diese Leute schaffen ran. Sie würden niemals so etwas schreiben, wie H.B., selbst wenn sie es formulieren könnten. Letzten Samstag habe ich wieder welche davon in einem thüringischen Städtchen auf ein Bier getroffen. Die Vergangenheit scheint für sie keine solchen Verletzungen erzeugt zu haben, auch wenn sie mit Anfang 50 alle eher wie Mitte/Ende 60 aussehen.

Herbstwind

22. September 2022 13:19

Ich sehe hier kein Lamento, sondern einen großartigen Eiinblick in das Empfinden und Erleben der gemeinsamen deutschen Geschichte auf der anderen Seite der Mauer. Vielen Dank dafür.

"Komfort ist weniger wichtig als Hoffnung. Diese fehlt heute, während wir an jenem übersatt sind" 

Ein Satz, der die Misere der letzten Jahre (Jahrzehnte) in wenigen Worten bündelt. 

Umlautkombinat

22. September 2022 13:22

"Bisschen viel Lamento.[...] keine Lust auf irgendeine DDR Apotheose"

Kann man so sehen (der Bosselmann bekommt hier auch immer einmal Feuer deswegen), aber der eigene Gesellschaftsbruch ist ja noch nicht durch. Dann sehen wir einmal.

Umlautkombinat

22. September 2022 13:37

"Diese Leute schaffen ran. Sie würden niemals so etwas schreiben, wie H.B., selbst wenn sie es formulieren könnten. Letzten Samstag habe ich wieder welche davon in einem thüringischen Städtchen auf ein Bier getroffen. Die Vergangenheit scheint für sie keine solchen Verletzungen erzeugt zu haben"

Oberflaeche. Als ich regelmaessig im Westen Deutschlands anfing zu arbeiten - Ende der Neunziger, Muenchen - da fuhren diese Transporter schon mit mir auf der Autobahn. Auch damals schon viele Fuenfziger - fast meine Elterngeneration - meist aus der Lausitz. Heute sind des die Kinder, sofern nicht schon "drueben". Ich habe die aber eben auch in der Familie. Und da sind die Meinungen zur Vergangenheit doch deutlich differenzierter als oebn angenommen. Auch Bosselmannsches Gedankengut gehoert selbstverstaendlich dazu.

 

dojon86

22. September 2022 13:43

@Der Sinnierer 12:09 Dass die technologische Entwicklung Arbeit überflüssig gemacht hat, halte ich für eine urban legend. Es ist eher so, dass fast die ganze Produktion aus Westeuropa ausgelagert würde. Das heißt konkret, die Arbeiter gibt es noch, aber sie arbeiten (billiger) woanders. Ich empfehle ihnen einmal folgendes zu unternehmen. Suchen sie bei technischen Produkten noch nach einem, wo " Made in Germany" draufsteht. Selbst dort. wo das noch draufsteht, wurden die Einzelteile nur mehr in der Welt zusmengekauft. Selbst in den 90ger Jahren war das schon oft (z. B. bei meiner BMW R 100 R der Fall. Z.B. war die komplette Hinterradaufhängung Made in Japan

brueckenbauer

22. September 2022 14:20

Es ist ein bisschen so ein Problem von Bosselmann, dass er selten beim Ich bleiben kann, sondern lieber Repräsentant von irgend etwas Größerem sein will. Aber wer gehört denn eigentlich zum Bosselmannschen "Wir"?

Michael Klonovsky z.B. sicher nicht. Der ist ebensogut ein DDR-Boomer, hat aber gar keine Probleme damit, "coole Bonmots" rauszuhauen. Der eine kann's; der es nicht kann, sagt: Das ist nicht, was wir sind.

Dieses "Das ist nicht, was wir sind" - hat man das nicht schon bei Obama gehört? Ist das nicht Politikersprache von heute? Wo geht deskriptive Beschreibung in normative Propaganda über?

Adler und Drache

22. September 2022 14:29

Ich bin etwa 10 Jahre jünger als HB und habe diese positive, vorwärtsgerichtete Energie nicht mehr gespürt. Meine Empfindungen gehen eher in Richtung bleierne Decke, sozialistisches fin-de-siecle, Kulissenveranstaltung, hilflos-verschwitztes Behaupten, rituelles Überspielen der Auszehrung. 

Dieses Verharrenmüssen in der staatlich verordneten Depression, diese Hoffnungslosigkeit, diese schicksalhafte Bewegung entlang des abfallenden Asts ist wirklich ein Graus. Man kann es nur hinnehmen, aber darf es nicht annehmen. 

Übrigens, der Winter 89 war der letzte, in dem der DDR-Staat die Energieversorgung der Bevölkerung noch garantieren konnte. (Kann ich jetzt nicht belegen, ist mir aus einer Dokumentation in Erinnerung.) Ein Jahr später gab es ihn nicht mehr. 

Gracchus

22. September 2022 14:45

Natürlich interessant zu lesen, wie jemand wie Bosselmann die Zeitläufte erlebt hat. Ich war zur Wende-Zeit noch minderjährig und Sozialist; die DDR-Abwicklung und Wiedervereinigung hätte ich mir damals etwas anders gewünscht. 

Es schwingt - ob beabsichtigt? - bei Bosselmann viel Bitterkeit mit. Bosselmann scheint auch heute noch uneins, "bipolar" (also in seinem Gebrauch des Wortes). 

Das BRD-Bild ist überzeichnet. Zwar gab es in den 90ern ein relativ viel gespieltes Stück "Shoppen und Ficken", und die Fanta4 sangen "Zu geil für diese Welt", und es setzte eine Art Goldgräberstimmung ein, und Norbert Bolz verfasste das konsumistische Manifest. Aber das ist nur ein Oberflächenbild, der Schaum der Tage. Um Profi-Shopper zu werden, benötigte man dennoch Geld; ich habe, durchaus privilegiert, mehr gejobbt als geshopt. 

 

Nemo Obligatur

22. September 2022 15:40

Das ist mir jetzt zu viel "wir und die", zu sehr Weltgeschichte mit der Biographie von HB kurzgeschlossen. "Bosselmann, das können Sie besser!" will man sagen. 

Als ob alle "Westler" so klischeehaft mallegebräunt gewesen sind und alle "Ostler" nach kaltem Schweiß rochen. Vieles davon sind die Unterschiede Stadt-Land, Damals-Heute. Es fehlt eine ganze Spannbreite der menschlichen Existenz. Man könnte nochmal der Turm lesen, dann sähe man ein gehobenes Dresdner Bürgertum, das auch noch im Sozialismus den kleinen Finger abspreizte beim Teetrinken. Dass Tee Mangelware gewesen ist, widerlegt ja nicht das Abspreizen. Die Menschen sind eben so und können nicht aus ihrer Haut.

Unser Land in unserem "Epöchlein" (M.Klonovsky) wäre ja noch zu deuten. Einerseits technisch lange Jahrzehnte an der Spitze und heute noch für Patente und Goldmedaillien gut. Andererseits auf Verschleiß gefahren (Ost wie West). Dabei noch so produktiv, dass wir Gleichstellungsbeauftragte und Hartz-IV-Migranten mit durchschleppen. Na, was soll's. Irgendwann ist es vorbei. Vielleicht noch nicht heute, doch kommt es mir vor, als könne man das Ende von hier aus schon sehen.

RMH

22. September 2022 16:14

"Das BRD-Bild ist überzeichnet." Gracchus

Es ist vor allem falsch. Es gab den berühmten Strukturwandel mit hohen Verlusten an Arbeitsplätzen seit den 70er Jahren (einhergehend damit: hohe Jungendarbeitslosigkeit - davon müssten gerade DDR Bürger etwas mitgebkommen haben, da die DDR natürlich in den 80er Jahren gerade diese Probleme der BRD ständig hervorgehoben hat. Das war keine bloße Propaganda, sondern hatte einen wahren Kern), unter Akademikern gab es auch Arbeitslosigkeit, selbst unter Ingenieuren, was man sich heute nicht mehr so recht vorstellen mag bzw. verdrängt hat. Die Absolventen, die nach dem Abschluss als Dipl. Ing. umgeschult haben bzw. deren Arbeitslosigkeit andere von der Aufnahme eines solchen Studiums abgeschreckt haben, fehlen seit 2000 bis heute. Hier ein Artikel aus 2001:

https://www.tagesspiegel.de/kultur/akademikerschwund-die-signale-vom-arbeitsmarkt-sind-entscheidend-763966.html

Was die Schilderung von DDR Verhältnissen angeht, mag man H.B. zurufen, Schuster, bleib bei Deinen Leisten, bleib bei der Erzählung von der DDR, davon hast Du Ahnung. Von der sog. "BRD" hat Herr B. keine Ahnung und er gibt zu viele Stereotype und Zerrbilder in seinen Vergleichen wieder. Von daher: Einfach den Vergleich weglassen.

