In fast allen Bundesländern nimmt der Anteil jener Viertkläßler zu, die den Mindeststandard der Minimalanforderungen im Lesen, im Zuhören, in der Orthographie und der Mathematik nicht erreichen. Probeaufgaben des Testverfahrens kann man hier einsehen.
Rund ein Fünftel beherrscht am Ende der Grundschulzeit also nicht mal die allereinfachste Grundfertigkeiten. Und es wird dieses Defizit in seiner Schulzeit kaum mehr ausgleichen können. Folgerichtig scheitert gleichfalls ein Fünftel später an der Berufsausbildung bzw. im Studium. Faustregel: Zwanzig Prozent versagen schulisch, was nicht heißen muß, daß sie im Leben scheitern.
Daß die Schule gut aufs Leben vorbereitet, stimmte so einfach allerdings nie. Man lese in der Literatur nach, inwiefern sie Heranwachsende zwar zwangsläufig prägte, weil sie per Schulpflicht nun mal alle vereinnahmt, dabei aber unweigerlich noch jeden verletzte und manchen traumatisierte, nicht nur Hans Giebenrath und den Zögling Törleß. Literaturgeschichtlich fächert sich das Thema Schule zu einem ganzen Spektrum auf. Es reicht von der kalten Unheimlichkeit in Rilkes „Die Turnstunde“ bis zu den Schnurren der „Feuerzangenbowle“.
Aber zurück zur Studie:
Der allzu hohe Anteil der Schwachmaten am Ende der vierten Klassenstufe hat sich gegenüber dem letzten IQB-Test im Lesen und in Mathematik noch weiter, nämlich um sechs, im Zuhören und in der Orthographie sogar um acht Prozent erhöht. Fulminante Verschlechterung des vorher schon Unzureichenden innerhalb von nur fünf Jahren!
Die Politik reagiert wie nach allen anderen das Desaster offenlegenden Studien mit reflexartiger Betroffenheit, denn Untersuchungen, die Deutschland Erfolge in der Bildung attestieren, gibt es schon lange nicht mehr. Das Hauptproblem: Bisher wurde nach jeder Enttäuschung noch forcierter genauso weitergemacht wie vorher. Es ist, als würde man einem Alkoholiker raten: Trink weiter, trink mehr, dann wird’s schon irgendwann.
Längst nämlich hätte man prinzipiell umsteuern müssen, aber das würde eine Revolution im pädagogisch Grundsätzlichen und die Orientierung an einer veränderten Anthropologie erfordern. Lieber ließ man sich von der politischen Zielen verpflichteten Bildungsforschung bestätigen, daß man genau richtig läge.
Mittlerweile arbeiten an den Schulen Lehrer, die selbst eine Schule durchliefen, die nicht mehr halten konnte, was sie versprach. Sie sind es gewöhnt, daß zu wenig vermittelt, zu wenig gefordert, zu wenig geleistet und daher viel zu wenig erreicht wird, und ringen, so es ihnen überhaupt bewußt ist, mit eigenen Bildungslücken. Wie sollen sie unterrichten und üben, was sie selbst nie gründlich erlernten?
Keinesfalls, so die Fehlwahrnehmung der Bildungspolitik, gingen die Defizite von falschen Grundlagen, also von einer fehlorientierten Pädagogik, Didaktik und Methodik aus, nein, die Gründe möchte man wie seit zwanzig Jahren in sozialen Disparitäten außerhalb der Schule erkennen, um sich selbst nicht revidieren zu müssen.
Die Kultuspolitik bedauert jetzt, daß das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Recht auf ein Bildungsminimum bislang nicht eingelöst werden kann. Man möchte nur zu gern glauben machen, jeder Anspruch und die Erfüllung jedes Bedarfs lasse sich einfach dekretieren. Nein, Verbesserungen müssen nun mal solide erarbeitet werden.
Was man sich nicht eingestehen möchte, ist leider wahr:
Der stete Schwund an Wissen und Können ergab sich nicht trotz, sondern leider genau wegen der Schule.
Aus dezidiert politischen Gründen vermag sie nicht mehr zu leisten, was sie leisten müßte und in anderen Ländern durchaus zu leisten versteht. Als deutsche Schulen und Universitäten der Welt Vorbild waren, setzten sie auf Inhalte und anwendungsbereite Befähigungen in Ergebnis gründlichen Vermittelns und Übens; dabei selektierten sie nach klaren Leistungskriterien und erzogen konsequent zu Haltung.
