Für die AfD liegt ein ereignisreiches Wochenende aus zwei wichtigen Wahlen (Cottbus und Niedersachsen) und einer Großdemonstration in Berlin, mit über 10.000 Teilnehmern zurück. Ein Wochenende, das erstmals aus den steigenden Umfragetrends, nun auch den Prüfstein für die Realität mitlieferte.
Nachdem die AfD über die letzten zwei Jahre vor allem eine Reihe von Wahlniederlagen verkraften musste und auf ihre bundesweite Kernwählerschaft zwischen 9–12% eingebunkert war, blickten viele mit eher pessimistischem Blick auf das Wahljahr 2022. Der knappe Wiedereinzug in Nordrhein-Westfalen und dem Saarland und der Rauswurf aus dem Kieler Landtag schufen für die Landtagswahl in Niedersachsen eine Zielerwartung, die Partei irgendwie über die 5‑Prozent-Hürde zu heben. Der Wiedereinzug in Niedersachsen galt als die wichtigste Aufgabe des neugewählten Bundesvorstandes in diesem Jahr. Chrupalla und Co dürften allerdings schon in den letzten Wochen etwas entspannter in den Nordwesten geschaut haben. Die Umfragen wiesen zuverlässige Ergebnisse deutlich über 5 % aus und spätestens in den 2–3 letzten Wochen des Wahlkampfes konnte die Zweistelligkeit als realistisches Ziel ausgemacht werden.
Am Ende zieht die AfD mit 10,9 % der Stimmen in den niedersächsischen Landtag ein und kann damit ihr Ergebnis aus dem Jahr 2017 um 4,7 % steigern. In absoluten Stimmen holte die Partei knapp 160.000 Stimmen mehr im Vergleich zur letzten Wahl, was einem Zuwachs von knapp 68 % entspricht. Die Wählerstromanalysen zeigen, dass die Partei nur marginal Stimmen an die etablierten Parteien abgibt. 70 % der Wähler von der letzten Landtagswahl konnten als fester eigener Stamm gehalten werden. Die größeren Stimmenverluste verzeichnet die Partei an Verstorbene und Fortgezogene.
Für eine westdeutsche Parlamentswahl ohne Frage ein beachtlicher Erfolg, der das Stimmungshoch aus vergangenen Umfragen definitiv zu bestätigen scheint. Bundesweit erreicht die AfD inzwischen Umfragewerte zwischen 14 und 16 %. In den INSA-Potentialanalysen ist die grundsätzliche Ablehnung im Vergleichszeitraum vor einem Jahr um 10 % zurückgegangen, während das erweiterte Wählerpotential aufsummiert, inzwischen bei über 20 % liegt.
Schon am Wahlabend begann innerhalb der Partei das große Rätselraten um die richtige Interpretation und kausalen Zusammenhänge des Ergebnisses in Niedersachsen. War es die starke Wahlkampfperformance des niedersächsischen Landesverbandes und dessen Positionierung im sogenannten „liberalkonservativ-bürgerlichen“ Lager der AfD? Ist es ein Erfolg des neuen Bundesvorstandes, der es schafft, die parteiinternen Konflikte einzuhegen und sinnvoll zu moderieren? Oder sind es eher die allgemeinen politischen Dynamiken, die mehr Unzufriedenheit, Frustration und die höhere Bereitschaft zur Protestwahl hervorrufen?
Präzise und empirisch-messbare Analysen des Wahlergebnisses für die AfD werden am Ende nur eigene Nachwahlbefragungen der Partei leisten können. Es dürfte aber naheliegend sein, dass die bundespolitische Lage den Großteil der Stimmenzuwächse ausmachte. In der Gesamtwählerschaft gaben 12 % mehr als noch 2017 an, dass die bundespolitische Lage für ihre Wahlentscheidung wichtiger gewesen sei als landespolitische Themen.
Grundsätzlich macht es für künftige Analysen in der AfD mehr Sinn, die Wahlergebnisse unabhängig von der jeweiligen Performance der Landespartei zu begreifen. Die AfD wird nach wie vor als dezidierte Protestpartei wahrgenommen. Protestwählerschaften sind immer äußerst hohen Schwankungsbreiten unterworfen. Sie suchen nach einer Projektionsfläche, in der die eigene Empfindung sich am besten mit einem parteipolitischen Repräsentationsangebot deckt. Das gilt im Übrigen bei der AfD für den Westen UND für den Osten.
Vorläufig lassen sich aus dem Wahlabend vier Erkenntnisse ziehen, die auch für die künftige strategische Ausrichtung der AfD von Bedeutung sein könnten.