Laurenz

22. September 2022 16:16

@HB (1)

Schade, daß Sie 2 oder 3 Artikel in einen gepackt haben, dadurch verliert er Wirkung & er wird zu lang. 

Mein Volksschullehrer tat etwas ähnliches wie Ihre Lehrerin, hatte Ihn etwa zur selben Zeit in 4 Jahren Volksschule. Nach meiner 4. Klasse ging er mit 65 in Rente, im Krieg war er als Fernmelder auf dem Brocken. Meine Klasse in der Uhlandschule zu Frankfurt am Main hatte 26 Schüler, 4 durften auf das humanistische Heinrich-von-Gagern-Gymnasium (vormals eine Jungenschule), die beste, mit der ich befreundet war, den Kontakt aber leider verlor, ging auf die Herder-Schule, ein Realgymnasium (vormals Mädchenschule). Etwa 1982 besuchten wir zu viert unseren Lehrer auf seinem Altersruhesitz bei einem seiner Söhne in Fulda & um uns nochmals zu bedanken.

Was den Sport in der DDR angeht, so ging die Förderung des Leistungssports zu Lasten des Breitensports. Erinnere Sie an die Olympiade in München 1972, ist 50 Jahre her. 8 deutsche Läuferinnen in der 4x100 Meter-Staffel liefen an der Weltspitze in einer heute immer noch konkurrenzfähigen Zeit. Wenn ich mir das heute anschaue, läuft es mir immer noch eiskalt den Rücken runter. https://youtu.be/_II8tTVQ9LQ

einem Dilemma, denn während die Welt unserer Altersgenossen im Westen fortbestand, ging unsere 1989/90 unter.

Die Schuld an diesem Dilemma lag neben der DDR-Führung vor allem bei der sowjetischen Führung, die sich ab 1978, zu aller Deutschen Leidwesen, nicht an China orientierte. Gorbatschow war diesbezüglich der große Versager.

Der Sinnierer

22. September 2022 16:53

@Maiordomus: Herr Bosselmann ist ein wunderbarer Schriftsteller und Denker, aber tatsächlich bedingt durch den gegenwärtigen Systemuntergang mit entsprechend in vielen von uns ausgelösten physischen und psychologischen Fluchttendenzen etwas nostalgisch in der DDR unterwegs. Soweit ich das als halbjunger Wessi, der zeitweise in Mitteldeutschland nach der Wende lebte und mit einer Sächsin eine Handvoll Kinder habe, beurteilen kann, war tatsächlich vieles gut an der DDR.

@dojon86: Sie stellen sozioökonomische Thesen auf, die von der Evidenz nicht nur meiner bescheidenen Meinung nach, sondern auch die vieler Wissenschaftler wie z.B. dem erwähnten David Graeber gemäß nicht gedeckt sind - mit anderen Worten gibt es auch in den hinverlagerten Ländern Polen, China, Zentral- und Südamerika zunehmend unwichtige Arbeitsstellen. Aber Sie haben natürlich recht, daß das Teil des Problemes ist, wobei die Technisierung hier an erster Stelle als Ursache steht und die Lösung denkbar einfach wäre: Eine 15-Stundenarbeitswoche. Außerdem haben Sie recht: Die Produkte werden nicht mehr bei uns in Deutschland/Westeuropa hergestellt, sondern im besten Fall entwickelt und dann als Endprodukt zusammengeschraubt. Aber nun ja, Finis Germania(-e) bzw. Europa(-e), wie schon vor Jahren vom leider verstorbenen Rolf Sieferle konstatiert...

AndreasausE

22. September 2022 16:58

Keine Ahnung, ob das zum guten Text passend ist: Ich war Kleingärtner, natürlich Öko, preisgekrönt wegen meines dicken Kürbisses, sogar Zeitungsartikel gab es dazu. Und selbstredend machte ich auch stets bei Gemeinschaftsarbeit mit.

Aber dann kam der Neid, Neid, weil ich super Ernten hatte, Neid weil ich meiste Frösche im Teich hatte, Neid weil ich, da Madame völlig desinteressiert, im Garten machen konnte, was ich wollte.

Aber die gesamte Knüppelarbeit, die hatte ich eben, und hab das gern gemacht.

Verflucht sei das Lumpengesindel, was mich dort rausgemobbt hat!

Gracchus

22. September 2022 18:47

@brueckenbauer: Über das (Boomer-) "Wir" bin ich auch gestolpert.

Peter Hacks und Heiner Müller haben ja auch coole Bonmots rausgehauen; und Müllers Hamletmaschine ist postdramatisch-postmodernistisch wie sonst was. 

Ich würde fast die Gegenthese aufstellen und behaupten, dass das Interesse an Dekonstruktion durch die Wende neue oder erste richtige Blüten getrieben hat - gerade aus dem Unsicherheitsgefühl. Hinzu kam in den 90ern die DJ-Kultur. Im Übrigen: man sollte auch mal den Begriff Dekonstruktion klären.

@RMH: Na, ich dachte, HB bezieht sich auf die 90er. 

@nemo obligatur: ja, auch mir erscheint das Bild etwas holzschnittartig. 

 

Herr K aus O

22. September 2022 18:58

@Umlautkombinat: Schauen wir mal, wie wir uns mit dem jetzigen Gesellschaftsbruch schlagen. Die explosionsartig steigenden Energiepreise sind für die „Westfirmen“ wie die Einführung der Westmark in der DDR. So, wie es aussieht, können viele Firmen das nur durch „Strukturanpassungen“ meistern: Sie gehen entweder pleite oder gehen ins Ausland.

Demian

22. September 2022 21:01

Mein Vater ist ein solcher ostdeutscher Handwerker, der direkt nach der Wende in Stuttgart und Umgebung auf Montage war.
Er berichtete schon weit vor 2014/2015, als man in der ostdeutschen Provinz noch  unbehelligt von Bereicherung war, was er dort erlebte (migrantische Gewalt, Parallelgesellschaften etc.) und zog seine politischen Schlüsse daraus. Besonders interessant fand ich, dass er meinte, das Ostdeutsche damals gefühlt weniger Wertschätzung erfahren haben als Türken und "die Wessis" diese ja "liebten". Man war quasi Person dritter Klasse. Dies nahmen seine Kollegen und er einhellig so wahr. Von Verbundenheit keine Spur. Eher der lästige zurückgebliebene kleine Bruder.
Natürlich nur von anekdotischer Evidenz. Volksverbundene Westdeutsche werden das sicherlich anders gesehen haben. Im Übrigen war er sehr glücklich über die Wiedervereinigung.

Dr. Christoph Berndt ist für mich der stereotypische Inbegriff des  bescheidenen ehrlichen Ossis, der sich die Butter manchmal von weitaus ungebildeteren/ weniger kompetenten Selbstdarstellern vom Brot nehmen lässt. Eigentlich sympathisch. Mehr sein als scheinen ist aber leider nicht allzu en vogue.

RMH

22. September 2022 21:56

@Demian,

die Schilderung Ihres Vaters halte ich für keinen Einzelfall. Über "Ossis" Witze machen oder diese für blöd verkaufen, war/ist leider nichts ungewöhnliches (wobei die Stuttgarter ohnehin nochmal ein ganz besonderes "Völkchen" sind - mir machte die Arbeit dort nie Spaß. Sind eigentlich Stuttgarter/ echte Schwaben hier bei den Debattanten dabei?).

Ich kann mich noch gut erinnern an Herrn Dr. B, Arzt, der 1989/90 eine Bürgerinitiative gegen den Umtausch der DDR-Währung in die DM startete und das für den Untergang der Wirtschaft Deutschlands und den Start in die Inflation hielt, also in etwa das, was dann auch bei der Einführung des Euro von manchem gewarnt wurde. Die Wirkungen dieses "Umtausches" war dann aber nur in zweiter Linie, dass mancher DDR Apparatschik mit guten Quellen sich gesund stoßen konnte, als vielmehr, dass mit der Einführung der DM die DDR Wirtschaft mit einem Schlag nicht mehr konkurrenzfähig war. Aber wie hätte man bspw. die von Lafontaine geforderte Sonderwirtschaftszone einrichten können, ohne dass es zu einem substantiellen Fortzug der Bevölkerung aus der DDR gekommen wäre? Kommt die DM nicht zu uns, kommen wir zu ihr, war damals eine populäre Forderung im Osten.

Im Nachhinein ist es hätte, wäre, wenn ... jetzt ist es so, wie es ist und alle haben den immer mehr abstürzenden Euro (man sitzt so langsam dann doch im selben Boot).