Schuld an der neuerlich offenbar gewordenen Misere soll mal wieder Corona sein, darüber hinaus sowieso allzu unterschiedliche Sozialverhältnisse – eine immerfort wiederholte Behauptung, die indirekt jene Mütter und Väter diskriminiert, die viel und zugewandt mit ihren Kindern sprechen, ihnen vorlesen und damit den Wortschatz erweitern, die früh für reiche sinnliche und kognitive Anregungen sorgen und spielerisch schon mit ihren Kleinsten üben, also genau das leisten, was früher gerade unterprivilegierte Elternhäuser ganz bewußt versuchten, um ihren Kindern einen guten Anschluß und bessere Aufstiegschancen kraft Bildung zu ermöglichen. Man denke etwa an die klassische Sozialdemokratie.
Heute gelten jene Eltern als allzu privilegiert, die zu Hause bewußt prägen und erziehen, sich ganz natürlicherweise mit dem Nachwuchs Mühe geben und so traditionelle wie erprobte Tugenden pflegen, Leistungsorientierung nämlich, Geduld, Ausdauer, Selbstüberwindung und Eigenverantwortung. Kinder machen so die Erfahrung, daß Wissen und Können sowie spezielle Befähigungen erst kraft Anstrengungsbereitschaft errungen sein wollen. Geweckte Neugier und ein sensibles Sensorium sind Voraussetzung, Beharrlichkeit jedoch ist Bedingung. Beides braucht ein so entspanntes wie anregendes Umfeld.
Indessen gibt die Schule vor, Unterricht und Erziehung wären stets freud- und lustvoll möglich, Schule würde alle beglücken, und wer eben nicht könne oder nicht wolle, den hole man, so das dumme Stereotyp, eben dort ab, wo er gerade steht – mit Nachteilsausgleichen, Zureichungen, Benotungsboni, Förderplänen, Hilfeplangesprächen, Sondervereinbarungen und all dem Etikettenschwindel, den u. a. die Inklusionskampagne betreibt, indem sie mit Protokollen und Plänen papierne Aktenvorgänge anlegt, die später von den Sozialbehörden der Transfer-Gesellschaft für Maßnahme-Karrieren fortgeschrieben werden können.
Wollte Schule früher im geschützten Raum zur Lebenstauglichkeit erziehen und mit sehr gutem Fach- sowie anregendem musischen Unterricht die Fenster zur Welt öffnen, möchte sie nun in der hermetischen Ganztagsschule die Gesellschaft heilen. Sie mutet daher zuweilen wie eine Tagesklinik an.
Daß man für jene, die aus konkreten Ursachen heraus wirklich nicht so konnten, wie sie wollten, ohne Not die eigentliche Orte der Inklusion prompt abschaffte, die Förderschulen nämlich, um sie mit Verweis auf eine mißverstandene UN-Deklaration einer schlecht improvisierten Nebenbei-Inklusionspädagogik an den Regelschulen zu opfern, beendete die pädagogisch professionelle und einfühlsame Ausbildung der Schwächeren.
Deutsche Sonderpädagogen waren schon ihrer gründlichen universitären Ausbildung wegen weltweit Vorbild, ebenso wie die Förderschulen. Die sind heute leer oder umfunktioniert, die einst dort tätigen engagierten Lehrer geben als Pendler Gastrollen im Stundenplan der Regelschulen, wo sie so en passant Inklusionspädagogik betreiben sollen. Meist sind diese Vollprofis sehr unzufrieden mit dem ihnen aufgezwungenen ungünstigen Wandel ihres Berufsbildes.
Elternhäuser, die aus empfundener und praktizierter Verantwortung ihre Kinder aufmerksam auf das Leben vorbereiten, sind inzwischen verdächtig, ihr „sozioökonomischer Status“ wird als allzu elitär beargwöhnt, ihr erarbeitetes „kulturelles Kapital“ erscheint Neidern zu hoch. Dabei sichert die Schulgesetzgebung all jenen, die nur ansatzweise etwas leisten wollen, sogleich das Fortkommen und den Übergang in die jeweils höhere Schulart. Das Schulrecht garantiert hinreichend Gerechtigkeit. Jeder, der sich anstrengt, steigt unweigerlich auf.
