Manche Künstler sind mehr als nur Künstler. So bedeutet Homer für die alten Griechen etwas anderes als nur schöne Poesie – seine Epen sind gewissermaßen die Quintessenz des hellenischen Lebens, ein Kompaß innerhalb ihrer Kultur. Goethes Werther beeinflußt die Schicksale ganzer Generationen und reicht bis in den Modegeschmack hinein. Und die Musik eines Richard Wagner nimmt im Pariser Musée d’Orsay die Gestalt von Möbeln und Wohnstil an, gerinnt gleichsam zu Umgebung, in der man seinen Alltag verbringt.
In Rußland existiert seit jeher eine Forderung an die Kunst, über sich selbst hinauszuweisen, einen Platz im Leben einzunehmen. Musik, Malerei und Literatur werden nicht als abstrakte Phänomene, sondern als reale oder gar mythisch übersteigerte Ereignisse wahrgenommen, die jeden Menschen persönlich betreffen.
So ist St. Petersburg nicht nur voll von berühmten Puschkin-Orten, sondern auch von doch eigentlich fiktiven Schauplätzen seiner Werke: Das Haus der Pique Dame, die Newa-Promenade Onegins und so weiter. Und in Moskau wird Touristen noch heute die Stelle an den Patriarchen-Teichen gezeigt, wo der Teufel in Volands Gestalt den Schriftstellern Berlioz und Besdomny begegnete.
Die bildenden Künstler der Avantgarde dringen mit ihrer Keramik- und Textilgestaltung in die gesellschaftlichen Prozesse ein und streben nach einer »Revolution des Geistes«, die nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände aus ihrer Versklavung durch den Konsum befreien soll. Und Komponisten wie Alexander Skrjabin sehen in ihren Tondichtungen weit mehr als nur elitären ästhetischen Genuß – nämlich eine Umwälzung des gesamten Kosmos, eine Vergeistigung allen Seins.
Auch Fjodor Dostojewski ist mehr als ein Schriftsteller. Mit seinen Werken ist er eine Phase im Leben eines jeden Russen – eine Phase der Entwicklung und des Menschwerdens. Und das nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, auf das ganze Volk bezogen. Was er mit seiner Literatur liefert, ist somit echte Philosophie, Philosophie nicht im akademischen, lehrstuhlmäßigen, sondern eher im vorsokratischen und platonischen Sinne: ein tiefer, alle Bereiche des Seins erfassender Prozeß, der durch Läuterung und Prüfung zur Wandlung, ja, zur Vergottung führt. Innerhalb der russischen Philosophie gilt Dostojewski auch seit jeher als Philosoph, denn diese ist nicht akademisch lehrstuhlmäßig, sondern traditionell publizistisch und literarisch (man denke an die Abgefallenen Blätter Wassili Rosanows oder Wladimir Solowjews Kurze Erzählung vom Antichrist).
Niemand, der Dostojewskis Romane in seinen jungen Jahren gelesen hat, wird das seltsame Fieber vergessen, das ihn nächtelang wachhielt und von einer Szene in die nächste jagte. Niemand wird die nervliche Anspannung aus dem Gedächtnis vertreiben, die ganz langsam aus dem großangelegten Chaos von erotischen, finanziellen und gedanklichen Verstrickungen herauswächst und sich in einem bestimmten Augenblick quasi epileptisch entlädt. Niemand wird diese beinahe schon danteartig verschlungenen Pfade durch die Petersburger Höllen und Purgatorien verdrängen, die einzelne Gestalten durchwandern müssen, um schließlich in einem stillen Paradies zu landen.
Und das ist vermutlich auch die wichtigste Lehre aus Dostojewskis Büchern: Daß der Mensch wirklich alles werden kann. Daß es keine Zustände gibt, die seinem Wesen fremd wären.
In der russischen Volksreligiosität lebt bis heute noch die Vorstellung von zwei archetypischen Heiligen – vom heiligen Kassian und vom heiligen Nikolaus dem Wundertäter. Kassian wird auf dem Weg zur Kirche von einem Bauern gebeten, ihm den Wagen aus dem Schlamm herausziehen zu helfen. Da er sich für den Gottesdienst feingemacht hat, verweigert dieser jedoch die Bitte. Aber Nikolaus ist sich dafür nicht zu schade, denn er betrachtet den Einsatz für seine Nächsten, den Dienst am anderen, als den eigentlichen Gottesdienst.