 

nom de guerre

22. September 2022 22:37

@ HB

„Im Klischee: [...] gediegene Biographien im goldenen Westherbst des Kalten Krieges.“

Auch wenn Sie selbst schreiben, diese Darstellung des West-Boomers sei ein Klischee, wäre es meiner bescheidenen Ansicht nach sinnvoll, solche Verallgemeinerungen zu vermeiden. Bin versucht, diesen Absatz meinem Vater zu schicken, wenige Jahre älter als Sie. Aber vielleicht lieber nicht. Womöglich lacht er sich tot.

Ihre Beschreibung Ihres subjektiven DDR-Lebensgefühls finde ich durchaus interessant, wie die meisten Ihrer Texte, wenngleich mir die Atmosphäre fast immer fremd ist. Trotzdem: Über die alte Bundesrepublik sollten Sie m.E. besser schweigen. Wenn ich mich im Umfeld meiner Eltern, soweit mir bekannt, umschaue, fällt mir überhaupt niemand ein, der so eine glatte und, so wie es der oben zitierte Absatz nahelegt, im Ergebnis anstrengungsfreie Karriere gemacht hätte. Studiert haben einige von denen sehr wohl. Aber es war ihnen weniger in die Wiege gelegt und sie wurden nicht derart gepampert, wie Sie zu glauben scheinen.

Simplicius Teutsch

22. September 2022 23:11

In leichter Abwandlung des ersten Satzes von @ Sinnierer, 12:09, mein Kommentar:

Ein schöner, subjektiver, auch trauriger Text – die DDR als untergegangene alte Welt (die ich als Wessi nicht erleben musste, sondern nur von außen sah).

Für mich als Wessi manifestierte sich der Charakter des Staates DDR in erster Linie in der Todesmauer durch Deutschland, in der dreckigen Stasi, in der Unterdrückung von politischer Opposition und in den aggressiven, bornierten, gefährlichen Volkspolizisten.

Trotzdem habe ich wohlwollendes Verständnis für die echt gut geschriebene Art der Reminiszenz und Trauer von Heiner Bosselmann. Es war sein Leben.

Mauerbluemchen

22. September 2022 23:31

@Demian

Es gibt keine volksverbundenen Altbrdler, sondern nur stolze Umerzogene oder  - wie der odessitische Geigenlehrer meiner Jugend gar meinte - rituell verhexte Anhängsel der Sieger-der-Geschichte.

Ich befinde mich seit mehr als 50 Jahren im güldenen Westen und bin bis auf GK/EK keinem einzigen volksverbunden brd-Deutschen begegnet. Gott weiß, was die Sieger-der-Welthistorie mit der ihnen zugefallenen Beutebevölkerung alles an Sozialtechnik, Psychoklemptnerei, Gehirnwäsche und Geldduschen angestellt haben, daß jeder Exot, halbseidene Aushilfsgauner und bunte Nichtsnutz den sozialtechnisch Umgerüsteten unvergleichlich mehr bedeutet als die eigenen Landsleute im zutiefst verachteten "Osten". Dies ist bis heute der Fall, wie ich es heute noch von brd-Deutschen, die mich für ihresgleichen halten, bei entsprechenden Anlässen völlig ungeniert zu hören bekomme.

Carsten Lucke

22. September 2022 23:32

" Liebe Ausländer, bitte laßt uns nicht mit diesen Deutschen allein ! "

Im Osten (legal, riesig und vielfach) plakatiert kurz nach der Wende.

Da schwante mir spätestens, daß wir uns auch Scheiße eingehandelt haben könnten.

Daß es aber - anders als der Sozialismus - eine unheilbare Krankheit war ... !

 

Laurenz

22. September 2022 23:35

@RMH @Demian

Ost- & Deutschmark

Natürlich hätte man die Ostmark zu Fakturierung von Dienstleistungen & Gütern nicht abschaffen dürfen. Die Ostmark hätte automatisch nach & nach aufgewertet. Nichtdestotrotz hätte die Bundesrepublik Deutschland mit Unterstützung der Bundesbank locker alle Gehälter & Sparguthaben bis 20.000 Ostmark pro natürlicher Person 1:1 in Westmark tauschen können, alles was darüber ist, 1:10. Was Eigenkapitalausstattung von Ostbetrieben etc., also juristischen Personen angeht, hätte man ein detaillierte Lösung finden können. Jeder Ost-Betrieb hätte damit die Divergenz zwischen Einnahmen in Ostmark & Kosten in Deutschmark mit alten Vertragspartnern vor Augen gehabt & selbst entsprechende Maßnahmen & Entscheidungen treffen können. Aber das wäre billiger gewesen, als was alle ABM-Maßnahmen & gebrochenen Karrieren im nachhinein gekostet hatten. Bei der damaligen Währungsunion hatte ich selbst eine Zahlung von 55 Mio. Deutschmark (zuvor 110 Mio. Ostmark) zur Anlage nach London als Mitarbeiter einer Großbank gesehen. Wer hatte denn in der DDR 110 Alumark auf der hohen Kante?

Ordoliberal

23. September 2022 02:16

Es ist doch vollkommen gleichgültig, ob Bosselmann die gesellschaftlichen Milieus im Westen oder Osten "korrekt" darstellt oder ob er ein ominöses Wir beschwört, mit dem sich andere Ostdeutsche nicht identifizieren können. Es ist auch egal, ob sein Ton melancholisch oder "lamentierend" ist. Es ist sein Ton. Er hat eine eigene Sprache, einen eigenen Sound, er schreibt über seine Welt und scheidet dabei nicht sauber zwischen Innen und Außen.

Aber muss er das denn? Geht das überhaupt? Ich lese ihn jedenfalls genauso gern wie Klonovsky, beides Repräsentanten einer untergegangenen Welt, mit unterschiedlichen Lebensläufen, Erfahrungen, Werten, Schlussfolgerungen. Was sie gemeinsam haben ist eine Sprache, die ihre Persönlichkeit, ihr Sein, die ihnen zugemessene Lebensqual ausdrückt.

Liest man Max Frisch über die Ehe und das Altern, möchte man sich eine Kugel durch den Kopf schießen. Ist er deshalb ein schlechter Schriftsteller? Thomas Manns Gedanken zu Geschichte und Politik halten keiner Prüfung stand. Sind deshalb Settembrini, Naphta und Peeperkorn ausgedachte Figuren? Der "Zauberberg" ein zeitverhafteter Roman? Sollen doch die Brechts so denken. Ich halte es mit Benn: Die Leere und das gezeichnete Ich.

Laurenz

23. September 2022 07:28

@Mauerblümchen @Demian

befinde mich seit mehr als 50 Jahren im güldenen Westen und bin bis auf GK/EK keinem einzigen volksverbunden BRD-Deutschen begegnet.

Sie sind eben nie Franz Bettinger oder mir begegnet. Ich behaupte, das hat auch mit Ihnen Selbst zu tun. Wenn Sie Sich Selbst nicht für Volksverbundenheit interessieren, suchen Sie auch keine Orte auf, wo sich Volksverbundene aufhalten. Mit 2 volksverbundenen Freunden besuchte ich zur Wintersonnenwende 1996 den Eggestein (Externsteine). Dort traf ich einen volksverbunden Macher am Lagerfeuer unter dem Sonnensaal bei -8 Grad, Schnee & (Fast-) Vollmond, durch den ich in der Folge hunderte Volksverbundene kennenlernte. Wenn Sie als Fußball-Liebhaber des BVB immer nur Volleyball-Spiele besuchen, werden Sie nie Fußball-Liebhaber treffen. Treten Sie in die AfD ein. Da sind zwar nicht nur Volksverbundene, aber auch & zwar außerhalb von Schnellroda.

RMH

23. September 2022 09:11

"sondern nur stolze Umerzogene"

@Mauerbluemchen,

I.

Umerziehung ist ein typischer bullshit-bingo-Begriff. Spätestens die Jahrgänge ab 1940 wurden schlicht erzogen. Durch Eltern, Familie, Umfeld und staatliche Institutionen. Die staatlichen Institutionen haben - egal in welchem System - natürlich ihre Agenda durchgesetzt, so wurden die Menschen in der DDR eben zu sozialistischen Menschen erzogen, wobei die DDR es einfach hatte, da es sozialistische Werte seit dem protestantisch-preußischen Dienstbegriff über den NS hinweg gab. So ist Ihr Beitrag, wie der von H.B., natürlich auch Ausdruck einer sozialistischen Erziehung, oder, falls sie zu jung dafür sind, einer romantisierenden Wunschvorstellung, was/wie dieses oder jenes eben gewesen sei. Zu einer kritischen Selbstreflexion gehört dazu, dass man erkennt, dass der Staat mit seinen vereinnahmten gesellschaftlichen Gruppen (= die wahre Def. von "tiefer Staat") in den allermeisten Fällen nichts wirklich Gutes, allgemein die Menschheit Förderndes im Sinn hat.

RMH

23. September 2022 09:15

@M.bluemchen

II.

