Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung

Mit dem vorliegenden Band Der Mann der Vorsehung legt Antonio Scurati (Jg. 1969) den zweiten Teil seiner M-Trilogie auch auf deutsch vor.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

»M« – das ist Beni­to Mus­so­li­ni, und der Auf­takt (vgl. Sezes­si­on 96) wur­de vor allem in Ita­li­en zum mas­si­ven und preis­ge­krön­ten Publikumserfolg.

M. Der Sohn des Jahr­hun­derts (Stutt­gart 2020) erzählt vom Ent­ste­hen des Faschis­mus im März 1919 bis zur Zemen­tie­rung sei­ner Macht 1925 ent­lang der Erleb­nis­se Mus­so­li­nis und wei­te­rer Prot­ago­nis­ten aus sei­nem Umfeld. Geg­ner waren und sind eben­so ver­tre­ten wie sein Mit­ar­bei­ter­stab, unnach­gie­bi­ge Fein­de wie fana­ti­sche Anhänger.

Auch in Der Mann der Vor­se­hung bleibt Scu­ra­ti sei­nem bewähr­ten Stil treu: Vor allem Doku­men­te, Brie­fe, Par­tei­er­klä­run­gen, Poli­zei­ver­mer­ke und Geheim­dienst­ein­schät­zun­gen umrah­men die Erzäh­lung, die kol­por­ta­ge­haft auf­ge­baut ist und sich mal wie ein poli­ti­scher Thril­ler, mal wie ein Aben­teu­er­ro­man liest. Dies­mal befin­det man sich in den Jah­ren 1925 bis Okto­ber 1932; der drit­te Band dürf­te dann die Pha­se bis zum Welt­kriegs­ein­tritt Ita­li­ens abdecken.

Nun also der erzäh­le­ri­sche Ein­stieg Mit­te der Zwan­zi­ger: Der Faschis­mus ist seit drei Jah­ren hege­mo­ni­al, hat aber inter­ne Feh­den, per­sön­li­che Zer­würf­nis­se und Rich­tungs­kämp­fe zu über­ste­hen, den Zorn der par­tei­in­tern Ent­mach­te­ten, fer­ner muß er kon­stan­te Kon­flik­te mit ande­ren Akteu­ren im Land aus­tra­gen, dar­un­ter die mäch­ti­ge katho­li­sche Kir­che, die zer­split­ter­te Lin­ke mit ihren anar­cho­ter­ro­ris­ti­schen Aus­läu­fern oder auch wirt­schaft­li­che Einflußfaktoren.

All dies wird kon­stant chro­no­lo­gisch auf­be­rei­tet, ganz im Stil des ers­ten Ban­des. Aller­dings wirkt der Roman nun schlech­ter­dings schmut­zi­ger. Es geht (noch) stär­ker als im Vor­gän­ger­buch um psy­cho­lo­gi­sche Ver­faßt­hei­ten der Haupt­dar­stel­ler, um All­zu­mensch­li­ches, um Abgrün­de, um nicht zu sagen: um Trash. Wer mit wem ins Bett steigt und wel­che Prak­ti­ken wer betreibt – das ist bis­wei­len ermü­dend, aber Scu­ra­ti gelingt es in der Regel doch, eine expli­zit poli­ti­sche Wen­dung ein­zu­we­ben, also: war­um die­ses und jenes deli­ka­te Detail nun wich­tig für das wei­te­re Gesche­hen der faschis­ti­schen Sze­ne­rie in ihrer kon­kre­ten Epo­che gewe­sen sein soll.

His­to­risch lehr­reich ist schließ­lich (min­des­tens) zwei­er­lei: Ers­tens wird man von Anto­nio Scu­ra­ti auf die liby­schen Unter­neh­mun­gen des ita­lie­ni­schen Kolo­ni­al­hee­res mit­ge­nom­men. Jene Pas­sa­gen sind lite­ra­risch die stärks­ten des viel­sei­ti­gen Doku­men­tar­ro­mans; sie könn­ten allei­ne für sich einen span­nen­den wie ver­stö­ren­den Band erge­ben. Zwei­tens gelingt es dem Autor, die inn­er­fa­schis­ti­schen Front­stel­lun­gen plas­tisch nachzuzeichnen.

Die »har­ten« Abtei­lun­gen der faschis­ti­schen Par­tei um den unduld­sa­men und als füh­ren­des Ekel­pa­ket der ita­lie­ni­schen Nati­on gezeich­ne­ten Rober­to Fari­n­ac­ci (1892 – 1945) sorg­ten bei­spiels­wei­se für so man­chen Wut­aus­bruch des Duce – wie hei­kel und lang­wie­rig die schließ­lich erfolg­rei­che Kalt­stel­lung jener Trup­pen­tei­le ver­lief, kann man sich dank der Lek­tü­re leb­haft vorstellen.

Wer the­ma­tisch am Gegen­stand dran­blei­ben möch­te, kann sich ergän­zend zu den Doku­men­ten in die­sem Buch mit ­Fari­n­ac­cis drei­bän­di­ger Faschis­ti­scher Revo­lu­ti­on aus dem C. H. Beck Ver­lag (Mün­chen 1939 – 1941) beschäf­ti­gen, auch wenn die dort behan­del­ten Pha­sen des Faschis­mus frü­he­re waren als in vor­lie­gen­dem Fall.

Und doch: Es gab eben nicht nur »M«, den Mann »des Jahr­hun­derts« bzw. »der Vor­se­hung«, wie Scu­ra­ti sei­ne Bän­de unter­ti­telt, son­dern auch all jene, die durch »M« wahl­wei­se groß oder klein, salon­fä­hig oder aus­ge­sto­ßen wurden.

Scu­ra­tis Werk unter­hält damit nicht nur den Leser auf beacht­li­chem Niveau, son­dern weckt im bes­ten Sin­ne eine his­to­ri­sche Neu­gier­de, sich neu in die­se Zusam­men­hän­ge ein­zu­le­sen. Mehr kann ein an geschicht­li­chen Fak­ten ori­en­tier­ter Roman, der frei­lich eine Pri­se Fik­ti­on ent­hält, kaum leisten.

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Anto­nio Scu­ra­ti: M. Der Mann der Vor­se­hung. Roman, Stutt­gart: Klett-Cot­ta Ver­lag 2021. 640 S., 28 €

 

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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