Dostojewski folgt eindeutig dem Archetyp des Heiligen Nikolaus. Er hat keine Angst davor, sich die Finger schmutzig zu machen. Ja, mehr noch, der Weg durch den tiefsten Morast ist für seine Helden etwas geradezu Essentielles. Gemäß dem biblischen Gleichnis von der Perle auf dem Acker wird die wahre menschliche Natur, laut Dostojewski, nicht durch äußere Befleckung verderbt. Sie hat immer die Möglichkeit, jede erdenkliche Erfahrung zu machen. Sie kennt keine Tabus und keine Regeln. Sie kann unendlich tief sinken, was sie nicht daran hindert, nach dem Moment der Katharsis unendlich hoch aufzusteigen.
Dostojewskis Romane reißen den Leser aus seinen gewohnten Bahnen heraus. Sie sind – und das nicht allein für den Neuling – oftmals ein Sprung ins kalte Wasser. Jeder feste Halt wird da verworfen, jeder Gedanke, auch einer, den man für gewöhnlich nicht an sich heranläßt, konsequent zu Ende gedacht.
Gerade in unserer Zeit werden ja die Menschen, insbesondere die jungen, immer stärker in ein Geflecht aus Vorstellungen hineingezwängt, die als einzig zulässig gelten, während andere zur gleichen Zeit ausgeblendet oder dämonisiert werden. Denn wo die Zensur von Taten und Worten auf Handlanger angewiesen ist, kommt die anerzogene Gedankenzensur von innen, und von einem gewissen Moment an bedarf es keines Zugriffs von außen mehr. An so einem Punkt kann eine Begegnung mit bedingungsloser, uneingeschränkter Gedankenfreiheit, die sich alles herausnimmt, sogar das »Verbotene«, eine Schockwirkung auslösen und im günstigsten Fall zu einer Art Initiation führen.
Entscheidend ist, daß Dostojewski dem Individuum nicht nur jegliche Art der Verirrung gestattet, sondern auch bereit ist, jeden Verirrten, unabhängig von der Tiefe seines Falls, dennoch als Menschen anzunehmen – allein schon deshalb, weil jener als Mensch einen Widerschein Gottes in sich trägt. (Und es ist ebendieser Widerschein Gottes und nicht etwa das bloße Anderssein, welches das Individuum zum Individuum macht.) Eine christlichere Haltung ist wohl kaum denkbar. Sie legt die Axt nicht nur an die Grundfesten der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung, sondern auch an das, was sich gemeinhin als »Kulturchristentum« bezeichnet – an die uns heute nur zu gut vertraute Vorstellung vom »christlichen Abendland«, in dem eine wohlmeinende Gemeinschaft mit denselben Werten und Gesetzen lebt.
Was Dostojewski vermutlich besonders aufstoßen würde, wäre der Gedanke daran, daß sich die Menschen dort »eingerichtet« hätten, in einer geistigen Komfortzone lebten. Auf seiner Skala wäre das »geistiges Spießertum« und als höchst verwerflich zu beurteilen, noch verwerflicher als das materielle Spießertum. Wie der Menschensohn des Evangeliums sollte auch der Mensch keinen Ort haben, an dem er sein Haupt niederlegen, an dem er es sich bequem machen könnte.
Der Gedanke daran, daß ein Mensch sich in ein bestehendes Raster einfügen soll, ist für Dostojewski schier unerträglich. Mit Dostojewski ist hier freilich das Werk gemeint und nicht die Person des Schriftstellers. Er, der 1821 Geborene, tritt in seinen jungen Jahren nach den ersten erfolgreichen Publikationen einer revolutionären Untergrundzelle bei, wird verhaftet und 1849 zum Tode verurteilt. Das Urteil wird in letzter Sekunde aufgehoben und durch mehrjährige Verbannung ersetzt.
