Denunziantentum als Staatstugend

von Thorsten Hinz

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Die poli­ti­sche Kri­mi­na­li­sie­rung des Insti­tuts für Staats­po­li­tik (IfS) als »gesi­chert rechts­extre­me Grup­pie­rung« begrün­det das Lan­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz von Sach­sen-Anhalt unter ande­rem damit, daß das IfS sich bemü­he, den »Raum des Sag­ba­ren« auszudehnen.

Dar­an ist min­des­tens zwei­er­lei bemer­kens­wert: Ein Inlands­ge­heim­dienst erhebt in der Manier eines Hei­li­gen Offi­zi­ums den Anspruch, ver­bind­lich fest­zu­le­gen, was öffent­lich the­ma­ti­sier- und dis­ku­tier­bar ist und was nicht. Und er agiert dabei als ver­län­ger­ter Arm eines poli­tisch-media­len Kom­ple­xes, der sich nur sicher fühlt, solan­ge der öffent­li­che Raum durch geheim­dienst­li­che Obser­va­ti­on ein­ge­hegt und von Furcht und Kon­for­mis­mus durch­setzt ist.

Der Ver­fas­sungs­schutz (VS) von Bund und Län­dern ist eine bun­des­deut­sche ­Exklu­si­vi­tät. Er wur­de auf Geheiß der Alli­ier­ten errich­tet, die über die Staats­grün­dung der Bun­des­re­pu­blik 1949 hin­aus eine poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Vor­mund­schaft bei­be­hal­ten woll­ten. Bei der »Inter­pre­ta­ti­on des Rechts­ra­di­ka­lis­mus-Pro­blems« agier­ten sie von Anfang an »als der sicht­ba­re Drit­te in die­sem von Exe­ku­ti­ve und Judi­ka­ti­ve domi­nier­ten Gesche­hen«, schreibt der Zeit­ge­schicht­ler Nor­bert Frei.

Ein bri­ti­scher Geheim­be­richt von 1953 gab zu, daß von rech­ten Grup­pie­run­gen kei­ne Gefahr für den Bestand des Grund­ge­set­zes aus­ging. Gefürch­tet wur­de viel­mehr, daß ihr Erfolg die Bevöl­ke­rung mit einem »kom­pro­miß­lo­sen Natio­na­lis­mus infi­zie­ren« wür­de. So könn­ten »rück­sichts­lo­se Rea­lis­ten« bereit sein, errun­ge­ne poli­ti­sche Macht »gegen das gesam­te Kon­zept der euro­päi­schen Ein­heit und west­li­chen Ver­tei­di­gung ein­zu­set­zen, soll­ten sie der Ansicht sein, daß das in ihrem Inter­es­se liegt«.

Die Streit­fra­ge lau­te­te damals, ob einer auf rasche Wie­der­ver­ei­ni­gung oder einer auf West­bin­dung gerich­te­ten Poli­tik der Vor­zug zu geben sei. Für bei­de Stand­punk­te gab es gewich­ti­ge Argu­men­te. Das Abson­der­li­che lag dar­in, daß äuße­re Mäch­te unmit­tel­bar in einen innen­po­li­ti­schen Dis­kurs ein­grif­fen und sich dazu eines inner­staat­li­chen Organs bedien­ten, das sie vor­sorg­lich imple­men­tiert hat­ten. Die Bun­des­re­pu­blik soll­te sich nicht pri­mär als Statt­hal­te­rin eines künf­ti­gen deut­schen Ein­heits­staa­tes, son­dern als selbst­ver­wal­te­te Pro­vinz einer »west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft« definieren.

Die lang­fris­ti­gen Fol­gen waren tief­grei­fend. »Pro­vin­zia­lis­mus: Ein struk­tu­rel­ler Befund«, über­schrieb 1990 der kürz­lich ver­stor­be­ne Mer­kur-Her­aus­ge­ber Karl Heinz Boh­rer eine sei­ner gal­li­gen Glos­sen über die poli­ti­sche, geis­ti­ge und kul­tu­rel­le Medio­kri­tät, wel­che die Bun­des­re­pu­blik in die Wie­der­ver­ei­ni­gung einbrachte.

