– das sind die großen Themen, die Eberhard Straub in seinem Essayband beschäftigen. Die acht zwischen 1994 und 2020 an verschiedenen Orten publizierten Texte, denen hier ein einführendes Vorwort beigefügt ist, haben nichts an Aktualität verloren. Ein »ungesicherter Begriff« bleibt Europa auch nach der Lektüre, den Verlust des einst Dagewesenen und die heutige Inhaltsleere empfindet man um so schmerzlicher.
Wiederholt verweist Straub auf Hugo von Hofmannsthal, der 1921 »erschüttert« fragte, »ob Europa, das Wort als geistiger Begriff genommen, zu existieren aufgehört habe?« Eine Antwort fällt heute noch leichter als damals. Der Band schließt mit der wohl optimistisch gemeinten Forderung, eine »Europäisierung im Europa der eigenwilligen Völker tut not, damit ein substantieller Begriff Europas endlich wieder gewonnen werden kann.«
Aber allein die zuvor von Straub erstellte »Mängelliste« läßt es nahezu ausgeschlossen erscheinen, daß heute noch »in Europa eine Verheißung, gar eine sittliche Idee« gefunden werden könnte, zumal er selbst betont, »Brüssel-Europa« widerspreche »sämtlichen europäischen Überlieferungen praktischer Weltklugheit«.
Im alten Europa haben die Gemeinsamkeiten nicht gesucht werden müssen, sie seien selbstverständlich gewesen. Fragen des Geschmacks verbanden, prägend seien Latinität und Christentum gewesen, »die beide gentes und nationes kennen, aber sie überwölben, zusammenfassen«. Hinzugekommen sei ein »Adel, der über den Kontinent hinweg untereinander sich vermischte«, ein »supranationaler Stil« habe sich »selbstverständlich« durchgesetzt. Die Herren der großen Reiche streben nach Einigkeit, nicht nach Einheit – ein erheblicher Unterschied. Ein »Pluriversum partikularer Autonomien« habe bestanden. Europa habe auch später, im »Zeitalter der Nationen«, nicht »ununterbrochen beschworen werden müssen.«
Wie Hofmannsthals Frage, so ist auch die These von José Ortega y Gasset mehr als einmal eingeflochten, wonach Europa der einzige Kontinent sei, der »einen Inhalt« habe (so die nur sinngemäß mögliche Übersetzung Straubs, im Original: »Europa es el unico continente, que tiene un contenido«). Der Ausspruch stammt aus einer Zeit, als das alte Europa schon nicht mehr bestand.
Zu beklagen war da bereits der Verlust der »Errungenschaften des Westfälischen Friedens von 1648«, die »jede späteren Streitereien über Kriegsschuld und mögliche Vergehen während der Kriege untersagten, um den Frieden nicht zu belasten«. Die »westlichen Menschenfreunde« bestimmten, wer »als Unmensch verachtet werden mußte«. Ausgeschlossen aus der »gesitteten Menschheit« wurden die »reaktionären, katholischen Dunkelmänner in Österreich« sowie die »militaristischen Preußen«.
Die »Verwestlichung« dessen, was heute als Europa gilt, setzte sich fort, mit Unterbrechungen. Rußland wurde abgedrängt, dessen Zugehörigkeit zu Europa schwindet immer mehr aus dem Bewußtsein. Von »Menschen in Europa« werde gesprochen, nicht mehr von »Europäern«. Straub macht darauf aufmerksam, daß sich nach dem Ersten Weltkrieg kein Schriftsteller, Philosoph oder Künstler finden läßt, den die Europäer als »unumstrittenen Repräsentanten ihrer kulturellen Einheit« akzeptiert hätten.
In der EU, die allein »Wirtschaftsraum« ist, berühren derartige Sorgen die »Europayer« kaum. Der wiederholte Gebrauch dieses Kalauers sei Straub ob des insgesamt anregenden Buches verziehen.
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Eberhard Straub: Europa. Ein ungesicherter Begriff, Dresden: edition buchhaus loschwitz 2021. 104 S., 17 €
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