In seiner zweiten Lebensphase ist er wiederum ein durchaus konservativer Zeitgenosse mit durchaus gefestigten politischen, religiösen und gesellschaftlichen Meinungen und tut diese in seiner Publizistik kund. Doch in seinen Romanen wäre er bloß ein Statist – nur einer unter vielen. Schließlich herrscht dort allenthalben eine geradezu babylonische Sprachverwirrung, bestehend aus den widersprüchlichsten Ansichten und Haltungen. Denn seiner tiefsten Überzeugung nach besitzt jeder Mensch eine »Idee«. Damit ist mehr gemeint als nur ein Geistesblitz, eher so etwas, wie ein leitender Lebensimpuls, etwas, wovon der Mensch besessen ist, was er nicht loslassen kann. Erst das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen, oft sogar konträren Impulse ergibt eine menschliche Gemeinschaft.
Dostojewski geht aber noch weiter. Denn im Prinzip besitzt auch jeder einzelne Mensch in sich selbst eine solche Farbpalette der widersprüchlichsten, widerspenstigsten »Ideen« und kann sich jederzeit, ohne Rücksicht auf Verluste und quasi willkürlich, für ein Extrem entscheiden. Es ist gerade dieser Zug seiner Helden, der uns beim Lesen so weh tut: Mit ansehen zu müssen, wie Fürst Myschkin oder der Hauslehrer Alexej bar jeder Vernunft und zum eigenen Schaden einen nicht wiedergutzumachenden Schritt tun und sich mit diesem alle Zukunft auslöschen.
Und doch ist das charakteristisch für einen Menschen, eben weil er ein Mensch ist. Solange der Mensch seiner »Idee« folgt, aus tiefstem Antrieb heraus handelt, bleibt er seinem Menschsein treu, ganz gleich, ob er »Gutes« oder »Böses« tut. Viel verächtlicher ist Dostojewski gegenüber den Feigen, den Lauwarmen, die, laut Dante, selbst die Hölle ausspeit. Sie sind für ihn die eigentlichen »Spießer des Geistes«, die sich mit aller Kraft an den Status quo klammern, der doch vollkommen illusorisch ist.
Das oberste Kennzeichen des Menschen ist und bleibt seine persönliche, möglicherweise sogar zerstörerische Freiheit. Damit widerspricht Dostojewski im Kern jener Lehre, die uns in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, seit einigen Jahren eingetrichtert wird und mittlerweile offenbar bei links wie rechts zum Konsens geworden ist: Die persönliche Freiheit ende genau dort, wo das Strafrecht einsetze, ende dort, wo die Freiheit des anderen beginne. Ebenso wie auch die freie Meinungsäußerung.
Dostojewskis Freiheitsbegriff, wie er aus seinen Werken heraustritt, würde vollkommen anders lauten: Die Freiheit des Menschen ist uneingeschränkt, sie endet nirgends, sie beginnt nirgends, sie macht vor keiner Grenze halt, ganz gleich, ob strafrechtlich relevant oder nicht. Oder, in den Worten von Hermann Hesses Demian ausgedrückt: »Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören«. Sehr wohl aber muß der Mensch, der eine Grenze überschreitet, bereit sein, die Konsequenzen dafür zu tragen.
Ob Christus, der sich als Sohn Gottes bezeichnet, oder der islamische Sufi-Heilige Al-Halladsch, der öffentlich verkündet, er sei die göttliche Wahrheit – beide brechen, um die innere Erkenntnis zu offenbaren, das geltende äußere Gesetz, wofür sie, der Gotteslästerung angeklagt, bewußt die Kreuzigung in Kauf nehmen. Bei Dostojewski muß Christus noch nicht einmal etwas sagen: In der Großinquisitor-Legende reicht bereits seine Manifestation, seine bloße Anwesenheit aus, um die bestehende Ordnung zu bedrohen, weshalb er erneut angeklagt wird.
Dostojewskis Christentum ist auch nur im Sinne einer solchen bedingungslosen Freiheit zu verstehen. Diese Vorstellung ist ihrem Wesen nach mystisch und zählt zum »verborgenen« Kern der Orthodoxie, dem Starzentum. Starez ist die russische Bezeichnung für das, was im Deutschen »Altvater« genannt wird – ein Mönch mit großer geistiger Autorität jenseits kirchenamtlicher Hierarchien. Die Starzen sind also auf der einen Seite Teil der »Kirche«, auf der anderen Seite aber nicht. Oft leben sie innerhalb der Klostermauer, doch sind sie nicht an die Klosterregeln gebunden, sondern gehorchen einem unbestechlichen, aus unmittelbarer Gotteserfahrung geschöpften Gesetz.