Der intellektuelle Typ EX-DDR Bürger unterliegt dabei regelmäßig der Selbsttäuschung, dass er wegen seines Lebens in der DDR und der in der DDR auch offen gezeigten staatlichen Repression und wegen 89 natürlich der Schnellchecker in Sachen staatlichem Missbrauch sei, was bei einem Punkt, wie bspw. der Oberflächlichkeit von Propaganda natürlich zutreffend ist. Die tieferen Strukturen seines sozialistisch erzogenen Ichs blendet er aber viel zu oft aus. Wenn aber stets die "Besser-Ossi" Karte gespielt wird, weil man ja angeblich "Preußen" und "Deutsches" erhalten habe oder Gemeinschaftsgesinnter sei, so erkennt man daraus die unreflektierte Grundstruktur von sozialistisch Erzogenen. Gut, viele Rechte verwechseln Sozialismus mit Rechts, aber dass darf man dann nicht in Platituden von Ost versus West spielen, denn das ist unreflektiert.

Demian

23. September 2022 13:24

@Laurenz

Das denke ich doch auch, dass sich da vernünftige Leute in den alten Bundesländern finden lassen und ließen. Ob elitärere Kreise um Burschenschaften, militärische Kreise (Kalbitz, Felser, Kubitschek etc.) oder eventuell eher "kleinere Leute", die sich früher zu der Partei mit dem N am Anfang hingezogen fühlten.

An der DDR gefiel meinem Vater eigentlich nur, dass diese einen "immerhin" nicht austauschen wollte, sich als Deutsch verstand und resolut durchgegriffen hat bei Vertragsarbeitern, die sich nicht benahmen und Ordnungsverstößen anderer Art.
Zudem war die Propaganda so schlecht, dass jeder wusste, woran er war.

Demian

23. September 2022 13:25

II

Eventuell etwas off topic, aber da die Bullshit-Jobs angesprochen worden:

Ich schäme mich offen gesagt, wenn ich im Büro sehe, wie subtil abschätzig Handwerker behandelt werden, wenn sie etwas reparieren und die Bürohamperer, derer ich auch einer bin, beschäftigt tun, während sie auf Spiege Online surfen oder auf das nächste überflüssige Selbstdarstellermeeting warten, für ein Tool, das eigentlich niemand braucht.
Während diese dabei noch fürstlich verdienen, kotzt sich der kaputtgebuckelte Handwerker im derberen Ton auf Facebook darüber aus wie unser Geld in alle Welt verteilt und zum Fenster herausgeschmissen wird und erhält drakonische Geldstrafen dafür. Pseudomoralische Schulmeisterei gibt es durch Zwangsabgaben noch on top.
Das ist ja alles nichts Neues. Dementsprechend stelle ich Handwerkern immer eine üppige Verpflegung bereit, wenn sie beispielsweise etwas bei mir zu Hause reparieren, was sich ja aber sowieso so gehört. Aber als begabtem Handwerker stehen einem ja wenigstens gute Zeiten bevor. Eine AfD, die nicht auch die hart und ehrlich arbeitenden Leute im Blick hat und die Nase vor diesen rümpft, ist für mich daher keine Alternative und im Wortsinn asozial.

Laurenz

23. September 2022 14:29

@Demian

Handwerker

Also hier im Hochtaunuskreis, das dürfte in Blankenese, Wannsee, der Kö oder am Ammersee auch nicht anders sein, werden gute Handwerker reich oder zumindest wohlhabend, da es nicht genügend gibt. Für die Masse der masterisierten Halbakademiker wird in Zukunft wohl wenig übrigbleiben. Wenn ich Handwerker brauche, rufe ich die direkt vor Ort, quasi bei mir um die Ecke, an, damit die meinen kleinen Auftrag nebenbei mal einschieben können. Aber hier hat es kein guter Handwerker wirklich nötig, kleine, nicht gewerbliche Aufträge anzunehmen.

Umlautkombinat

23. September 2022 15:13

Zum kleinen Ostbruder, zuerst etwas Geschichte:

DDR-Handwerker standen anders in der Hierarchie: Da es immer um den Austausch von Ressourcen physischer Art und gefragter ebensolcher Faehigkeiten ging, waren sie ziemlich weit oben angesiedelt. Einige fielen schon deswegen nach der Wende von einem ziemlichen Sockel, der durch die damals schon verbreitete Geringschaetzung derselben Dinge im Westen noch hoeher wurde.

Das ist 1). 2) ist, man muss nicht Opfer sein, es gibt eigene Stellhebel verschiedener Art: Qualifikation, persoenliche Dinge wie Resilienz, Humor(!), Offenheit, u.a.m.. Ich bin im IT-Projektgeschaeft, im Ausland, in Deutschland in fast jeder Ecke, zu Beginn und die letzten Jahre wieder hauptsaechlich Bayern und B/W. Dort allein habe ich etliche Jahre verbracht. Natuerlich wird man immer einmal auch hinsichtlich der Herkunft angetestet. Das kann man souveraen oder eben nicht souveraen  nehmen. Und das hat dann Folgen, im Ende kamen sie immer auch von allein zu mir. Wer Herkunft als zu grosses Rad dreht will oft auch andere Dinge damit zudecken. Sonst halte ich es mit @ordoliberal: Man muss nicht alles von Bosselmann auf die Goldwaage der Unterscheidung legen. Auch das Wir nicht, obwohl jede Menge Leute existieren, die das nach allen Regeln der Kunst eingeteilt haben moechten. Fruchtloser Versuch.

 

Monika

23. September 2022 16:34

Das ist ein sehr anrührender  Beitrag von H.  Bosselmann, der lange nachhallt und verschiedene Ebenen betrifft (Systemunterschiede, persönl.Kränkungen). In den 80er Jahren habe ich als „Westboomer“ aus beruflichen  Gründen viele Ostboomer (Ausreiseantragsteller, Pol. Häftlinge) bei ihrer Ankunft im „goldenen Westen“ erlebt. Das Büro d. Menschenrechtsgesellschaft lag im berüchtigten Frankfurter Bahnhofsviertel u. war für die meisten Ankommenden (aus der DDR, CSSR, Russland) oft ein Schock. Der eine wollte mal eine peepShow sehen, eine bürgerliche Dissidentin mal französisch essen gehen oder was sie dafür hielt. Das war dem Westboomer, dem „liberal empfindenden  Kosmopoliten u. Weinkenner“  mitunter peinlich, weil er nicht mehr zu bieten hatte. Freiheit u. Würde sind wenig materialisierbare Werte. Klonovsky tritt als Weinkenner auf, das finde ich eher liebens-  als beneidenswert. Wolfgang Hilbig trat eher proletisch auf, schrieb aber zarteste Posesie. Was besagt das letztlich? Sie schreiben, dass sie Ihre „Ursprungssicherheit“ verloren haben. Das empfinde  ich inzwischen als Gütesiegel für menschliche Reife! Danke für Ihre Texte.

Ordoliberal

23. September 2022 23:17

@RMH

Danke für Ihre Erinnerung an die oft übersehene Tatsache, dass der DDR-Sozialismus auf die gesellschaftliche Vorarbeit des "Preußischen Sozialismus" aufbauen konnte, wie es ja auch der Nationalsozialismus tat. Nietzsche hat einmal gesagt: "Das Christentum ist nichts weiter als ein Befehl von oben." Das gilt insbesondere für Deutschland. Kommt noch die protestantische Lustfeindlichkeit dazu, wundert es einen nicht, dass der Deutsche den klassischen Liberalismus à la von Mises und Hayek als eine bösartige Zumutung, ja als Sünde empfindet. 

Der Glaube an die Unterwerfung unter das "Gemeinwohl" als dem Inbegriff der Tugend ist dem Deutschen tief ins kulturelle Erbgut eingeschrieben. Die goldene Regel reicht ihm nicht. Wenn er schon nicht am "großen Ganzen" aufopferungsvoll mitarbeiten darf, will er wenigstens beweisen, dass er es könnte, wenn man ihn denn ließe. Auch bei Bosselmann spürt man den Asketenstolz des Verbannten, wenn er - liebenswert, aber entlarvend - von seiner Yogamatte und seinem Grüntee erzählt. Ist das sozialistisch? Ist das protestantisch? Ist das romantisch-innerlich? Ist das stoisch-rechts? Es ist vor allem eins: deutsch.

ede

23. September 2022 23:49

1)

Ich habe die DDR von Gründung bis zum Untergang miterlebt, aber das Bosselmannsche Bild erscheint mir völlig fremd. Sicherlich gab es DDR-Überzeugte. Aber auch wenn die Zeitungen voller Bekenntnisse waren, ich habe die ganzen 40 Jahre nur einen einzigen kennengelernt. Ein 18-jähriger, sehr sympatihscher Sportskamerad, der aus Überzeugung zur Stasi wollte.