Der poli­tisch-media­le Kom­plex war geschockt von der Aus­sicht, sich fort­an eigen­stän­dig, ohne frem­de Vor­be­halts­rech­te in der Welt zurecht­fin­den zu sol­len, und ersehn­te die Auf­lö­sung des Lan­des in post­na­tio­na­len Struk­tu­ren. Die­ser Wunsch ein­te Kom­mu­nis­ten, Grü­ne, Sozi­al­de­mo­kra­ten, Libe­ra­le und Uni­ons­chris­ten und bie­tet die Erklä­rung, wes­halb die SED-Nach­fol­ger sehr schnell zum demo­kra­ti­schen Lager gezählt wur­den, wäh­rend jene, die für Volks­sou­ve­rä­ni­tät und den Bei­be­halt des demo­kra­ti­schen Natio­nal­staa­tes ein­tre­ten, wie jetzt im VS-Bericht von Sach­sen-Anhalt mit Droh­for­meln wie »ras­sis­ti­sche und bio­lo­gis­ti­sche Sicht­wei­sen« oder »völkische[r] Kol­lek­ti­vis­mus« belegt, als heim­li­che Wie­der­gän­ger des NS-Regimes gebrand­markt und fak­tisch vogel­frei gestellt werden.

Der »Kampf gegen rechts«, zu des­sen Haupt­ak­teu­ren der VS zählt, ist ein Kampf gegen das kol­lek­ti­ve Selbst, ein Akt der Auto­destruktion. Er ver­fährt nach der Logik vom objek­ti­ven Geg­ner, des­sen Ver­bre­chen nicht in sei­nen Taten, son­dern in den ver­meint­lich bösen Absich­ten liegt, die man ihm unter­stellt und die in Wahr­heit die Pro­jek­tio­nen der eige­nen, ver­que­ren Ideo­lo­gie sind. Wo die Ras­sen­fra­ge zur Staats­dok­trin erho­ben wird, ist der Geg­ner eben der Jude.

Im neo­to­ta­li­tä­ren Anti­fa­schis­mus wer­den die Ver­fech­ter des Anti­to­ta­li­ta­ris­mus als die neu­en Faschis­ten stig­ma­ti­siert. Und wenn eine Nati­on ver­schwin­den will – bezie­hungs­wei­se ihre Eli­ten ihr Ver­schwin­den anstre­ben –, dann wer­den die Spre­cher des natio­na­len Selbst­in­ter­es­ses wenigs­tens in den sozia­len Käl­te­tod geschickt. Noch das klügs­te Gegen­ar­gu­ment ver­hallt, weil es auf einen ent­schlos­se­nen Ver­nich­tungs­wil­len trifft.

Die­ses Ver­fah­ren hat E. T. A. Hoff­mann in sei­nem Mär­chen Meis­ter Floh (1820) modell­haft beschrie­ben. Hoff­mann war damals Kam­mer­ge­richts­rat in Ber­lin. Die Ermor­dung des Schrift­stel­lers August von Kot­ze­bue durch den Stu­den­ten Karl Lud­wig Sand 1819 hat­te ihn zwar in der Mei­nung bestärkt, »daß dem hirn­ge­spens­ti­schen Trei­ben eini­ger jun­ger Stru­del­köp­fe Schran­ken gesetzt wer­den muß­ten«, nur soll­te das rechts­staat­lich und nach objek­ti­ven Kri­te­ri­en erfol­gen. Mit die­ser Auf­fas­sung geriet er in Gegen­satz zum dama­li­gen Poli­zei­di­rek­tor Kamptz, der im Buch »Knarr­pan­ti« heißt.

