Intensiv wirksam sind die eindringlichen Betreffnisse: Niederlagen, Krankheit, Schmerz. Also das, was an und unter die Haut geht.
Erfolg ist eindrucksvoll und, klar, wohltuend, aber ist er produktiv? Man mag durch ihn erkennen, daß man sehr vorübergehend Entscheidendes wohl passend regelte und einen aufmerksamen Sensor für das Erspüren des Glücks oder für den Kairos (Καιρός) entwickelt hat, mehr aber nicht.
Ein Beispiel aus dem eigenen Nahbereich:
Im letzten Februar begann plötzlich in meinem unteren Rücken ein fulminant eindrucksvoller Schmerz, der sogleich tief ins rechte Bein und bis in den Fuß ausstrahlte. Kennen viele: Bandscheibenvorfall. An sich trivial, aber trivial findet man’s nur, solange es einen nicht betrifft. Ich ignorierte es zunächst und hielt‘s für Altmännerkram. Ja, ich dachte an mein Alter, meinte aber: Ich doch nicht! Nicht bei so satten Trainingseinheiten.
Aus Gewohnheit hielt ich gegen: Einfach weiter mit Kraft- und Ausdauertraining, so wie seit Jahren. Kein Nachlassen, eher die Schlagzahl erhöhen. Nichts wurde besser, sondern alles schlimmer. Vor allem: Der Schmerz blieb und übernahm die Herrschaft.
Bald saß ich einem routinierten Orthopäden gegenüber, dem sichtlich nichts so fremd war wie Engagement. Er hatte einen Rollatorparkplatz auf dem Flur und das ganze Wartezimmer voller alter verbogener Menschen. Es lief bei ihm.
Also tat er das Übliche, überwies mich zum MRT, ohne selbst irgendwas zu unternehmen. Die vom Radiologen übermittelte Diagnose las er mir wie ein Notar vor: Bandscheibenvorfall zwischen zweitem und drittem sowie viertem und fünftem Wirbel, darüber hinaus noch ein Ganglion, das auf einen Nerv drückte, als Zugabe irgendwo eine Rißbildung.
Zum einen ist das zwar etwas viel auf einmal, im Wesentlichen, aber dennoch eine Art Standardfall in meiner Altersgruppe, zum anderen war ich von jeher dafür prädestiniert: Skoliose, allerlei orthopädische Fehlstellungen von unten bis oben.
Von Kindheit an hatten es Ärzte verwundert bis konsterniert bemerkt, und nach einer ersten mich nahezu rechtwinklig beugenden Schmerzattacke während der Armeezeit und intensiver Kurzbehandlung in einem Lazarett dachten kühle DDR-Militärärzte sogar über vorzeitige Ausmusterung nach, entschieden sich aber schließlich dagegen. Zur Verabschiedung nach den Untersuchungen auch später immer wieder das ernste Orakel: Mit ihrer Wirbelsäule werden Sie aber irgendwann noch richtige Probleme bekommen. Schulterzucken – und weiter.
Orthopädisch ganz gesund ist bekanntlich niemand, deswegen nahm ich’s locker – und sportlich. Jahrzehntelang Ausdauerläufe, Fahrrad sowieso, Kraftübungen. Als die Knie verschlissen waren und ich auf lange Läufe verzichten mußte, saß ich weiterhin auf dem Rad und entwickelte mir eine spezielle Gymnastik, orientiert an Yoga und tibetischem Lu Jong. Täglich zog ich meine Übungen durch. Man arbeite mit dem Zeug, was einem von Geburt an mitgegeben ist, mit den Talenten ebenso wie mit den Handicaps. Ersteres mag beglücken, Zweiteres schult.
Mein Fehler: Wie stets Vermessenheit. Ich hielt mich nämlich für gefeit. Mit stiller Häme dachte ich an die Verheißungen der Mediziner, irgendwann würde ich schon einen Wirbelsäulenschaden spüren. Ha, ich doch nicht! Bei dem Pensum Kraft, Ausdauer und Gymnastik gar nicht möglich. Man las doch überall, daß Mängel in der Statik des Skeletts durch kräftige Muskulatur aufgefangen würden.