Gelegentlich traf man auf desillusionierte "Gründungsüberzeugte". SED Mitglieder der ersten Stunde, alte Kommunisten, die Thälmann noch kannten, solche wie Biermann, oder die den großen Bruder in der letzten Kriegswoche verloren haben. Einer meiner Lehrer, grundgütiger Mann, der im Staatsbürgerkundeunterricht allen Ernstes verkündete, Lenin müsse immer mit goldenen Großbuchstaben geschrieben werden.

Sozialistisches hatte ich freilich auch im Sinn. Mit 22 wollte ich zwei Westberlinern klarmachen, dass Sozialismus das bessere Gesellschaftsmodell wäre. Die staatlich gelenkte Wirtschaft müsste doch viel effektiver funktionieren. Wozu soll es 1000 verschiedene Sorten Schuhe geben, 20 wären doch mehr als ausreichend. Diese Flipsideen hatte ich aber keineswegs mit dem Staat DDR positiv verknüpft (im Gegensatz zu den Intellektuellen, die nach der Wende noch immer einen dritten Weg wollten).

ede

23. September 2022 23:50

2)

Mein Leben in der DDR war glücklich. Aber nicht wegen, sondern ungeachtet des Staats. Die Systemmängel waren gewohnter Alltag, sie waren Heimat. Spruchbänder wurden nicht wahrgenommen, sie ärgerten mich deutlich weniger als die heutigen.  Wenn ich aktuell im Prenzlauer Berg bin denke ich gelegentlich wehmütig an die ehemals vertrauten, wunderbar grauen Fassaden zurück.

Ein normaler Ostdeutscher lebte zufrieden am Tag in der Mehltau-DDR, und am Abend im Westfernsehen, völlig egal ob Genosse oder nicht. Die Russen störten nicht weiter, die lebten da draußen in ihren abgelegenen Kasernen. 1945 und 1953 waren für mich weit weg.

Der "Westen", also die Bundesrepublik, war fraglos das attraktivere Geschäftsmodell. Von der Wende erwartete man sich allerdings nichts weniger als deutlich mehr Lebensglück. Die Erwartung war schlicht unerfüllbar. Dies, und zwangsläufige Verwerfungen bei der Verwestlichung führten zu den Wahlerfolgen der PDS.

Kurativ

24. September 2022 10:38

Der Unterschied zwischen Ost und West war oberflächlich. Im Westen sah es etwas schöner aus, weil die wirtschaftlichen Abläufe effizienter waren und weil man viel Geld reingesteckt hat. Aber beide Seiten waren fremdbestimmt. Nachdem die stärkere Seite gewonnen hatte, kann das Schaufenster West-BRD leergeräumt und abgerissen werden. Und die Treibstoffe müssen teuer von über den Atlantik gekauft werden.

Was macht es mit einem Volk, welches nun mehrere Generationen 100%ig fremdbestimmt ist? Resignation? Derzeit sieht es so aus

Umlautkombinat

24. September 2022 13:41

"Der Unterschied zwischen Ost und West war oberflächlich."

Im Gegenteil, er ist unter der Oberflaeche, wie der Artikel gerade zeigt. Fremdbestimmung korreliert, ist aber nicht zwingend kausal oder der einzige oder gar zwingend bestimmende Grund einer starken Unterscheidung. Generationen von Deutschen konnten sich in anderer Weise differenzieren, obwohl nicht fremdbestimmt. Oder meinen Sie, die Generation Adolf waere zur Generation Prae-1914 nicht sehr verschieden gewesen?

KlausD.

24. September 2022 15:08

@Monika  23. September 2022 16:34

" ... dass sie Ihre „Ursprungssicherheit“ verloren haben. Das empfinde ich inzwischen als Gütesiegel für menschliche Reife!"

Mit "inzwischen" meinen Sie wohl, er hat dieses Gefühl der verlorenen Ursprungssicherheit mittlerweile überwunden, ist gereift und angekommen im neuen System? Wird wohl so sein, größtenteils sicherlich. Auch ich kenne dieses Gefühl, es ist bzw. war ein einschneidendes Erlebnis. Es kommt gleich nach dem Gefühl der Existenzangst. Beide wünsche ich Ihnen nicht zu erleben!

 

 

ede

24. September 2022 15:27

@Kurativ

"Was macht es mit einem Volk, welches nun mehrere Generationen 100%ig fremdbestimmt ist? Resignation? Derzeit sieht es so aus"

Das ist wohl so.

Allerdings konnten sich die Westdeutschen zurecht AUCH als Verbündete gegen die russische Bedrohung sehen. Das ist nach 90 weggefallen. Die Polen eignen sich als Frontstaat aus vielen Gründen viel besser. Deswegen Abbau der deutschen Wehrfähigkeit und politischen und wirtschaftlichen Fesselung auf allen relevanten Feldern.

Das wollen viele gute alte Bundesrepublikaner partout nicht zur Kenntnis nehmen. Deutlich wird das an verbissenen Überzeugungen im Ukraine Konflikt.

Die eigentliche Lebenslüge der Bundesrepublik.

Herr K aus O

24. September 2022 17:55

“Der Unterschied zwischen Ost und West war oberflächlich."

Hm. Einspruch. Haben Sie die DDR erlebt? Der Blick vom Reichstag über die Mauer in die Clara Zetkin Strasse war doch immer einigermaßen haarsträubend. In der Tat war - zumindest ich - immer froh, wenn ich nach meinen Ostaufenthalten wieder drüber in meinem versifften Moabit war. Pleite und abgebrannt (und natürlich auch ich 30 Jahre jünger) kam mir mein abgerissenes Studentenleben einfach freier vor. Interessant bei diesen Ost-West-Vergleichen ist doch, dass immer nur auf politische und wirtschaftliche Aspekte geschielt wird, die schiere Freiheit scheint egal zu sein. Und die “schiere” Freiheit, die können sie buchstäblich schmecken und ist durch keine geistige Freiheit zu ersetzen.

Und das ist nicht oberflächlich. Um so bedrückender ist ja die jetzige Situation, weil der Braunkohlegeruch der Unfreiheit, der Mief plötzlich aus allen Ecken aufsteigt.

Und an alle Mitdiskutanten: Ein wirklich schönes Diskussionsklima hier auf den interessanten Text von Herrn Bosselmann.

ede

25. September 2022 00:15

@Herr Kaus O,

“Der Unterschied zwischen Ost und West war oberflächlich."

Ich kann Ihren Widerspruch gut nachvollziehen. So ähnlich ging es mir, wenn ich mal nach Ungarn gefahren bin. Alles wirkte viel freier, und sei es die eisgekühlte Coca-Cola im Gelleti Park in Budapest. Wir nannten Ungarn das" gelobte Land".

Ich wäre auch sehr gerne mal in den Westen gefahren, und hatte mal eine französische Freundin aus Westberlin. Sie arbeitete als Kellnerin im Cu Carre' am Savinyplatz. War schon eigenartig, wenn ich da aus einer Babelsberger Telefonzelle sozusagen Funkkontakt mit dem Unerreichbaren hatte. Klar hat man auch mal Flucht in Erwägung gezogen. Aber da hätte ich meine geliebte Oma nie wieder gesehen. Und einen verschissenen "Ausreiseantrag" (ging nur für immer) habe ich nie gestellt, weil das auch MEIN Land war, und nicht das der Bonzen.

Ich habe @Umlautkombinat so verstanden, dass auch die Freiheit sehr wohl relativ aufzufassen ist. 

Schöne Kurzgeschichte von Solchenizin dazu: "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch".

Laurenz

25. September 2022 03:34

@Herr K aus O (1)

“Der Unterschied zwischen Ost und West war oberflächlich." Hm. Einspruch & Braunkohlegeruch der Unfreiheit

Sie haben die äußeren Umstände gut beschrieben. Ich hatte desöfteren Außenbezirke Ostberlins mit Tagesvisum besucht, logierte wohl 1984 mit meinem Abi-Kurs 10 oder 14 Tage im Jugendhotel zu Oberhof mit Ausflügen nach Sonneberg, Leipzig, Wartburg, eingeladen von der DDR, inklusive einer Debatte mit der FDGB-Kreisleitung & Besuch in einem Jugendklub, der privaten Kontakt bescherte. Der Aufenthalt in der DDR unterschied sich frappant von allen anderen Besuchen in europäischen Staaten. Ich fühlte mit 19 sehr genau, daß ich meinesgleichen vor mir hatte, MEINESGLEICHEN. Mir kommen heute noch Tränen der Wut, wenn ich an die deutsche Teilung denke. Deswegen vermeide ich das. In jeder Kneipe, (die wir dauernd besuchen mußten,) saßen VOPOS oder NVA-Uniformierte. An sich ist erstmal nichts gegen Uniformen zu sagen, aber alle sprachen leise, es war beklemmend, eben, wie Ihr Braunkohlegestank der Unfreiheit, der Dank des häufigen Westwinds erst ab Meiningen einsetzte. Das BGB oder das Strafgesetzbuch unterschied sich nur in den politisch relevanten Punkten von dem der BRD. Bis auf wenige Prachtstraßen sah die gesamte DDR aus, wie Sau, ja eher sogar unter aller Sau, eben undeutsch.