Für Knarr­pan­ti sind Stu­den­ten natur­ge­setz­li­che Ver­bre­cher. »Auf die Erin­ne­rung, daß doch eine Tat began­gen sein müs­se, wenn es einen Täter geben sol­le, mein­te Knarr­pan­ti, daß, sei erst der Täter aus­ge­mit­telt, sich das began­ge­ne Ver­bre­chen von selbst fin­de.« Nur ein »ober­fläch­li­cher Rich­ter« sei nicht imstan­de, »dies und das hin­ein­zu­in­qui­rie­ren, wel­ches dem Ange­klag­ten doch irgend­ei­nen Makel« anhän­ge. Als er im Tage­buch eines Ver­haf­te­ten den Satz fin­det: »Heu­te war ich lei­der mords­faul«, fol­gert er dar­aus, »ob wohl jemand ver­bre­che­ri­sche­re Gesin­nung an den Tag legen kön­ne, als wenn er bedaue­re, heu­te kei­nen Mord ver­übt zu haben«! Knarr­pan­ti ist die per­so­ni­fi­zier­te Para­noia. Inner­halb sei­nes Denk­ge­bäu­des ist ihm nicht bei­zu­kom­men, denn jeder Wider­spruch bestä­tigt nur sei­ne Sicht auf den objek­ti­ven Feind.

Auf die inne­re Beschaf­fen­heit die­ses Gedan­ken­po­li­zis­ten und Zen­sors ist Hoff­mann nicht wei­ter ein­ge­gan­gen. Doch in der Titel­fi­gur des Romans Tall­ho­ver von Hans Joa­chim Schäd­lich hat Knarr­pan­ti sei­ne Wie­der­auf­er­ste­hung und Trans­for­ma­ti­on erlebt. Tall­ho­vers Lebens­weg beginnt 1819 und endet um 1955. Er ist der Pro­to­typ des ewi­gen Spit­zels, ein redu­zier­ter Cha­rak­ter, ein Klas­sen­pet­zer. Er sieht sei­ner Mut­ter heim­lich bei der Not­durft zu – der Zusam­men­hang von kind­li­cher Anal­pha­se, Ödi­pus­kom­plex, Voy­eu­ris­mus und Zwangs­neu­ro­se erschließt sich bei der Lek­tü­re Sig­mund Freuds.

Er hat kei­ne Freun­de und ist ein fana­ti­scher Puz­zle­spie­ler. Beflis­sen, auto­ri­tär und ängst­lich, fehlt ihm der Mut zum eigen­stän­di­gen Leben. Gemäß der Dia­lek­tik von Ohn­machts- und All­machts­ge­füh­len zieht er sei­nen kar­gen Genuß dar­aus, das Leben ande­rer zu obser­vie­ren, sie durch sei­ne All­wis­sen­heit ein­zu­schüch­tern und zu manipulieren.

Gera­de erwach­sen gewor­den, sucht ­Tall­ho­ver um »eine frucht­ba­re Tätig­keit bei der Kri­mi­nal­po­li­zei« nach. Die Spur sei­nes Wir­kens zieht sich vom Köl­ner Kom­mu­nis­ten­pro­zeß 1852 über die Gesta­po bis zur Sta­si. Nach dem Ost­ber­li­ner Arbei­ter­auf­stand vom 17. Juni 1953 sieht er sich an der Unmög­lich­keit geschei­tert, an der jeder Spit­zel bis­her noch Schiff­bruch erlitt: Er kann sei­nen Mit­men­schen eben doch nicht in Herz und Hirn schau­en und wird daher vom Gang der Geschich­te immer wie­der über­rascht. In einem Ver­fah­ren, das an Kaf­ka und an die Mos­kau­er Schau­pro­zes­se von 1936 bis 1938 erin­nert, ver­langt er für sich das Todes­ur­teil. Sei­nen Tod will er als Opfer zur Per­fek­tio­nie­rung des Sys­tems ver­stan­den wissen.

Schäd­lich war 1977 aus der DDR in die Bun­des­re­pu­blik gekom­men. Als das Buch 1986 erschien, lag es nahe, den Rom­an­schluß als das anti­zi­pier­te Endes des Sta­si-Staa­tes zu inter­pre­tie­ren. Heu­te wis­sen wir, daß der sys­tem­über­grei­fen­de Knarr­pan­ti / Tall­ho­ver-Typ auch in Demo­kra­tien gefragt ist. Denn das Spit­zeln, Kon­trol­lie­ren und Denun­zie­ren ist eine Kon­stan­te, die Macht generiert.