Nun also doch ein Crash, widerlich schmerzhaft, obwohl ich früher annahm, ordentlich was aushalten zu können. Der mißmutige Orthopäde meinte, ich könnte mir immer mal ein Rezept für die größeren Ibuprofen-Formate abholen. Einfach vorn am Tresen Bescheid geben, wird dort flott ausgedruckt, neuerlicher Termin nicht nötig. – Ach, und eins noch, Herr B., rief er mir nach. Sie sind doch richtig gut beweglich. Solche wie Sie kommen immer irgendwie durch. –
Monatelang versorgte ich mich mit Ibuprofen. Mit 600, gar 800 Milligramm davon läuft alles, einerlei, welchen orthopädischen Schaden man hat. Schwierigkeiten im Magen-Darm-Bereich muß man riskieren. Risiko gehört nun mal dazu.
In stiller Arroganz pfiff ich zunächst auf die anempfohlene Physiotherapie, nachdem ich auf dem Überweisungsschein die Worte Wärmebehandlung und Fango gelesen hatte. Ist eher eine Beschäftigungstherapie für Rentner, dachte ich mir, und exerzierte auf Ibuprofen weiter meine vertraut harten Übungen, die meisten davon in meiner Situation vermutlich falsch bis unsinnig. Wenigstens die Hanteln hätte man wohl weglassen müssen.
Sank der Ibu-Spiegel, stellte sich pünktlich wie ein Gespenst der viehische Schmerz ein und tackerte mich fest. Bewegungsapparat umfassend blockiert. Also nachlegen, mehr Ibu einspülen, um durch den Tag und die Nacht zu kommen. Wochenlang, monatelang.
Als ich merkte, daß die Intensität des Schmerzes geduldig zunahm, ließ ich mich auf die Warteliste eines Schmerztherapeuten setzen, futterte bis dahin noch ein weiteres Vierteljahr Ibuprofen, bis ich bei jeder Konsultation in der neuen Praxis eine Spritze in den Rücken und ein Rezept für Großpackungen von Pillen gegen neuropathischen Schmerz sowie Morphinpräparate bekam. Kein Ibu mehr, dafür Tilidin, das ich von Capital Bra kannte, der damit so seine eigenen Probleme hatte.
Endlich nahm ich die Physiotherapie ernst, arbeitete die Termine artig ab und wollte was lernen, da mir die Angst im Nacken saß. Vor richtigem Schmerz bekommt man nämlich geradezu Angst – auch in der Weise, daß plötzlich irgendwas eintritt, was einen völlig bricht oder gar noch das Bein lähmt.
Zudem: Man ist mit Schmerzen nicht anzubieten. Oder meint es wenigstens. Bestenfalls stehen Kollegen, Verwandte, Freunde hilflos daneben, wenn sie mitbekommen, daß es in einem beständig reißt, obwohl man sich zusammenreißt. Was sollten sie tun? Man muß es allein tragen, ist aber nicht in Stimmung und sinnt immerfort auf Rückzug. Allein kann man besser fluchen oder stundenlang bei Klassik-Radio den mürben und verspannten Leib dehnen.
Noch immer befleißige ich mich der neu erlernten Übungen und versuche nicht mehr kerlnarzißtisch wie früher die eigentlich sichtbare Muskulatur auszubilden, sondern jene, die dicht am Skelett liegt. Alles mit sehr mäßigem Erfolg, denn ohne pharmazeutische Unterstützung komme ich bislang weder durch Tage noch Nächte.
Dies als Beschreibungsskizze im Sinne eines Fallbeispiels. Mir liegt nun genau nicht daran, hier eine orthopädische Selbsthilfegruppe unter meinen Boomer-Gefährten zu begründen, mir liegt noch weniger am wohlmeinenden Rat von Betroffenen oder gar Medizinern, denn prinzipiell blicke ich durch.