Laurenz

25. September 2022 03:53

@Herr K aus O (2)

Wenn Erich I, der rote König, irgendwo seinen Besuch ankündigte, wurden schnell die sichtbaren Fassaden gestrichen. Und vom maroden Kopfsteinpflaster bemerkte Erich, Dank der hydropneumatischen Federung seiner weiter verlängerten Citroen CX Prestige Staatskarossen, eh nichts. https://www.auto-motor-und-sport.de/reise/honeckers-dienstwagen-die-extravaganz-des-vorsitzenden/

Ihr, Herr K aus O, nicht oberflächlicher Unterschied zwischen DDR & BRD war aber kein alleiniges DDR-Phänomen, sondern zog sich durch den gesamten Ostblock. Äußerlich präsentierte sich der Ostblock schlicht feudalistisch.

Und Sie haben genau beschrieben, was gerade passiert. Allerdings läuft die Renaissance der DDR virtuell vonstatten. Bis auf SEK-Kommandos gegen politisch unliebsame Dissidenten, sehen wir eher immer weniger Uniformen. Das leise Reden in der Öffentlichkeit entsteht aus informellem Druck der Medienwelt & NGO-Mitarbeitern. Auch äußerlich passen wir uns aktuell stetig der DDR an, immer mehr schlechte Straßen & ärmliche Fassaden. Ende des nächsten Februars oder Anfang des nächsten März, wird diese Tendenz eskalieren. Momentan ist die Bevölkerung noch von einem Dornröschen-Schlaf betäubt.

dojon86

25. September 2022 08:56

Kurz gefasst, ich hatte immer den Eindruck, die Gefühle, die Ost und West einander vermittelten, waren aus meiner Sicht Neid und Mitleid. Wohl gemerkt, ich sehe im Neid kein negatives sondern ein natürliches Gefühl. Und Mitleid hat zwar in unserer postchristlichen Kultur einen guten Klang, ist aber mit Abschatzigkeit gepaart. Worin ich bei meinen Bekannten die deutlichste Differenz wahrnahm, das war letztlich die geringe Weltkenntniss. Ich konnte in den 70ger Jahren zwar auf sparsamste und abgerissenste Weise aber doch die halbe Welt bereisen, sie waren froh, wenn sie mal nach Ungarn kamen. Und natürlich nervte ich, wie mir nachträglich bewusst wurde, meine Bekannten durch entsprechende Angeberei. Aber in jedem Fall war ihnen und mir der abstrakte Begriff Freiheit völlig egal. Wir kannten alle zusammen Freiheit nicht wirklich, eingezwängt in Propaganda, Lehrpläne und der Notwendigkeit, letztlich irgendwann einen leidlichen Beruf zu ergreifen. Wenn heute in der MSM Presse über die mangelnde Freiheit der Chinesen geschrieben wird, dann frage ich mich, warum die tausenden chinesischen Touristen, die vor Corona das Zentrum meiner Heimatstadt besuchten, und das waren keineswegs alles wirklich reiche Leute, alle wieder zurück gingen und nicht um Asyl ansuchten. Eben, es ging damals wie heute um Lebensstandard. 

RMH

25. September 2022 09:09

Interessant bei diesen Ost-West-Vergleichen ist doch, dass immer nur auf politische und wirtschaftliche Aspekte geschielt wird, die schiere Freiheit scheint egal zu sein. Und die “schiere” Freiheit, die können sie buchstäblich schmecken und ist durch keine geistige Freiheit zu ersetzen. Und das ist nicht oberflächlich. Um so bedrückender ist ja die jetzige Situation, weil der Braunkohlegeruch der Unfreiheit, der Mief plötzlich aus allen Ecken aufsteigt.

@Herr K aus O,

sehr schön formuliert. Man erkennt bei manchen Rechten viel zu oft, dass ihnen Sozialismus, Unfreiheit und Totalitäres nicht so schlimm erscheinen, so lange es eben ihre eigene Unfreiheit ist, in der sie sich aalen und wohlfühlen können. Denn Unfreiheit kann so lange bequem und praktisch sein, bis man einmal selber von ihr betroffen ist, sie übergriffig wird. Mit Glück läuft die eigene Lebensspanne ab, ohne das so ein Fall eintritt - darauf spekulieren Rechte mit ganzem Herzen.

Adler und Drache

25. September 2022 09:57

@ Ordoliberal:

Der Glaube an die Unterwerfung unter das "Gemeinwohl" als dem Inbegriff der Tugend ist dem Deutschen tief ins kulturelle Erbgut eingeschrieben. Die goldene Regel reicht ihm nicht. Wenn er schon nicht am "großen Ganzen" aufopferungsvoll mitarbeiten darf, will er wenigstens beweisen, dass er es könnte, wenn man ihn denn ließe. Auch bei Bosselmann spürt man den Asketenstolz des Verbannten, wenn er - liebenswert, aber entlarvend - von seiner Yogamatte und seinem Grüntee erzählt. Ist das sozialistisch? Ist das protestantisch? Ist das romantisch-innerlich? Ist das stoisch-rechts? Es ist vor allem eins: deutsch.

 

Tiefennachwirkung des Reichs, so erkläre ich mir das. Deutschtum und Reich scheinen mir unauflöslich verbunden, bis in die Seele des grünen Politikers hinein, der immer noch "Vorreiter" sein will oder muss. 

Volksdeutscher

25. September 2022 13:19

1. Da aus einem ähnlichen gesellschaftlichen System aufwachsend wie Heino Bosselmann, kann ich seine Gedanken recht gut nachempfinden und in meinen in er BRD gemachten Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erkenntnisen wiedererkennen. Aber es gibt einen Unterschied zu den seinen, der wesentlich und entscheidend anders ist: Ich komme aus der Diaspora, d.h. aus dem Jenseits der deutschen Staatlichkeit, gleich ob wir sie BRD, DDR, Österreich oder Schweiz nennen wollen. Ein Landsmann von mir beschrieb unser Verhältnis zu BRD-Deutschen etwa so: "Wir sind auch Fische, nur in anderen Gewässern aufgewachsen." Das Negativbild ostdeutscher Arbeiter von Westdeutschen, wie Heino Bosselmann das veranschaulicht, ist noch zu harmlos zu dem Bild, das ich und viele Auslandsdeutsche von diesem Millieu zeichnen können. In meinen Augen waren das mehrheitlich keine Deutsche mehr, bestenfalls deutschsprechende Einwohner. Für die linken Bürger waren wir solche, die aus "nationalistischen" Gründen nach Deutschland kommen (dreimal Pfui!). Aber für die rechten Bürger ebenfalls ein Dorn im Auge.

Volksdeutscher

25. September 2022 13:29

2. Gleich ihrer Elterngeneration, die von "Rucksacksdeutschen" und "Zigeunern" faselte, bastelten sie Sprüche von der gleichen Sorte: "Die Auslandsdeutschen wollen deutscher sein als die Deutschen selbst." Unserem Nationalismus, unsrer Begeisterung für Deutsches und Deutschland hatten sie nichts entgegenzusetzen. Unheilbare Minderwertigkeitskomplexe kamen über sie. Ich verstehe das: Allmählich wurde die BRD mit allerlei Sorten von Ausländern geschwemmt. Da sie sich jedoch nicht dagegen aufzulehnen trauten, um nicht gleich als "Nazis", "Faschisten" oder "Rassisten" zu gelten, ließen sie ihre Aversion und Aggression heimlich und gefahrlos an Auslandsdeutschen aus. Das war gesellschaftsfähig, das war schick, das gefiel auch den Linken. Manchmal, wenn ich Kommentare von @RMH lese, werde ich an diese ausschüssigen Deutschlinge erinnert. Es gibt kein Volk in Europa, das so schäbig, so gemein seine eigene Diaspora behandelt wie die Deutschen der Gegenwart. Darin kann man, wenn man will, erkennen, wie wenig Selbstachtung Deutsche vor sich selbst haben. Wenn sich nichts in absehbarer Zeit daran ändert, sind wir reif für den Müllhaufen der Geschichte.

ede

25. September 2022 17:13

"... , so lange es eben ihre eigene Unfreiheit ist, in der sie sich aalen und wohlfühlen können. Denn Unfreiheit kann so lange bequem und praktisch sein, bis man einmal selber von ihr betroffen ist, sie übergriffig wird."

Nun mal halblang RMH. Man richtet sich ein in der Diktatur, sei es das 3.Reich, die DDR, Sowjetunion oder China (oder das was noch kommen mag). Was denn sonst?