Es liegt in der Natur von Arkan-Behör­den, daß Men­schen mit ent­spre­chen­der Dis­po­si­ti­on sich manisch von ihnen ange­zo­gen füh­len. Der Vor­zug des Rechts­staats und der Demo­kra­tie besteht in der Theo­rie dar­in, daß sie aus­drück­lich mit den mensch­li­chen Unzu­läng­lich­kei­ten rech­nen und sie durch »unge­heu­er kom­pli­zier­te Abläu­fe und Pas­sun­gen« und einen »gran­dio­sen und emp­find­li­chen Orga­nis­mus des Mit­ein­an­der« so weit her­un­ter­dim­men, daß »die Men­schen bei all ihrer Schlech­tig­keit au fond so schwe­re­los anein­an­der vor­bei­kom­men«, wie Botho Strauß im »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« formulierte.

Doch die Tall­ho­ver- und Knarr­pan­ti-­Ty­pen haben die Insti­tu­tio­nen und die ­Pro­ze­du­ren, die ihre Schlech­tig­keit bän­di­gen soll­ten, erobert und über­schrie­ben. Kaum daß die geis­ti­ge Käse­glo­cke, die der Jahr­zehn­te wäh­ren­de Kal­te Krieg und die deut­sche Tei­lung über das Land gelegt hat­ten, ange­ho­ben war, ging der mora­lin­saure Pro­vin­zia­lis­mus, der dar­un­ter schim­mel­te, in eine gäri­ge Natio­nal­neu­ro­se über, die sämt­li­che Berei­che der Gesell­schaft tran­szen­diert und den von Hoff­mann und Schäd­lich beschrie­be­nen Zwangs­neu­ro­ti­kern ein wei­tes Betä­ti­gungs­feld bietet.

Von einem neu­ro­ti­sier­ten Gemein­we­sen darf man wohl spre­chen, wenn die Unter­schei­dung, wer dazu­ge­hört und wer nicht, ja schon die Erör­te­rung der Fra­ge, zum ver­fas­sungs­feind­li­chen Ver­ge­hen erklärt wird. Eine Gesell­schaft, die den Unter­schied von innen und außen nicht mehr wahr­ha­ben will, stellt ihre Exis­tenz in Fra­ge. Wo der »Orga­nis­mus des Mit­ein­an­ders« auf Selbst­auf­lö­sung pro­gram­miert ist, herrscht ein kol­lek­ti­ver Wahn und ver­lie­ren Begrif­fe wie Demo­kra­tie, Moral, Wahr­heit ihren Sinn.

Arkan- und öffent­li­che Insti­tu­tio­nen gehen längst inein­an­der über. Das Kon­trol­lie­ren, das Denun­zie­ren und die Ver­nich­tung sozia­ler Exis­ten­zen sind öffent­li­che Ange­le­gen­hei­ten, die als zivil­gesellschaftliches Enga­ge­ment geför­dert und prä­miert wer­den. Jour­na­lis­ten und Extre­mis­mus-Exper­ten bedie­nen sich bei der Auf­de­ckung ver­meint­li­cher rech­ter Umtrie­be häu­fig der­sel­ben Sprach- und Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter, die man in den Berich­ten inof­fi­zi­el­ler Sta­si-Infor­man­ten vor­fin­det. Die­se waren aller­dings geheim, was dafür spricht, daß die Sta­si mit einer weit­hin intak­ten Moral der All­ge­mein­heit rech­nen muß­te, die der staat­li­chen Indok­tri­na­ti­on trotzte.

Soviel Rück­sicht­nah­me ist offen­bar nicht mehr nötig. Wenn jetzt das Insti­tut in Schnell­ro­da mit einer pom­pö­sen öffent­li­chen Feind­mar­kie­rung ver­se­hen wird – gegen wen und was spricht das wohl?

 

Die­ser Text erschien zuerst in der Wochen­zei­tung Jun­ge Frei­heit, Aus­ga­be 42 vom 15. Okto­ber 2021.
Der Nach­druck erfolgt mit freund­li­cher Genehmigung.

 

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