Ich sah zudem genug Youtube-Videos höchst gelenkiger Physiotherapeuten, die damit warben, sie wüßten genau die richtige Übung, nicht selten sogar jene, die sofort und unmittelbar alle Blockaden löst. Ich habe eine Menge davon durch, und daß ich mich kräftigte, störte den Schmerz selbst überhaupt nicht. Der blieb mir ganz verbindlich treu. So, wie er früher stets fehlte, war er neuerdings immer präsent, mittlerweile beinahe als guter Vertrauter.
Wichtiger als alle Turnerei scheint die bewußte Erfahrung des Verfalls, also zu erleben, inwiefern wir – wie alles andere – der Entropie unterworfen sind, jenem geradezu ontologisch zu veranschlagenden grundsätzlichen Vorgang, der gemäß zweitem Hauptsatz der Thermodynamik ganz zwangsläufig zur stetigen Entladung der Batterien führt, die unsere Realität und somit unser Leben antreiben. So jedenfalls formulierte es Brian Greene in Anlehnung an Bertrand Russell.
Gewisser als jede Struktur, jede Bildung, jede Ordnung sind die Auflösung, der Zerfall, die Unordnung. Der Vorgang des Zersplitterns eines Glases, das auf dem harten Boden aufschlägt, ist zeitlich nur in eben dieser Richtung vorstellbar und nicht umkehrbar; die Splitter finden sich nicht von allein zu einem neuen Glas zusammen.
Unserem Körper ergeht es nicht anders. Wir werden amorph und zerbröseln. Man lese bei Interesse weiter bei Ludwig Boltzmann nach. Eine Bandscheibe, die rausflutscht, zieht sich nicht einfach so wieder dorthin zurück, wo in der Jugend ihr Platz war. Die aufrechte Haltung, die stabile Gewachsenheit einer Struktur ist das Unwahrscheinliche, die Unordnung und Aufgelöstheit viel wahrscheinlicher.
Mediziner und Physiotherapeuten können für unsere lebendigen Körper vorläufig und kurzfristig so allerlei korrigieren, aufschiebend, lindernd, mitunter auch Hardware-Schäden reparierend – so daß irgendwann ein paar Stückchen Titan in der Asche liegen. Nur bleibt letztlich doch nur der Verfall und also das Erfordernis, eine Art des versonnen lächelnden Umgangs damit zu entwickeln, solange man weiterleben will, sollte oder muß.
Auf die Thematiken des Maßhaltens und Reduzierens bin ich aus besonderen Gründen seit Jahren geradezu fixiert. Und sicher darin, daß genau das prinzipiell gute Möglichkeiten offeriert.
Hinzu kommt die Übung in der Demut, unvertrauert einzusehen, daß ich – wie alles Leben – in meiner Einzelvariante Dasein vergänglich bin, daß ich verfalle, erst hier und da über einkrachenden Sollbruchstellen, schließlich aber in Gänze. Man kann das an den eigenen Eltern beobachten, denen man in ihrer Hinfälligkeit hilft, und sollte wissen: Ihnen folge ich nach, unweigerlich verschleißend und schließlich absterbend.
Dagegenhalten, klar, da sich ansonsten die Entropie vor der uns gegebenen Zeit durchsetzt, aber im Widerstand doch sanft verfahren, also leisten, was (noch) möglich ist, das aber ernsthaft und diszipliniert. Oder im Sinne eines leichten Spiels als Tanz mit dem Schicksal. Immer jedoch wissen: Letztlich steht man auf verlorenem Posten. Daher gelte das kraftvolle: Trotzdem!
In eiliger Übertragung im hinkenden Vergleich: Diesen Satz halte ich übrigens für eine Grundeinsicht des Konservatismus. Aufs Ganze gesehen verliert er immer, dennoch bedarf es seiner als eines beständigen Korrektivs.