Da aalte und suhlte sich niemand. Niemand will und wollte wegen Weitergabe nur eines Buches (1984) in Bautzen landen. Mag sein, das der Blick zurück die Vergangenheit milde beleuchtet. Vergessen habe ich die Unfreiheit nicht - und tue auch das MIR heute Mögliche.

RMH

25. September 2022 17:14

@Volksdeutscher,

Sie nennen mich persönlich, daher 2 Teile:

1.

Ich weiß natürlich nicht, welcher volksdeutscher Herkunft Sie angehören. Einer meiner besten Freunde ist ein in Rumänien geborener und aufgewachsener Deutscher. Das waren mit die ersten Deutschen nach der großen Vertreibung, die aus dem Ostblock (jenseits der DDR) geekelt wurden und sich in Westdeutschland niederlassen mussten. Sie sind die wohl erfolgreichste Immigrantengruppe der letzten ca. 40 Jahre, weil sie wussten, dass sie kein Mitleid als Deutsche erfahren oder deshalb irgendwas geschenkt bekommen, egal wo auf der Welt sie sind. Das Deutschsein ihnen also keinerlei Bonus bringt, nicht einmal in Deutschland. Er erzählte mir aus seiner Kindheit, als er am schwarzen Meer auf eine DDR Familie traf, die einen Sohn im gleichen Alter hatten. Als er mit dem Sohn sich leicht anfreundete, kamen die DDR-Eltern und verboten ihrem Sohn den Umgang mit diesem "Gesindel". Das ist ihm mit Westtouristen nie passiert, so viel zum Thema "schäbig".

Ein gebuertiger Hesse

25. September 2022 17:16

Hervorragend sowohl der Aufsatz wie der Diskussionsstrang.

RMH

25. September 2022 17:21

@Volksdeutscher - Teil 2:

Und bei Ihnen, werter Volksdeutscher, der Sie meinen, Begriffe wie "Deutschlinge" in eine Debatte einführen zu müssen, sei auf den groben Klotz der grobe Keil ausnahmsweise gestattet: Ihre innere Zerrissenheit wird doch schon an der Selbstbezeichnung klar. Entweder man ist Deutscher oder keiner und da ist es ziemlich egal, wo man geboren wurde. Das "Volks" scheint Ausdruck dessen zu sein, was Ernst Jünger einmal mit folgendem Satz ausdrückte:

"Die Sehnsucht nach der Reinheit des Blutes ist ein Kennzeichen der Mischlinge"

Also, gewinnen Sie erst einmal selber echte Selbstachtung, bevor Sie das Fehlen der Selbstachtung anderen vorwerfen und stellen keine Mythen in den Raum.

PS: "Gefahrloses" Auslassen an Auslanddeutschen - in welcher Welt leben Sie denn? Die "Auslandsdeutschen", die ich kenne, wissen sich zu wehren. In jeder Hinsicht. Wenn Sie Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, dann geht es ihnen nicht anders, wie jedem anderen in diesem Land. Ausländer oder besser "Immigranten" neigen nur dazu, jede Ablehnungserfahrung, jede Enttäuschung auf ihr Ausländertum zu schieben oder zu reduzieren. Sie scheinen da mithin also nicht groß anders zu sein.

Monika

25. September 2022 17:47

@ Klaus D. Ich unterscheide zwischen dem „Verlust von Ursprungssicherheiten“ und Existenzängsten . Das kann zusammenhängen, muss aber nicht. Ein Systemwechsel ( bzw. der Verlust einer Weltanschauung) kann  einem den Boden unter den Füßen wegziehen; was ich schlimmer finde, ist,  dass er einige Menschen aus der DDR das Leben gekostet hat  ( siehe Chris Gueffroy 1986-1989) . Es gibt nicht das eine oder andere bessere System in dieser Ausschließlichkeit. Es gibt viele Zwischentöne bei der Suche nach der Nation oder der Gemeinsamkeit der Deutschen. Auch nach der Wende besteht die Zerrissenheit fort. Dass Herr Bosselmann das zum Thema macht, finde ich wichtig. 

Hartwig aus LG8

25. September 2022 20:23

@ RMH

Als Ossi unterstütze ich Sie in Ihrem Ansinnen, diese "Beweihräucherung Ost" zu geißeln. Geht mir aus verschiedenen Gründen gegen den Strich!

@Bosselmann

Kein schlechter Aufsatz. Denn ich kenne als 62er diese UTP-Knallköpfe, die harten Kerle im Trainingsanzug, die NVA-Offiziere, die gern mal das "dreckige Dutzend" mimten. Gut beschrieben. Aber in Ihrem Aufsatz gibt es zuviel des "WIR"s. Es gab nicht DIE Boomer-Ost. Und Ihr letzter Absatz stimmt nicht; er hat ein Quantum Wahrheit, 'ne ganze Menge Klischee, mehr nicht.

Aber was doch heute sehr an die DDR erinnert, sind die verbrämten Energie-Spar-Kampagnen, die jetzt in den Medien hoch und runter laufen. DAS ist DDR!!  @ Martin Lichtmesz  -  übernehmen Sie!

 

Kurativ

25. September 2022 20:35

Braunkohlegeruch, AK74-Spielchen, Jeans oder Handelsgenossenschaften sind oberflächlich, wenn im gleichen Zügen eine fremde Macht darüber entscheidet, welche Verträge geschlossen werden dürfen, welche Parteien an die Macht kommen und wer im eigenen Land angesiedelt wird.

Laurenz

25. September 2022 21:18

@Hartwig aus LG8

DDR (2)

Erst mit der Grenzöffnung '89 änderte sich das sofort & aller abenteuerliche DDR-Hedonismus, sich quer durch die Republik oder den Bekanntenkreis zu vögeln, hatte ein jähes Ende. Denn im Westen hatten Frauen einen Wert, den sie an den sozialen Status des zukünftigen Partners verkauften. Das ändert sich gerade wieder.

Volksdeutscher

25. September 2022 21:47

1. @RMH

Daß Sie so heftig auf meine Schilderungen reagieren, wirft sich die Frage auf, was Sie so betroffen gemacht hat. Daß ich Ihr Pseudonym erwähnt habe, dürfte doch nicht der einzige Grund gewesen sein. Ich möchte das für Sie auch nicht entscheiden. Sie evozieren aber die Frage: Wie "rein" sind denn die Deutschen der BRD, der DDR, Österrreichs oder der Schweiz biologisch im Vergleich zu den in der Diaspora lebenden Deutschen? Es ist nicht so, daß ich das wirklich untersucht und entschieden sehen will, Tatsache bleibt jedoch, daß die Zeit über uns alle, wo wir auch immer leben, vorüberging und ihre Zeichen an unseren Gemeinschaften hinterließ. Es ist aber auch eine Tatsache, die erwähnt werden muß, wenn Sie schon das unsägliche Wort Reinheit de Blutes ausgepackt haben, daß die Reinheit des Geistes in Bezug auf Haltung zum Deutschtum bei den Auslandsdeutschen stärker, will sagen reiner erhalten blieb als bei denen, die in einem Staat lebten, in welchem sie die überwiegende Mehrheit bildeten und dachten, "deutscher" sein zu können als die Auslandsdeutschen selbst. Sie mußten sich in der fremden Umgebung nach großen Verlusten unter dem ideologischen Terror existenziell behaupten. Die in der BRD oder sonstwo verbliebenen Deutschen kannten Herausforderungen dieser Größe und Dimension nicht.

 

Volksdeutscher

25. September 2022 22:00

2. @RMH

Es muß mal einer wie Ovidius expatriiert werden, um solch berührende Gedanken zu Volk, Kultur und Heimat zu empfinden und zu Papier zu bringen. Nicht wir trachten danach, uns oder am besten gleich das gesamte Deutschtum abzuschaffen, uns aus der Geschichte zu verabschieden. Nicht wir gehen mit Schuldkomplexen und mangelndem nationalem Selbstbewußtsein einher und die Ideologie der Reinheit des Blutes entstand auch nicht in unseren Reihen. Auch nicht wir stellten und stellen unser Recht auf Sein in Frage. Aber die Lemminge von Bundesrepublikanern, die "deutscher" sein wollen als die Auslandsdeutschen selbst, kriegen das schon hin, denke ich, es sieht auf jeden Fall danach aus, falls wir Sarrazins Recherchen vertrauen dürfen. Gegen sie müssen wir uns alle, sowohl Sie als ich, zur Wehr setzen. Es gibt keine Transformation in Seinsfragen, wie Frau Sommerfeld es behauptet. Apfel bleibt Apfel, Birne bleibt Birne und die Frage dabei ist nicht nur eine ästhetische, sondern eine existenzielle. Denn wenn es kein Deutscher mehr ist, ist auch kein Deutscher mehr zu sehen. Punkt! Was wäre denn überhaupt der Übergang zwischen Sein und Nichtsein? Ein bißchen sein? Ein bißchen nicht sein? Frau Sommerfeld, helfen Sie mir bitte auf die Sprünge.