Nur werden über die Noteninflation, gefälligere Maßstäbe und das stete Reduzieren der Anforderungen ungedeckte Schecks ausgestellt. Wenn derzeit so viele 1,0‑Schnitte wie noch nie gefeiert werden, gleichzeitig aber einerseits von Lehrausbildern, andererseits von Universitätsprofessoren Defizite im elementaren Wissen und Können der Schulabsolventen beklagt werden, dann steht genau dies im direkten Zusammenhang. Für zu wenig Können gibt es zu gute Noten und Zeugnisse.
Viele Bewerber, so 2019 der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, beherrschen nicht einmal die Grundrechenarten.
Schule verspricht entschieden zu viel, sogar die sozialistische Heilung der Gesellschaft, aber sie leistet immer weniger und bewertet dabei zu freundlich, um Kränkungen zu vermeiden und stattdessen Komplimente zu machen und um vorzutäuschen, was sich wenig später in Lebens- und Berufspraxis als trauriger Schwindel herausstellt.
Allzu viele geben dann bei ersten Anstrengungen sofort auf, da die wichtige Erfahrung, Schwierigkeiten durchhalten und Mißlichkeiten mit Engagement überwinden zu müssen, nicht gemacht wurde. Lehrlinge scheitern nicht unbedingt kognitiv; es fehlt allzu vielen einfach die Selbstdisziplin, morgens überhaupt hochzukommen, pünktlich zu sein und Absprachen einzuhalten.
Nach dem neuerlichen, aber so absehbaren Einbruch, den die IQB-Studie offenbarte, sei jetzt aber dringend eine Diskussion über wirksame Pädagogik nötig, meint der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD), nun endlich brauche es, ergänzt die baden-württembergische Kultusministerin Schopper (Grüne), „qualitätvolle, wissenschaftlich fundierte Programme zur Stärkung der Basiskompetenzen.“
Aber: Eine freimütige Diskussion über Pädagogik gibt es seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr, weil allein politische Intentionen auf Grundlage eines verzerrten Menschenbildes die Schule bestimmen, und die Programme, die man nun auffahren wird, wieder genau jene sein werden, die mitten in das Dilemma hineingeführt haben. Wo man durch die politische Brille nur falsch wahrnehmen kann, wird man nicht plötzlich die richtigen Konsequenzen für Bildung und Schule entwickeln.
In all den dubiosen Instituten für Qualitätssicherung [sic] werden längst gescheiterte pädagogische Verfahrensweisen und Prinzipien immer noch als Innovationen beschrieben. Man freut sich selbsterfüllender Prophezeiungen und arbeitet mit üblichem Gedöns an der Legitimation der eigenen Bequemlichkeit – typisch öffentlicher Dienst.
Auch das ist seit Jahrzehnten so. Genau deswegen sind jene Länder, die sich am meisten auf ihre innovative und schülergerechte Pädagogik einbilden, eben jene, die die schwächsten Ergebnisse ausweisen: Berlin, Brandenburg und Bremen. Das Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern atmete auf, denn coronabedingt kam es zu keiner ausreichenden Datenerhebung.
In den vergleichsweise gut abschneidenden Ländern Bayern und Sachsen hielten sich offenbar Restbestände früherer Verbindlichkeiten bei der Vermittlung der Grundlagen des traditionell Bewährten. Einst gehörte zudem Baden-Württemberg zu den soliden Schulstandorten; grüne Kultuspolitik jedoch ließ das Land längst verlieren.
Was für einen konservativen Ansatz spricht:
Schon die zaghafte Umsteuerung, die Hamburg mit Konzentration auf die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen versuchte und mit einer vorsichtigen Fokussierung auf Leistungskonzentration verband, ergänzt um verpflichtende Förderangebote, brachte den Stadtstaat ausweislich der IQB-Studie sogleich ganz auffallend nach vorn.
Solch ein Vorgehen galt allzu lange als antiquiert, ebenso wie Lesebücher Bildungsforschern als altmodisch gegenüber Deutsch-Lehrbüchern erscheinen, die versprechen, alle Inhalte einfach integrativ zu behandeln. Ebenso wie Diktate angeblich von vorgestern und Ausdruck autoritärer Vormundschaftlichkeit im Sinne eines schlimmen Grammatik-Faschismus sind, der gute alte Schulaufsatz als Übung im komplexen Darlegen eigener Gedanken und Urteile sogar in schriftlichen Abschlußprüfungen von Multiple-Choice-Verfahren oder dubiosen „Kreativaufgaben“ abgelöst wurde, die Handschrift nicht mehr entwickelt wird und überall vermeintlich wirksame Methoden das ergänzen sollen, was an inhaltlicher Substanz so ausgedünnt wurde, daß eine Trendwende kaum mehr möglich erscheint.