1. Die Linkspartei bleibt im Westen marginalisiert und deutlich unter ihrer 5 % Zielmarke. Sie verliert 1,9 % und damit knapp 80.000 ihrer Wähler im Vergleich zu 2017. Durch die Ankündigung einer großen eigenen Kampagne zum „Heißen Herbst“ wollte sich die Linke als größter Konkurrent zur AfD um die Protest- und Unzufriedenheitspotentiale aufstellen. 90% der AfD-Wähler geben an, dass ihre Partei die einzige ist, mit der sie ihren Protest über die aktuelle Politik zum Ausdruck bringen können.
Die Niedersachsen-Wahl dürfte die strukturelle Krise der Partei einmal mehr verdeutlicht haben. Ihr fehlt die Bindungskraft gegenüber den traditionellen Protestwählern und jene, die lieber eine Woke und urbane Lifestyle-Linke wollen, fühlen sich längst bei den Grünen besser aufgehoben. Insbesondere in den städtischen Gebieten fährt die Linkspartei die größten Verluste ein.
Die AfD kann damit ihr Alleinstellungsprofil als Protestpartei und Aggregator von politischer Unzufriedenheit weiter festigen. Gleichzeitig muss sie diesen Wählerraum jedoch so weit konsolidieren, dass diese Protestwähler zu langfristigen Überzeugungswählern werden. Zumindest zeigen die Kompetenzwerte und wahlentscheidenden Themen unter den AfD-Anhängern, dass die Partei in der Lage ist als mehr als nur eine „Single-Issue“ Partei in Form der Migrationskritik wahrgenommen zu werden.
2. Das soziodemographische Wählerspektrum der AfD deckt sich mit dem, was aus anderen Wahlen bereits bekannt ist. Menschen mittleren Alters, mit einfacher Bildung und überwiegend männlich geprägt und wohnhaft in ländlichen Gemeinden und Kleinstädten. Überdurchschnittliche Werte erhält die Partei vor allem unter den Berufsgruppen der Arbeiter und den Selbstständigen, also von den wertschöpfenden Mittelklassen und Nettosteuerzahler, die von der aktuellen Krise am stärksten betroffen und bedroht sind.
Mehr als bei allen anderen Wählern spielten die Themen „Preissteigerungen“ und „Arbeitsplatzsicherheit“ unter AfD-Wählern eine ganz entscheidende Rolle. Die AfD wurde in Niedersachsen offenbar als die Stimme jener wahrgenommen, die von ganz konkreten materiellen Abstiegssorgen betroffen sind. Auch ein Blick auf Wahlkreiskarten zeigt die höchsten Stimmenzuwächse in jenen Gebieten, die von einer hohen Industriearbeiterschaft geprägt sind.
3. Frühere Stimmenzuwächse der AfD wurden maßgeblich von Nichtwählermobilisierungen bestimmt. Dieser Trend scheint sich mit der zunehmenden Verfestigung im Parteiensystem abzuschwächen. Knapp über die Hälfte der Zugewinne kam aus ehemaligen CDU- und FDP-Wählerschaften.
Für die FDP wiegen die Verluste an die AfD am schwersten. Sie befindet sich mit der Ampel-Koalition in einer strategischen Sackgasse, in der sie die Erwartungen ihrer immer noch mehrheitlich wertkonservativ bis Mitte-rechts eingestellten Kernklientel erfüllen will, aber dennoch in das hegemoniale Gerüst einer linken Regierungsmehrheit auf Bundesebene eingebunden ist. Mit welchen abenteuerlichen Begründungen man sich die Beteiligung an der Ampel schönreden will, ist fast schon amüsant. Mehrere FDP-Funktionäre erklärten am Wahlabend, dass die FDP in der Ampel nicht sichtbar genug wäre und sie dennoch als liberales Korrektiv zu den mehrheitlich links positionierten Koalitionspartnern notwendig ist. Ein einziger Selbstbetrug.
In der FDP wird man sicherlich die demoskopische Umfragen- und Studienlage zur eigenen Wählerschaft kennen und genau wissen, dass man in der Ampel mittelfristig nur noch auf einen marginalen linksliberalen Kern von 4 bis 5 % zusammenschrumpfen wird. Ob die Partei die Reißleine zieht und möglicherweise die Koalition auf Bundesebene aufkündigt, dürfte nicht mehr als völlig unwahrscheinlich gelten. Die Ministerposten dürften aktuell allerdings noch zu gut schmecken.
Die Zugewinne von der CDU dürften zunächst manche Befürchtungen eines konservativen CDU-Angebots, welches in Konkurrenz um AfD-Wählerstimmen tritt, entkräftet haben.
