Eine von ihnen war die Begeisterung, mit der weite Teile der Deutschen die neugewonnene Einheit begrüßten. Eine weitere Energie läßt sich mit der Entfesselung der Marktkräfte beschreiben.
Der Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft und die Privatisierungswelle zugunsten westdeutscher und ausländischer Konzerne sorgten für beispiellose Brüche in ostdeutschen Biographien. Dem Abschlußbericht der Einheitskommission kann entnommen werden, daß im Jahr 1995 vier von fünf Ostbürgern nicht mehr auf dem Arbeitsplatz wirken konnten, den sie 1990 gehabt hatten.
Mit derlei objektiven Fakten startet die in Chemnitz ausgebildete Maschinenbauerin und Journalistin Cerstin Gammelin (Jg. 1965) ihre subjektive Schau der ostdeutschen Politik. Diese Arbeit ist in Teilen verdienstvoll, in Teilen überflüssig.
Verdienstvoll ist das Buch, weil es genuin ostdeutschen Perspektiven sogenannte Sichtbarkeit verschafft und weil deutlich wird, wie wichtig für alle politischen Akteure Gesamtdeutschlands just Ost-Entwicklungen sind: Gammelin räumt mit der auch im Nahfeld der AfD weitverbreiteten Legende auf, wonach alleine Nordrhein-Westfalen durch seine Einwohnerzahl bedeutsamer sei als alle fünf Ostländer: »Die Zahl der Wähler ist nicht allein entscheidend. Ausschlaggebend ist, ob von diesen Regionen Veränderungen ausgehen können, die das ganze Land beeinflussen.« Und daß symbolträchtige Wellen insbesondere von Ostdeutschland ausgehen, zeigt die Autorin dann auch anhand von parlamentspolitisch-koalitionären, protestbezogenen oder sonstigen Zäsuren beeindruckend auf.
Überflüssig ist das Buch – erstens –, weil diese Dinge bereits in anderen Publikationen vorgestellt wurden. Ob Ilko-Sascha Kowalczuk, Johann Michael Möller, Norbert F. Pötzl oder Steffen Mau: Sie alle haben entsprechende Ost-West-Erkenntnisse und zeitgeschichtliche Analysen publikumswirksam aufbereitet.
Zweitens erscheint eine Lektüre überflüssig, weil Gammelin als Journalistin der Süddeutschen Zeitung nicht von milieutypischen Verhaltensweisen absehen kann.
Ob Elogen auf Angela Merkel (»Sie wird fehlen«) und Jan Böhmermann (»zeigt, wie es gehen könnte«) oder unreflektiertes AfD-Bashing: Wer zeitgeistige Propaganda reproduziert, riskiert bereitwillig, daß kluge Passagen – etwa über die »massenmediale westdeutsche Meinungsführerschaft« und die Bundesratssperrmehrheit gegenüber den ostdeutschen Ländern – ins Hintertreffen geraten.
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Cerstin Gammelin: Die Unterschätzten. Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt, Berlin: Econ Verlag 2021. 302 S., 22,99 €
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