Man blättere sich einfach die Schulbücher der eigenen Kinder durch, sehe sich die Hefte und Hefter und all die zerfledderten Arbeitsblattsammlungen auf hektisch fabrizierten Kopien an. Man wird verblüfft sein, was als einst Grundvertrautes neben der sowieso verlorengegangenen Systematik längst fehlt. Sicher, es gibt schicke Layouts, die sich einem für jugendlich gehaltenen Geschmack anbiedern und in bunt nervöser Aufgeregtheit dem allüberall diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom entgegenkommen oder es gar verstärken. Aber Substanz, Anschaulichkeit, taugliches Übungsmaterial? -
Das Böckenförde-Diktum läßt sich für die Gegenwart längst ganz einfach umformulieren:
Die Berliner Republik lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann, weil sie die Grundlage für eine funktionierende Demokratie, nämlich die Ausbildung von wissens- und könnensbasierter Urteilskraft, mit ihrer Schulpolitik kaum mehr gewährleistet. Zur Mündigkeit gehören nach Erfindung des Buchdrucks und erst recht mit Etablierung der Wissensgesellschaft ein solides Minimum an Literalität und mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlagenbildung.
Das steht entscheidend infrage. Passend dazu wurden das genaue, tiefgründige und anwendungsbereite Wissen durch überbenotetes bloßes Meinen und das Vermögen zum differenzierten Argumentieren durch das von offiziellen Deutungsbehörden vorgegebene artige politische Bekenntnis zur „woken“ und kunterbunten Weltgemeinschaft ersetzt. Gesellschaftswissenschaften werden wieder ideologisch durchgefärbt wie im DDR-Staatsbürgerkundeunterricht vermittelt.
Mit jedem Smartphone wäre theoretisch allüberall das gesamte Weltwissen sogleich zur Hand, nur wird es für den Wissenserwerb kaum genutzt. Guter Unterricht hängt übrigens nicht, wie Bildungspolitiker neuerdings suggerieren, von einer teuer installierten digitalen Tafel ab; unsere berühmten Physik-Nobelpreisträger bedurften ihrer nicht, sie wurden mit Kreide-Tafelbildern, Rechenschiebern und Logarithmen-Tafelwerken groß. Technik ist nur Medium, Inhalte und Befähigungen kann sie nicht ersetzen.
Es braucht gerade keine weiteren Beschleunigungen, Forcierungen und die Fetischisierung vermeintlicher Innovationen, sondern, im Gegenteil, viel mehr Ruhe, Besonnenheit, ja sogar Muße und Kontemplation, also das Spiel, das Handwerk, den Sport, Naturerlebnisse und die Künste. Dies in vertiefender Gründlichkeit, mit viel Zeit in möglichst kleinen Klassen für das Üben, das Wiederholen, das Systematisieren und das Aufzeigen übergreifender Zusammenhänge.
Die Schule jedoch ist zu einem lauten und irre überdrehten Reizfeld verkommen, in dem es ein sensibles Kind kaum mehr aushalten kann, schon gar nicht, wenn es sich ganztägig dort eingeplant und eingepfercht findet. Konzentration auf einen Gegenstand, ein Werkstück oder ein Problem und geduldiges Ausprobieren sowie bildsames Spielen sind dort kaum mehr möglich; es fehlen zudem Orte und Möglichkeiten der Verinnerlichung und des Ausruhens.
Schüler, die jenseits des betreuten Durchschnitts mehr können und wollen, zu jener Konstante gehörig, die es immer gibt, sensuell wache und bewegliche Kinder, die ohne Ritalin und Therapien an sich gern zur Schule gehen, werden sich früher oder später Inspirationen und Forderungen außerhalb des Systems suchen müssen und diese finden, ebenso wie man mit Aufmerksamkeit schon den Lehrer aufspürt, den man braucht.
ede
Großartig Herr Bosselmann, diese traurige Bestandsaufnahme.