Die Union versuchte im Wahlkampf auch aus der Bundespartei auskommend einige populistische Spitzen (Stichwort „Sozialtourismus“, Merz) zu setzen, von denen sie dann nach linken öffentlichen Druck wieder Abstand nehmen musste und schnell zurückruderte. Die CDU ist längst im Zweikampf mit den Grünen und muss daher einerseits eine linke und eine rechte Flanke zusammenhalten. Unter den angetretenen Parteien verliert sie einerseits 45.000 Wähler an die Grünen und 40.000 an die AfD. Unter diesen Bedingungen wird sich die CDU im Zweifel immer an den hegemonialen Strukturen orientieren und die Verluste nach rechts als Kollateralschäden bilanzieren. Nach 16 Jahren Merkel gibt es für die CDU längst ein höheres Verlustpotential auf der linken als auf der rechten Seite.
4. Während sich die beiden großen Volksparteien SPD und CDU das Spektrum der 60+ Wähler aufteilen und angesichts der demographischen Übermacht dieser Gruppe zuverlässig 25–30 % einfahren, polarisiert sich an anderer Stelle ein elementarer Konflikt im Parteiensystem zwischen Grünen und AfD, der in der aktuellen Krise noch weiter verschärft werden könnte.
Ich habe in zwei anderen Artikeln diese völlig konträren Milieus und Lebenswelten bereits skizziert, hier und hier. Auch die Niedersachsen-Wahl macht deutlich, dass es vor allem grüne Wählerschaften sind, die fernab aller konkreten ökonomischen und materiellen Realitäten leben. Die wahlentscheidenden Themen spielten bei den Grünen-Anhängern kaum eine Rolle. Nur 8 % von ihnen sind in Sorge über die kommenden Preissteigerungen. Eine Mehrheit von 60% schätzt die aktuelle wirtschaftliche Lage als „gut“ ein. Ihre Kernwählerschaft lebt in den hippen Universitätsstädten wie Göttingen oder Lüneburg, wo sie auch einige Direktmandate holen konnten.
Sie können meist hohe Bildungsabschlüsse vorweisen und sind häufig Angestellte im öffentlichen Dienst. Die beiden wachsenden Wählerlager von AfD und Grünen könnten in Zukunft also nicht nur Ausdruck einer spontanen politischen Erregung sein. Die Wahl, der jeweils einen Partei wird dann auch als scharfes Abgrenzungssignal zur anderen verstanden. Das heißt, wer die AfD wählt, mag dann nicht zwangsläufig inhaltlich von ihr überzeugt sein, sondern will durch sein Votum vor allem die Ablehnung gegenüber den Grünen kenntlich machen.
Die AfD-Niedersachsen zieht nun mit 18 Abgeordneten und damit doppelt so vielen wie in der letzten Legislatur in den Landtag von Hannover. Zuletzt war die Fraktion auf nur noch sechs Leute zusammengeschrumpft und konnte nur als Gruppe statt als Fraktion auftreten. Der Landesverband gilt weder in seinem Parteivorstand noch in der parlamentarischen Vertretung als personell beständig. Die gröbsten Konflikte konnten zwar über die Zeit des Wahlkampfes eingestellt werden.
Ob die Fraktion aus ihren 18 Männern und Frauen bis zum Ende der Legislatur geschlossen und vollzählig bleibt, sehen aber selbst wohlwollende Beobachter mit Skepsis. Der voraussichtliche Fraktionsvorsitzende Stefan Marzischewski wird alle Hände voll zu tun haben, den Laden zusammenzuhalten und vor allem arbeitsfähig aufzubauen.
Ansonsten überwiegt jetzt in der Gesamtpartei die Zuversicht. Das Wahljahr 2022 konnte mit einem Erfolg abgeschlossen werden. Die Umfragen sehen positiv aus und die Partei baut langsam wieder eine solide Kampagnenfähigkeit auf, die sich auch in eigenständige Protestformate auf der Straße niederschlägt. Intern kann man geschlossen auftreten.
Dennoch bleibt für die Partei die Ungewissheit, wie lange sie das aktuelle Hoch halten und auch langfristig festigen kann. Sie muss auch mit Szenarien arbeiten, in denen die allgemeine Unzufriedenheit und Besorgnis wieder sinkt und dabei das eigene Wählerpotential nicht wieder auf die bundesweite Kernanhängerschaft zwischen 10 und 12% zusammenschrumpft. Jetzt steht uns eine längere wahlkampffreie Zeit bevor, was die Taktung, Mobilisierung und Schlagkraft für eigene Kampagnen wieder etwas erschweren dürfte. Doch die AfD darf jetzt auf keinen Fall ruhen. Die nächsten Monate könnten die Basis für die Wahlen der kommenden drei Jahre bilden.
Mitleser2
Wenn sich das Wahlverhalten der Rentner nicht ändert (CDU/SPD), bleibt es problematisch für die AfD, 60+ stellt 38% der Wahlberechtigten auf Bundesebene.