Also weiter: Sich in Ruhe und gründlich üben. Das ist ein Prinzip, was über medizinische Problematiken hinausweist und allgemein gilt. Übe dich, versuche das Mögliche, geh in den Schmerz hinein, stehe ihn durch, strecke und dehne dich wie eine junge Katze am Morgen, einerlei wie du aufwachst.
Ich habe den Eindruck, daß dies, dieses Alltagsgebot, in einem umfassenderen Sinne, nämlich „gesellschaftlich“, zu wenig gefordert wird. Die politisch-phrasenhafte sozial-demokratische Dauerschleife von Bedarfen-Teilhaben-Nachteilsausgleichen-Gerechtigkeit scheint mir von der Tendenz zu sein, den Menschen, „unseren Bürgern“, immer mehr von dem allzu locker zureichen zu wollen, was sie sich mit zu entwickelnder und zu erhaltender Spannkraft und Elastizität erarbeiten müßten, insofern menschliches Leben vor allem eines ist – permanente Selbstüberwindung.
Wenn man sich erst kapitulierend gänzlich dem medizinisch-pharmakologischen Komplex übergibt, auf daß der einen mit Medikamenten „einstellt“ und mit seinen Apparaturen hilft, gerät man in eine danteske Welt der Todesverzögerung, die trotz vorläufigen Trostes unheimlich erscheint.
Mein wütender Kraftakkord gegen einen doppelten Bandscheibenvorfall, meine starre Reaktion, war freilich idiotisch destruktiv. Mag sein, damit habe ich mir vorerst den Rest gegeben. Und ob ich je wieder schmerzfrei leben werde, steht dahin, aber:
Im Akt des Trotzdem die Matte ausrollen und sich Zeit nehmen für die Sicherung dessen, was in der eigenen Befähigung liegt, stellt eine Leibes- eine Lebensübung dar, der man folgen sollte, selbst wenn sie – letztlich – zwecklos ist. Es geht weniger um einen Zweck als um Haltung. In meinem Fall sogar im Wortsinne, nämlich orthopädisch (Mach dich mal gerade, Alter!), aber ebenso in erweiterter Weise:
Übe Dich auch bei miserablen Aussichten, nimm Rückschläge hin, sei gefaßt darauf, daß es nichts wird, aber sei nicht so schwach, dich vornherein hängenzulassen. Drück den Rücken durch! Meide Fanatismus, um so mehr aber arbeite ruhig und stetig vor dich hin, behutsam bis zu der Grenze, die du schon sicher erspüren wirst.
Nur nicht auf die zurückgelehnten Ärzte verlassen: Na, Herr B., Sie kennen doch Ihr Geburtsdatum. Da kommen die Einschläge nun mal dichter. Sie haben sich doch noch ganz gut gehalten.
Weiter halten! Gegenhalten. Nicht verbissen, sondern lächelnd. Und was man nicht wegatmen kann, das läßt sich immer noch ignorieren. Mehr jedenfalls, als man annehmen mag.
MARCEL
Literarisches Vorbild, wie man Verfall und Ohnmacht meistern kann:
Tomasi di Lampedusa, Der Leopard
Darin bewahrt Don Fabrizio, Fürst von Salina (Sizilien) angesichts der Verheerungen der einbrechenden Moderne nach der Bourbonen-Zeit (Garibaldi und Co) aristokratische Haltung. Mehr kann er auch nicht tun. Das Angebot der Sieger, ein Ratsmandat in Savoyen anzunehmen, lehnt er mit der genialen Erwiderung ab, "Wir Sizilianer, wir sind Götter"...
Erinnert übrigens an die zahlreichen Beispiele aus der französischen oder russischen Aristokratie nach den Revolutionen.
In diesem Sinn: Wenn nichts mehr geht, Selbstachtung geht immer.
Mögen wir die Kraft dazu haben.