Nath

26. September 2022 01:44

@ Adler und Drache  "Tiefennachwirkung des Reichs, so erkläre ich mir das. Deutschtum und Reich scheinen mir unauflöslich verbunden, bis in die Seele des grünen Politikers hinein, der immer noch "Vorreiter" sein will oder muss."

Die Megalomanie der Reichsidee ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal der Deutschen. Das British Empire war bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts die anspruchsvollste Großmacht, die es je auf der Erde je gegeben hat, und dies wäre nicht möglich gewesen, hätte es nicht ein seiner Hegemonie korrespondierendes Sendungsbewusstsein verinnerlicht. Ähnlich verhielt es sich mit Frankreich nach Napoleon. Noch in Vietnam oder später in Algerien reklamierte man mit dem Aplomb des Selbstverständlichen das Recht, diese Länder als Kolonien zu besitzen. Auch hier gesellte sich zur Großmachtspolitik ein entsprechendes Ideologem: das "Große Frankreich", in welches aufzugehen die betreffenden Völker als besonderes Privileg zu begreifen hätten. Im Grunde ist die Konzeption der EU nichts als ein Konglomerat vorangegangener imperialer Herrschaftsansprüche einzelner Länder - nur noch mehr moralistisch aufgeplustert. Wie singt Peter Gabriel doch in dem Genesis-Stück "Time Table":

Why, why do we suffer each race to believe

That no race has been grander?

It seems because through time and space,

Though names may change each face retains the mask it wore.

Herr K aus O

26. September 2022 08:45

@Laurenz: Allerdings läuft die Renaissance der DDR virtuell vonstatten.

Da haben Sie recht und es können viel spitzfindigere Dinge angestellt werden, als sich ein George Orwell je vorstellen konnte (Der Televisor war ja nur ein Fernseher mit Kamera)

Aber: Ein Sozialismus wird das nicht, es entstehen gerade doch viele private Monopole (Amazon usw)

Manchmal denke ich mir: Auch wir Wessis werden uns nach der guten, alten DDR zurücksehnen

Valjean72

26. September 2022 08:55

@RMH

betreffend des Begriffes Volksdeutsch, bzw, volksdeutsch kennen Sie offenbar nicht dessen ursprüngliche Bedeutung als Sammelbegriff von Deutschen, die ausserhalb des Reiches (Reichsdeutsche), sowie ausserhalb der österreichischen Kronlande lebten.

Mein Grossmutter väterlicherseits war eine Volksdeutsche aus Kroatien, eine Nachfahrin von Donauschwaben, welche im 18. Jahrhundert nach Ungarn auswanderten. Ein Teil der Familie zog dann später weiter nach Kroatien, zu jenem Teil der bis 1918 zu Ungarn gehörte.

Die Bezeichnung "volksdeutsch" hat also rein gar nichts mit Reinheit des Blutes oder dergleichen zu tun (oder was auch immer an Bösem man als gelernter BRD-Bürger da hinein interpretieren mag). Ich finde es aber schon bezeichnend, wenn selbst Liberal-Konservative nicht mehr über solche Begriffe Bescheid wissen und gar Anstoss daran nehmen.

 

Valjean72

26. September 2022 09:04

@Nath:

Megalomanie der Reichsidee

So etwas hier zu lesen, das schmerzt schon beinahe physisch.

Laurenz

26. September 2022 09:28

@Nath @Adler und Drache (1)

Reichsidee

Unterstelle den meisten Geschichtsinteressierten, auch Ihnen, ein falsches Geschichtsverständnis. Bei der völlig ahnungslosen, selbsternannten, woken westlichen Elite wirkt dieser Fakt einer falschen Weltsicht bis tief in die internationalen Medien hinein. Die Redaktion schließe ich halb mit ein, Maiordomus nehme ich explizit aus, Der tickt einfach anders. Reiche oder Weltreiche sind nur die Reiche sehr weniger Personen. Für die 95% Restbevölkerung ziehen Weltreiche, spätestens ab dem 19. Jahrhundert negative Konsequenzen nach sich. Der Geschichtskonsument identifiziert/beschäftigt sich meist nur mit den historischen Entscheidungsträgern & ihrer Wasserträger, ein kleines Häuflein. 90% der Europäer waren mehr oder weniger Leibeigene. Erst nach dem 7 jährigen Krieg fing der Alte Fritz als erster an, Leibeigene aus der Leibeigenschaft zu entlassen. Dieser Prozeß dauerte, zumindest formal, bis 1860 (Brasilien etwa 1890). Den Unterschied zur Sklaverei können wir getrost vernachlässigen. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Briten schlauer als die Franzosen, wie meistens. Als Cochrane die Spanier aus Südamerika vertrieb, wurden die südamerikanischen Staaten formal unabhängig. Bis heute oder vor kurzem herrsch(t)en dort anglo-amerikanische Konzerne über ein informelles südamerikanisches Reich.

Laurenz

26. September 2022 09:39

@Nath @Adler und Drache (2)

Als die Franzosen ab 1865 anfingen, den Chinesen Indochina wegzunehmen, verleibten sie es sich ein, anstatt Indochina in einer formelle Unabhängigkeit zu entlassen. Die Franzosen investierten riesige Summen in die fernöstliche Infrastruktur. Die Nummer war volkswirtschaftlich für Frankreich ein eklatantes Minus-Geschäft zulasten des (französischen) Steuerzahlers. Dasselbe gilt für Österreich-Ungarn in Bosnien oder deutsche Kolonien. Bismarck war deswegen auch dagegen. Im Grunde müßten die ehemaligen Kolonien an die ehemaligen Kolonialstaaten zahlen & nicht umgekehrt, wenn wir mal von den Untaten der Belgier im Groß-Kongo absehen. Wir dürfen aber festhalten, die Masse der Europäer hatte nie etwas mit einer Reichsidee, der Sklaverei oder Leibeigenschaft zu tun. Sie waren, wenn, Opfer dieser Zustände. Das hat sich bis in die heutige Neuzeit nicht geändert. Die heutigen Weltreiche existieren eben nur informell & unsere Freiheit ist nur eine formale Freiheit. Von daher sind Debatten über eine Reichsidee eine Auseinandersetzung, die uns als Bürgerliche im Prinzip gar nicht betrifft.

RMH

26. September 2022 12:28

 Ich finde es aber   @V.72, ich habe auf die von Volksdeutscher gemachte Wortschöpfung Deutschling hin geschrieben: "Entweder man ist Deutscher oder keiner und da ist es ziemlich egal, wo man geboren wurde." Mehr gibt es dazu aus heutiger Sicht meiner Meinung nach nicht zu schreiben, schon gar keine geschichtliche Abhandlung zu jur. Begriffen, die man aufgrund der altbekannten Unterscheidung nach dem ius sanguinis und dem ius soli und der Zerstreutheit der deutschen Siedlungsgebiete hin eingeführt hat. Im Grunde ist ein Volksdeutscher so etwas wie ein weißer Schimmel. Ein für den Alltag komplett überflüssiger Begriff, es sei denn, man will auf etwas Bestimmtes hinweisen, was mit dem ius sanguinis, also dem "Blut" zu tun hat - und diejenigen, die heute bspw. aus Kasachstan zu uns kommen, brauchen auf Themen wie dem Blut in der Mehrzahl nun wahrlich nicht herum reiten. Wer´s also außerhalb von behördlich veranlasstem Papierkram braucht, sich heute darüber öffentlich zu definieren, statt schlicht und einfach selbstbewusst, ich bin Deutscher zu sagen (was auch das gute Recht von "Mischlingen" ist, die die deutsche Kultur leben), bitte sehr, da habe ich keine Einwände. Die Definiererei, wer jetzt Deutscher oder nicht ist, will ich nicht starten, sie liegt mir fern. Anstoß habe ich an den  persönlich gewordenen Ausführungen des Volksdeutschen genommen - gehe aber darauf nicht weiter ein, er hat jetzt noch was dazu geschrieben und damit ist es aus meiner Sicht gut.

FraAimerich

26. September 2022 14:14

@Valjean72:  Keine Sorge, RMH ist ein kluger, gebildeter Mann und kennt den Begriff des "Volksdeutschen" natürlich. Er war nur in Stimmung, mit dem kecken Jünger-Zitat einen vermeintlichen Wirkungstreffer als Revanche für die "Deutschlinge"zu setzen. Ging nur in die Hose.

RMH

26. September 2022 16:39

@FraA.

In diesem Strang steige ich nicht mehr auf eine Debatte mit Ihnen ein. Beim nächsten gerne wieder.

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