Aus dieser geistigen Freiheit heraus, die selbst vor den kirchlichen Gesetzen nicht haltmacht, ergeben sich zwar immer wieder Konflikte, wie am Beispiel Sossimas in den Brüdern Karamasow gezeigt, und doch ist sie in der Lage, jeglichen Streit zu überwinden, und erweist sich als das eigentlich Verbindende. In seiner berühmten Puschkin-Rede erhebt Dostojewski die Fähigkeit des Menschen, alle Gegensätze in sich selbst nicht nur zu erkennen und auszuloten, sondern auch miteinander zu versöhnen, zur allerhöchsten geistigen Leistung.
Symbolisch zeigt sie sich in der Gestalt des »Allmenschen« oder des »russischen Menschen«. Also nicht das verbissene Beharren auf der eigenen Position (wie etwa dem Slawophilen- oder dem Westlertum), sondern die innere Flexibilität, jeden erdenklichen menschlichen Ausdruck als etwas Menschliches anzunehmen. Denn das Beharren auf der eigenen Position bleibt immer Teil, niemals das Ganze.
Es ist das Sosein, der Status quo, was die menschliche Freiheit einzuschränken versucht. Am allermeisten aber knechtet den Menschen von außen das Geld. Aus diesem Grund ist Dostojewski möglicherweise der größtdenkbare Kritiker des Kapitalismus. Geld – als rein materieller Besitz – ist insofern stets eine Herausforderung. Wie der Hauslehrer Alexej im Spieler verkündet, will er mit seiner »wilden Tatarenseele« unter gar keinen Umständen ein Exponent von Rothschild und Konsorten sein, sondern lieber das Geld zum Fenster hinauswerfen und tun und lassen, was ihm gefällt. Zwar hängen vom Geld die Geschicke der Menschen ab, die Zukunft ganzer Familien ist darauf gebaut, und doch ist gerade diese Tatsache das Entwürdigendste, was dem Menschen widerfahren könnte, denn es entwertet ihn und macht ihn zu einem Spielball äußerer Kräfte.
Die verzweifelte Zerreißprobe zwischen Haben und Sein zieht sich wie ein roter Faden durch Dostojewskis Leben und Werk. Doch gerade in Augenblicken wie am Roulettetisch offenbart sich vor seinem inneren Auge die ganze metaphysische Nichtigkeit des Geldes. Es ist gleichsam nicht existent. Wie winzige molekulare Teilchen, wie Mückenschwärme, wie Konfettiwolken schwirren riesige Summen an ihm vorbei, landen kurz bei ihm und entschwinden wieder. Es sind Zahlenreihen ohne jeden Bestand, etwas, das in Wellen kommt und geht. Das Gefühl, diese im wahrsten Sinne des Wortes Unsummen durch seine eigenen Hände zu jagen, verwandelt sich in jähe Lebenslust, als würde man mitten im Auge eines Orkans stehen, und nimmt offen sexuelle Züge an.
Will man aus allem oben Gesagten eine politische Lehre ziehen? Politische Leitsätze beruhen nun mal auf Schnittmengen und Abgrenzungen. Vor diesem Hintergrund muß Dostojewski in jedem Lager eine Fehlfarbe sein. Im ideologischen Gepäck von Parteien stellt er immer einen Risikofaktor dar. Wer sich ihn auf die Fahne schreibt, muß mit der Möglichkeit rechnen, daß die »alten Schläuche an dem jungen Wein zerreißen«. Denn die Schläuche sind »alt« in dem Sinne, daß sie Auffangbehälter sind und etwas um jeden Preis bewahren wollen. Der Wein aber ist »jung«, weil er brodelt und gärt und die Trinkenden in einen Rausch versetzt.
Hinzu kommt die unerbittliche Tatsache, daß dies großangelegte »Bleiben ist nirgends« nicht allein für die Gegenwart gilt. Utopien sind Dostojewski verhaßt. Die Rettung der ganzen Welt verwirft er, so lesen wir es in den Brüdern Karamasow, sollte diese um den Preis auch nur einer einzigen Kinderträne erfolgen.